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01. Sep 2011

Das Ende der Angst

Syriens junge Generation kämpft für den Sturz des Assad-Regimes

Sie organisieren sich spontan und bringen doch die Massen auf die Straßen. Ihre Wut speist sich aus Jobmangel, Cliquenwirtschaft, Korruption und der allgegenwärtigen Willkür des Assad-Regimes. Die jungen Aufständischen sind gut vernetzt und wollen nach 40 Jahren Diktatur endlich Veränderung. Dafür riskieren sie ihr Leben.

Nun, da die syrische Revolution voll im Gang ist und von Deir Azzour im Nordosten bis Daraa im äußersten Süden Zehntausende auf die Straße gehen, ist es verlockend zu denken, es hätte gar nicht anders kommen können: nach dem Aufstand in Tunesien, der den Diktator Ben Ali in einem knappen Monat aus dem Land jagte, nach dem jähen Sturz des als unerschütterlich geltenden „Pharao“ Hosni Mubarak, nach Jemen, nach Libyen – war Syrien nicht der naheliegende, ja zwingend nächste Dominostein?

Wer aber Ende Februar – Ben Ali saß schon im saudischen Exil, Mubarak kränkelte isoliert in seiner Villa am Roten Meer – mit Menschenrechtsaktivisten in Damaskus sprach, bekam vor allem eines zu hören: Wir sind noch nicht so weit. Syrien sei anders, versicherten sie, für das Reich der Assads gelten andere Spielregeln.

Als Anfang Februar der erste Aufruf zu einem „Tag des Zornes“ in -Syrien auf Facebook auftauchte, veröffentlicht von Exilsyrern, wies eine im Land lebende Menschenrechtsanwältin dies noch als „kurzsichtig“ und „unverantwortlich“ zurück und versicherte: „Die Syrer werden nicht übereilt in irgendwelche revolutionären Aktionen stolpern, nicht jetzt und nicht in naher Zukunft.“ Ihre Begründung: Das Ausmaß an Unterdrückung, das Syrer erlebt hätten und noch erlebten, überträfe den gesamten Rest der arabischen Welt, vielleicht mit Ausnahme des Irak. „Die anderen arabischen Völker haben keine Geschichte, die mit Blut geschrieben wurde, als eine ganze Stadt mit Panzern und Artillerie plattgemacht wurde, wie in Hama im Februar 1982.“1  In derselben Woche prophezeite die englischsprachige Webseite des Nachrichtensenders Al-Dschasira unter der Überschrift „Ein Königreich des Schweigens“, dass die Kombination aus populärem Präsidenten, gefürchteten Sicherheitskräften und zahlreichen konfessionellen Minderheiten eine syrische Revolution eher unwahrscheinlich macht.2

Eine Prognose, die schon bald von der Wirklichkeit widerlegt werden sollte, erst in kleinen Schritten, dann in so großen Sprüngen, dass es selbst die Syrer überraschte. Am 15. März marschierten rund 200 Demonstranten durch die historische Altstadt von Damaskus und riefen „Friedlich, friedlich!“ und „Das syrische Volk lässt sich nicht demütigen“. Junge Syrer hatten auf Facebook zu dem Protestmarsch aufgerufen, mit dem Ziel, an diesem Tag den Startschuss für die syrische Revolution zu geben. Obwohl Sicherheitskräfte in Zivilkleidung sofort eingriffen, die Demonstranten mit Schlagstöcken auseinander trieben und Dutzende Kameras und Mobiltelefone konfiszierten, kursierten die Videos von dem mutigen Marsch bald im Internet.3 Am Tag darauf versammelten sich etwa 150 Menschen vor dem Innenministerium zu einer Mahnwache für politische Gefangene. Angehörige von Inhaftierten und deren Anwälte hatten zu dem stillen Protest aufgerufen.

