Das Feuer von nebenan
Der syrische Bürgerkrieg verschärft die Spannungen im Libanon
Der gigantische Flüchtlingsstrom aus Syrien verursacht im Libanon Einbrüche beim Wirtschaftswachstum und höhere Arbeitslosigkeit, verschärft Versorgungsengpässe und die Bildungsmisere. Schlimmer noch: Der Syrien-Konflikt vertieft die politische Spaltung des kleinen Landes und könnte es in einen neuen Bürgerkrieg stürzen.
Der alte Mann an der Kreuzung im Zentrum von Beirut wirkt wie aus der Zeit gefallen. Im abgewetzten blauen Anzug tänzelt er zwischen den an einer Ampel wartenden Geländewagen und schnittigen Porsches, in der einen Hand hält er Kaugummi-Pakete, in der anderen seinen syrischen Pass. Mit dem wedelt er abwechselnd vor den Autofenstern und gen Himmel. Dann imitiert er plötzlich ein Flugzeug, duckt sich, als suche er Deckung und macht dazu nicht hörbare Geräusche mit seinen Lippen. Es lässt sich nur ahnen, was er mit seiner Straßenpantomime erzählen will: vom Schicksal, das ihn aus der Heimat vertrieben hat, von den Bomben, die vom Himmel fielen, vom Krieg in Syrien. Die Ampel wechselt auf Grün und er, nun laut fluchend, springt zur Seite, ohne auch nur ein Päckchen Kaugummi verkauft zu haben.
Das Straßenbild in Beirut hat sich verändert in den zweieinhalb Jahren seit Beginn der syrischen Revolution. Unaufhaltsam kriecht mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus dem Nachbarland die Armut in die Stadt. Kaum eine große Geschäftsstraße, auf der nicht mindestens eine Bettlerin mit Kind auf dem Schoß um Hilfe bittet. An den großen Kreuzungen versuchen fliegende Händler aller Art ihr Glück. Kinder, die eigentlich in der Schule sein sollten, bieten Rosen, Taschentücher und Schuhputzdienste an oder flehen einfach so um Geld. In Müllcontainern suchen Menschen nach Essensresten oder noch irgendwie verwertbarem Schrott. In den wenigen Parks, die es in der Stadt gibt, picknicken syrische Großfamilien, um für ein paar Stunden der Enge ihrer dürftigen Flüchtlingsunterkünfte zu entkommen.
Und dann gibt es die andere Seite des Spektrums: die Jaguars und Mercedes mit syrischen Kennzeichen im Beiruter Verkehr; die vornehm gekleideten Gäste mit Damaszener Akzent in den Beiruter Beach Clubs und Edelrestaurants, die man niemals in den Schlangen zur Registrierung des UN-Kommissariats für Flüchtlinge sehen wird. Arm und reich, Regimegegner und Assad-Loyalisten – in Beirut trifft man sie alle. Syrien im Kleinformat.
1,3 Millionen syrische Flüchtlinge
Ein unter Libanesen gern erzählter Witz geht so: Laufen zwei Syrer durch Beirut. Sagt der eine zum anderen: „Mann, hier gibt es aber viele Libanesen!“ Dabei kann, wenn man sich die Zahlen genauer ansieht, einem das Lachen im Halse stecken bleiben.
Die Weltbank hat, auf Wunsch der libanesischen Regierung, die ökonomischen und sozialen Folgen der Syrien-Krise für das Land berechnet. Der im September veröffentlichte Bericht geht davon aus, dass bis Ende 2013 1,3 Millionen syrische Flüchtlinge im Libanon leben werden – bei einer einheimischen Bevölkerung von vier Millionen. Derzeit sprechen die UN offiziell noch von 830 000 registrierten Flüchtlingen, doch suchen viele Familien gar nicht erst die Hilfe der Vereinten Nationen, sondern schlagen sich alleine oder mit Hilfe von Verwandten durch.
Die Weltbank zeichnet ein düsteres Bild für den Libanon: In den drei Jahren von 2012 bis 2104 werde die Bevölkerung voraussichtlich um 50 Prozent wachsen, von knapp über vier Millionen auf mehr als sechs Millionen Menschen. Zum gleichen Ergebnis kommt eine Studie der Wirtschafts- und Sozialkommission der UN für Westasien (ESCWA): Wenn sich die Situation in Syrien nicht rasch spürbar verbessert – womit kaum jemand rechnet –, werden Ende 2014 im kleinen Libanon 6,4 Millionen Menschen leben.