Jeder dieser zaghaften Versuche, den arabischen Frühling in der syrischen Hauptstadt aufblühen zu lassen, wurde brutal und schnell niedergeknüppelt. Trotzdem werteten Aktivisten die Mini-Demonstrationen als Erfolg, sie jubilierten, dass überhaupt wiederholt Menschen auf die Straße gingen. Die Mauer der Angst zeigte erste Risse, ein Anfang war gemacht. Und zwar, ähnlich wie in Tunesien und Ägypten, nicht von einer der traditionellen, in die Jahre gekommenen Oppositionsparteien, sondern von einzelnen jungen, meist völlig unbekannten Syrern, die der Korruption, der eigenen Chancenlosigkeit im kleptokratischen System und der totalen Gängelung müde waren.

Aufstand in der Provinz

Dann kam Daraa. In der südsyrischen Provinzstadt hatten Anfang März Schulkinder, inspiriert von den Bildern aus Tunesien und Ägypten, die via Al-Dschasira und Al-Arabiya die syrischen Wohnzimmer erreichten, Graffitis an eine Wand in ihrer Schule gesprüht, unter anderem „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Obwohl kaum älter als 14 Jahre, wurden 15 Schüler festgenommen. Wie die Sicherheitskräfte mit ihnen und den Eltern in den nächsten Wochen verfuhren, wird sich vielleicht als einer der folgenschwersten Fehler des syrischen Regimes erweisen. Zeugenaussagen zufolge wurden die Kinder im Gefängnis zum Teil schwer misshandelt: Sie wurden verprügelt, einigen wurden die Fingernägel ausgerissen. Den Eltern, die wiederholt bei den Behörden vorsprachen und die Freilassung ihrer Kinder verlangten, soll ein Offizier gesagt haben: Vergesst eure Kinder! Macht neue. Und wenn ihr nicht wisst, wie das geht, schickt eure Frauen vorbei, dann helfen wir euch.

Das war selbst für syrische Maßstäbe zu viel der Demütigung. Insbesondere in einer von konservativer Beduinentradition geprägten ländlichen Gegend wie Daraa. Also gingen die Menschen auf die Straße, massenweise. Waren es in Damaskus hundert, zweihundert gewesen, wurden es in Daraa erst Tausende, dann Zehntausende. Und das Regime beging den nächsten folgenschweren Fehler: Es ließ auf die Demonstranten schießen.

Das aber setzte den Protesten kein Ende, im Gegenteil: Jede Beerdigung eines „Märtyrers“ wuchs zu einer neuen, größeren Demonstration. Das Regime wollte Botschaften der Abschreckung schicken, doch die üblichen Mechanismen der Angst funk-tionierten nicht mehr. „Blut öffnet die Tür zu nur noch mehr Zorn“, erklärt die Damaszener Menschenrechtsanwältin Razan Zeitouneh die so in Gang gekommene Spirale. Wieder eröffneten die Sicherheitskräfte das Feuer, wieder starben Dutzende, wieder gab es Beerdi-gungen und noch größere Proteste. Assad-Statuen fielen, ein Büro der Baath-Partei ging in Flammen auf, Daraa war außer Kontrolle – eine Situation, die noch wenige Wochen zuvor unvorstellbar gewesen war. Auch hier stand keine organisierte politische Kraft hinter den Protesten, sondern die schiere Wut der Menschen auf ein sie demütigendes und verachtendes Regime.

Blutvergießen für den Machterhalt

Und wie reagiert dieses Regime? Mit noch mehr Gewalt, mit halbherzigen Reformversprechen und mit einem Schlingerkurs, der nahelegt, dass Assad und seine Schergen nicht den Ansatz einer Ahnung haben, wie sie die Situation entschärfen sollen. Während die Präsidentenberaterin Buthaina Shabaan Reformen in Aussicht stellt, darunter die Aufhebung des seit 1963 geltenden Ausnahmezustands, stürmen Militär und Polizei mit massivem Gewalteinsatz die Omari-Moschee in Daraa, in die sich die Demonstranten zurückgezogen und wo sie eine Art Feldhospital für die Verwundeten eingerichtet hatten. Und Baschar al-Assad? Schweigt erst zwei Wochen lang, um dann in seiner Rede an die Nation jegliches Reformer-Image zu verspielen, das er für viele kurioserweise hatte. Seine jovial-arrogante, beinahe tragikomische Rede vor einem Parlament der Claqueure war der nächste große Fehler, und diesen machte der Präsident vor den Augen der Weltöffentlichkeit ganz allein: Das Land stand in Flammen, es hatte bereits mehr als 160 Tote gegeben und Baschar schwafelt blöde lächelnd von einer ausländischen Verschwörung.

Im elften Jahr seiner Herrschaft lässt Baschar al-Assad die Maske des Reformers endgültig fallen und zeigt der Welt, dass er Blutvergießen für den Machterhalt genauso wenig scheut wie sein Vater. Der als Hoffnungsträger für ein anderes Syrien angetretene Assad jun. vermittelt heute einen Eindruck von Verblendung und Realitätsverlust, der sich von Rede zu Rede, von Protestwoche zu Protestwoche steigert. Unterstrichen wird dieses Bild vom erratischen Handeln in der Stadt Hama, einer offenen Wunde der syrischen Geschichte. Im Februar 1982 ließ Hafez al-Assad dort einen Aufstand der Muslimbrüder mit Panzern niederwalzen; Berichte gehen von 10 000 bis zu 25 000 Toten aus. Darüber durfte in Syrien nie geredet werden – bis heute.

Doch im Jahr 2011, im Zeitalter von Youtube und Facebook, bröckeln die historischen Tabus. Und bei jedem Demonstranten, der in Hama stirbt, schwingt stets die Erinnerung an das Massaker von 1982 mit. Vielleicht bekam die Armee deshalb nach einem blutigen Freitag Anfang Juni den Befehl, sich vollständig aus der Stadt zurückzuziehen – um die Geister der Vergangenheit nicht heraufzubeschwören. Fast zwei Monate lang triumphierte Hama als quasibefreite Stadt, durfte sich der „Friedhof der Nation“ (ein Graffiti in Hama) selbst verwalten und dem Rest des Landes Hoffnung machen, dass es tatsächlich irgendwann eine Post-Assad-Ära geben könnte.

Doch in der Nacht vor Beginn des Fastenmonats Ramadan begannen Assads Truppen die Reconquista. Panzer rückten in die Stadt, der Zugang zum zentralen Horani-Krankenhaus wurde versperrt. Augenzeugen berichteten von Scharfschützen, die auf alles schossen, was sich bewegte. Mehr als hundert Tote soll es allein am ersten Tag des Angriffs gegeben haben.4 Wieder hat die verwundete Stadt Dutzende ihrer Söhne verloren, wurde ihr vernarbtes Gedächtnis mit neuem Blut befleckt – als wolle Assad junior endgültig in die Fußstapfen seines Vaters treten.

„Das Regime hat der unbewaffneten Bevölkerung den Krieg erklärt“, sagt Haitham Maleh, Anwalt und Grandseigneur der syrischen Opposition, 80 Jahre alt, aber kämpferisch wie eh und je. Achteinhalb Jahre Gefängnis konnten seinen Willen nicht brechen. In seinen Augen ist Baschar al-Assad keinen Deut besser als sein Vater. „Gewalt und Unterdrückung, das sind die einzigen Regierungsmethoden, die er kennt“, meint Maleh. Ein Urteil, dem sich auch im Ausland immer mehr anschließen. Es wird einsam um Baschar al-Assad. Treu zu ihm stehen eigentlich nur noch seine alten Verbündeten Iran und die libanesische Hisbollah.

Mit nur 45 Jahren ist der in England ausgebildete Augenarzt der jüngste Diktator in der arabischen Welt. Doch seine Rhetorik und sein Handeln wirken so gestrig, als wäre er ein seit Jahrzehnten regierender Greis. Das ist um so tragischer, als die treibenden Kräfte hinter den Protesten vor allem junge Syrer sind, jene Generation also, die die Blut- und Gewaltherrschaft von Vater Hafez nicht selbst erlebt hat und daher keinen historisch genährten Hass auf die Familie Assad hegt. Ihre Wut speist sich aus der Gegenwart, aus den nicht vorhandenen Jobs, aus der Cliquenwirtschaft, die alle einflussreichen Geschäfte im Land in den Händen der Herrscherfamilie und der ihnen Nahestehenden hält, aus der allgegenwärtigen Willkür, die sie zu Objekten einer grenzenlosen Staatsgewalt macht. Eine Wut, die Assad mit etwas Geschick, Kompromissbereitschaft und politischem Gespür vielleicht hätte abfedern können.