Selbst ein reiches Land wäre von einem so sprunghaften Bevölkerungszuwachs überfordert. Den chronisch überschuldeten libanesischen Staat stellt der kontinuierliche Flüchtlingszustrom vor unlösbare Aufgaben. Es gibt Wochen, da kommen binnen drei Tagen an die 16 000 neue Flüchtlinge in einem einzigen Dorf an, wie zuletzt Mitte November in Arsal, als in der grenznahen Region Qalamoun eine heftige Schlacht zwischen Assads Truppen und den Rebellen tobte. Zum Vergleich: Deutschland mit seinen 82 Millionen Einwohnern hat sich bereit erklärt, 10 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen – und selbst das geschieht in Raten und über Monate gestreckt.
Schon ohne die Flüchtlinge kann der Staat seine Bürger kaum mit dem Nötigsten versorgen: Strom und Wasser sind rationiert, in vielen Gegenden kommen die Menschen nur mit Hilfe von Generatoren, zusätzlichen Wassertanks und privaten Brunnen über die Runden. In Beirut ist in diesen Tagen überall das Rattern der Tanklaster zu hören, die für teures Geld zusätzlich Wasser liefern – das Wasser von den Kommunen, das nur alle zwei Tage für zwei Stunden fließt, reicht für die meisten Haushalte nicht aus.
Der Weltbank-Bericht enthält reichlich Zahlen von großer Sprengkraft. Der Syrien-Konflikt werde den Libanon jährlich 2,9 Prozent Wachstum kosten. Die Arbeitslosigkeit werde um 8 bis 11 Prozent steigen, unter ungelernten Jugendlichen sogar um 13 bis 16 Prozent. In den Medien kursieren bereits die ersten Geschichten über Unternehmer, die Libanesen entlassen, um sie durch billigere syrische Kräfte zu ersetzen. In Muhammara, einem Dorf in der Grenzregion Akkar im Nordlibanon, blockierten Einheimische eine Verkehrsader, nachdem ein örtlicher Fabrikbesitzer seine gesamte Belegschaft gegen syrische Arbeiter ausgetauscht hatte, weil die für zehn Dollar am Tag arbeiten statt für 35 wie die libanesischen. Auf den Feldern in der Bekaa-Ebene werden syrische Kinder als Erntehelfer eingesetzt – für vier Dollar am Tag.
Für Ärger sorgen auch die Geschäfte ohne Lizenz, die syrische Flüchtlinge in vielen Kommunen betreiben und den vorschriftsmäßig registrierten, Steuern und Abgaben zahlenden libanesischen Geschäften billige Konkurrenz machen. Oder die fliegenden Obsthändler mit ihren Holzkarren, die das Kilo Bananen immer ein paar hundert Lira billiger anbieten als die ansässigen libanesischen Obsthändler. Dass dieselben Libanesen, die sich über die Allgegenwart der syrischen Flüchtlinge und deren Kosten für den Libanon beschweren, gern die billigeren Bananen beim Syrer kaufen, gehört dabei wohl zu den Schizophrenien des Alltags.
Besonders hart trifft der Zustrom aus dem Nachbarland die Grenzregionen. Gegenden wie Akkar im Nordlibanon oder die Bekaa-Ebene im Osten litten schon vor der Syrien-Krise unter Strukturschwäche und hoher Arbeitslosigkeit und werden von der Zentralregierung in Beirut traditionell vernachlässigt. Mit sehr gemischten Gefühlen beobachten die oft am Existenzminimum lebenden alteingesessenen Familien dort, wie die Neuankömmlinge von internationalen Hilfsorganisationen versorgt werden – auch wenn die Lieferungen oft gerade nur zum Überleben reichen und viele Familien in elenden Verhältnissen hausen. Die Tageszeitung Al-Akhbar berichtet gar von „ungezügeltem Hass“ gegenüber den Flüchtlingen. „Früher litten wir unter der Besatzung des syrischen Regimes. Heute sind wir vom syrischen Volk besetzt“, klagt ein Anwohner.
Bis Ende 2014 werden nach Schätzung der Weltbank 170 000 Libanesen unter die Armutsgrenze fallen, zusätzlich zu der einen Million, die bereits heute in Armut lebt. Auch die Schulen platzen aus allen Nähten: 2012 gab der libanesische Staat 29 Millionen Dollar aus, um 40 000 syrische Flüchtlingskinder in öffentlichen Schulen zu unterrichten. 2013 lag die Zahl der Schulkinder aus Syrien bereits bei 90 000, für 2014 wird sie auf 140 000 bis 170 000 geschätzt. Wieder trifft es vor allem die ärmeren Familien – denn wer es sich leisten kann, schickt im Libanon seine Kinder auf eine teure Privatschule. Die Angst vor dem eigenen wirtschaftlichen Absturz schürt landesweit Ressentiments. Graffiti mit der Forderung „Flüchtlinge raus“ zählen da noch zu den eher harmlosen Formen des Protests.
Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen
Und das sind nur die „weichen“ Auswirkungen des Krieges in Syrien auf den Libanon, die sozialen, wirtschaftlichen und humanitären Folgen. So dramatisch sie bereits sind – noch viel gefährlicher sind die Folgen für die politische Entwicklung und die Sicherheitslage im Land. „Das Feuer von nebenan dringt tiefer und tiefer ins Herz des Libanon und droht neue Brandherde auszulösen“, warnte Najib Mikati jüngst, der seit seinem Rücktritt im März 2013 nur noch kommissarischer Ministerpräsident ist.
Der Krieg in Syrien hat das Potenzial, den Libanon in einen neuen Bürgerkrieg zu stürzen. Drei große Anschläge musste das Land allein 2013 verkraften, mit mehr als 100 Toten und Hunderten Verletzten. Abwechselnd trafen die Bomben Schiiten und Sunniten, was die Angst vor einer Serie von Vergeltungsschlägen schürt. Besonders furchterregend war der Anschlag auf die iranische Botschaft in Südbeirut am 19. November. Anders als bei den Anschlägen zuvor in Tripoli am 23. August und in einer Hisbollah-Hochburg im Süden Beiruts am 15. August explodierten hierbei keine ferngezündeten Autobomben, sonders zwei Selbstmordattentäter sprengten sich in die Luft.
Eine mit Al-Kaida verbundene Gruppe namens Abdullah-Azzam-Brigaden übernahm die Verantwortung für das Attentat, bei dem 23 Menschen starben, und drohte mit weiteren Anschlägen, falls sich der Iran nicht aus dem Konflikt in Syrien zurückziehe. Als Täter wurden anhand von Videoaufnahmen und DNA-Resten am Tatort zwei libanesische Sunniten identifiziert, beide angeblich Anhänger des radikal-sunnitischen Scheichs Ahmed al-Assir, der seit einem Angriff der libanesischen Armee auf seine Hochburg in Saida im April flüchtig ist. Assir hatte in hasserfüllten Reden die Sunniten Libanons immer wieder aufgefordert, ihre „sunnitischen Brüder“ in Syrien zu unterstützen. Es sei „religiöse Pflicht jedes Muslims“, nach Syrien zu gehen, um dort „die Menschen, die Moscheen und die religiösen Heiligtümer“ zu verteidigen. Gezielt schürte er ethnische Ressentiments und sprach von einer „Blutschuld“, die mit der schiitischen Hisbollah zu begleichen sei.
Die Hisbollah wiederum macht seit einer Erklärung ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah im Mai 2013 kein Geheimnis daraus, dass sie mit ihren Kämpfern die Truppen von Baschar al-Assad direkt unterstützt. Nasrallahs öffentliches Bekenntnis zu Assad folgte nur wenige Tage nach einem Besuch in Teheran; bis dahin hatte die Hisbollah stets geleugnet, aktiv an den Kämpfen in Syrien beteiligt zu sein, und spielte wohl zahlenmäßig auch tatsächlich keine große Rolle. Das änderte sich im Juni 2013 grundlegend: Schlachten wie die um die strategisch gelegene Stadt Al-Qusayr konnte Assad, der zuvor immer mehr in die Defensive geraten war, mithilfe der gut trainierten Hisbollah-Kämpfer nun gewinnen. Man bekämpfe in Syrien sunnitische Extremisten, die ansonsten Schiiten und Christen auch im Libanon bedrohen würden, rechtfertigte Nasrallah den Einsatz seiner Truppen jenseits der Grenze. Außerdem sei Syrien ein wichtiger Verbündeter im Widerstand gegen Israel.
Der Hauptgrund ist natürlich ein anderer: Neben dem Iran zählt Assad zu den wichtigsten Unterstützern der Hisbollah; sein Sturz würde ihre Macht und militärischen Möglichkeiten erheblich schmälern. Umgekehrt wäre Assad nach Einschätzung vieler Experten ohne die Hisbollah-Kämpfer militärisch bei weitem nicht so widerstandsfähig. Schätzungen zufolge kämpfen zwischen 2000 und 4000 Hisbollah-Mitglieder in Syrien, mehr als 200 sollen bislang ums Leben gekommen sein. Der prominenteste Tote bislang war der Neffe des kommissarischen Landwirtschaftsministers.
Tiefer gespalten denn je
So verschärft die Syrien-Krise die politische Spaltung des Libanon. „Die beiden großen politischen Blöcke des Libanon sehen die Ereignisse in Syrien in einem grundsätzlich unterschiedlichem Licht – als ein Traum, der in Erfüllung geht, die einen; als ein potenziell apokalyptischer Albtraum die anderen“, heißt es jüngst in einem Bericht der International Crisis Group.
Die politischen Lager stehen einander unversöhnlich gegenüber, unfähig, die eigenen Interessen zugunsten des Landeswohls zurückzustellen. Nach dem Rücktritt Mikatis konnten sich die Parteien nicht auf eine neue Regierung einigen, sodass die alte immer noch kommissarisch im Amt ist. Die Parlamentswahlen, die eigentlich vergangenen Juni hätten stattfinden sollen, wurden auf November 2014 verschoben, weil sich beide Seiten nicht auf ein Wahlgesetz einigen konnten. Und während die nicht vorhandene Regierung offiziell an ihrer Politik der Nichteinmischung festhält, mischen im realen Leben alle politischen Gruppen des Libanon in Syrien mit, sei es durch Waffenlieferungen, Kämpfer, Geld oder politische Unterstützung für die eine oder die andere Seite. Entlang der oft kaum markierten, 365 Kilometer langen Grenze pendeln vielerorts Kämpfer mehr oder weniger ungehindert in beide Richtungen, und schon mehrfach wurden grenznahe Dörfer und Städte von Syrien aus mit Raketen beschossen.
Wie gefährlich die Spaltung des Libanon in Assad-Anhänger und Assad-Gegner ist, lässt sich am besten in der nordlibanesischen Stadt Tripoli beobachten. Schon vor der Syrien-Krise kam es dort häufig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem überwiegend schiitisch-alewitischen Stadtteil Jabal Mohsen und dem gleich nebenan gelegenen sunnitischen Viertel Bab al-Tabbaneh. Jetzt aber liefern sich die Bewohner Woche um Woche bürgerkriegsähnliche Schlachten. Allein in der letzten Novemberwoche kamen 13 Menschen ums Leben, über 100 wurden verletzt. Geschäfte, Schulen und Universitäten blieben geschlossen. Das Arsenal an Waffen, das den verfeindeten Lagern zur Verfügung steht, lässt Böses ahnen für den Fall, dass im Libanon die verschiedenen Gruppen wirklich eines Tages wieder ungehemmt aufeinander losgehen sollten.
Mächtiges „System Assad“
Seit dem verheerenden Doppelanschlag auf zwei sunnitische Moscheen in Tripoli im August, bei dem 50 Menschen starben und über 500 verletzt wurden, haben sich die Spannungen spürbar verschärft – insbesondere seit die libanesische Justiz mehrere Haftbefehle ausgestellt hat, darunter einen gegen den Vorsitzenden der Assad unterstützenden Arabischen Demokratischen Partei (ADP), den Alewiten Ali Eid. Er soll Kräften des syrischen Geheimdiensts bei der Vorbereitung des Anschlags geholfen haben, was die weit verbreitete Vermutung untermauert, dass das „System Assad“ noch immer mächtig und vernetzt genug ist, im Nachbarstaat nach Belieben zu zündeln.
Eid hat sich den Behörden bislang nicht gestellt, und eine Gruppe von Sunniten aus Bab al-Tabbaneh hat öffentlich erklärt, solange er flüchtig bleibe, seien alle Alewiten aus Jabal Mohsen ein legitimes Angriffsziel. Jetzt soll in Tripoli für mindestens sechs Monate die libanesische Armee die Kontrolle übernehmen, um die Gewalt zwischen Assad-Anhängern und -Gegnern in den Griff zu bekommen. „Das wird das Problem nicht lösen“, fürchtet ein junger Mann aus Tripoli, „denn niemand wird bereit sein, seine Waffen abzugeben. Jedenfalls nicht, solange die Hisbollah für sich in Anspruch nimmt, Waffen für den Widerstand zu benötigen.“ Eine Entwaffnung der Hisbollah aber könnte die derzeitige schwache kommissarische Regierung niemals durchsetzen – und schon gar nicht, solange der Krieg in Syrien andauert.
Am Ende sind es doch wieder die alten, schon lange schwelenden Konflikte, die durch die Syrien-Krise befeuert werden. Eines der großen Opfer des Krieges nebenan ist die Illusion eines politisch stabilen, unabhängigen und gegen ethnische Gewalt gefeiten Libanon.
Susanne Fischer leitet als Programm-Managerin Nahost des Institute for War and Peace Reporting von Beirut aus Projekte zur Förderung der Pressefreiheit.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 96-101