Die alte Opposition, die Kurden, die Linken, die Kommunisten, die Muslimbrüder hatten erst Vater Assad und dann sein Sohn über die Jahrzehnte mit permanenter Verfolgung, endlosen Verhören und immer neuen Verhaftungen mürbe gemacht. Von ihnen ging keine Gefahr aus für das Regime, sie waren bekannt und stets gut überwacht, die Michel Kilos und Riad Seifs, die Bunnis und die Abdallahs. Und viele von ihnen glaubten nicht – oder nicht mehr – an eine Revolution, an einen Umsturz, sondern hofften, wenn überhaupt noch, auf allmählichen Wandel durch Reformen und schrittweise politische Öffnung.

Jung gegen Alt

Jetzt sei nicht die Zeit für eine solche Auseinandersetzung, hatten mehrere der großen alten Köpfe der Opposition den jungen Revolutionären denn auch zunächst ans Herz gelegt – und sie so erst recht auf die Barrikaden gebracht. „Die Zeiten, in denen irgendwelche Alten uns sagen, was wir zu tun haben, sind vorbei“, sagt Rami Nakhle, ein Cyber-Aktivist und Revolutionär der ersten Stunde. „Als die Proteste losgingen, konnte die ältere Generation nicht glauben, dass dies zu irgendetwas führen würde.“

Eine echte Generationenlücke tat sich auf, die sich bis heute nicht völlig geschlossen hat. Allein die Methoden von Jung und Alt stammen aus unterschiedlichen Welten. Zwar haben viele der älteren Oppositionsfiguren inzwischen auch einen Facebook-Account. Das Tempo, der Einfallsreichtum und die Kreativität aber, mit denen die jungen Revolutionäre das Regime herausfordern, zeichnen ein ganz neues Bild von der bisher eher als behäbig und stark ideologisiert geltenden syrischen Opposition.

Kaum hatte Baschar al-Assad die Aufständischen in seiner dritten Rede an die Nation als „Mikroben“ beschimpft, tauchte bei Facebook eine Seite „Mikroben fordern den Sturz des Regimes“ auf, wurde ein Mikroben-Song auf Demonstrationen gesungen, verkündeten eifrige Revolutionäre, sie würden ihr erstes Kind „Mikrobe“ taufen. Mit einem smarten Gag trickste eine Gruppe, die unter dem Namen „Noufous Karima“ operiert, die Armee aus: Sie füllten große Ballons mit Wasserstoff und revolutionären Flugblättern und ließen sie in Richtung Damaskus treiben. Als die Soldaten die großen Ballons erblickten, schossen sie sofort – und die Flugblätter regneten auf die Hauptstadt nieder.

Verstreute Opposition

Unterschiedliche Ansichten gibt es innerhalb der Opposition über die Frage, ob mit dem jetzigen Regime überhaupt ein Dialog geführt werden soll oder ob ein breiter nationaler Austausch erst beginnen kann, wenn Assad und seine Clique abgetreten sind. Als altgediente Oppositionsfiguren wie Michel Kilo und Louay Hussein Gespräche mit Vertretern des Regimes führten, witterten junge Aktivisten Verrat. Ihre Position: „La hewar, arhal ya Baschar! Kein Dialog, Baschar, verschwinde!“ Reförmchen wie das jüngst verabschiedete neue Parteiengesetz lassen sie kalt.

Auch von der Exilopposition wollen sich die jungen Revolutionäre nur bedingt beeinflussen lassen. „Solange sie sich mit ihren Forderungen und Positionen nach der syrischen Straße richten, heißen wir jede Unterstützung willkommen, schließlich sind die Exilsyrer unsere Landsleute und haben das Recht, an diesem historischen Moment teilzuhaben“, meint Anwältin Zeitouneh. „Doch die Führung liegt eindeutig bei den Menschen im Land, sie bestimmen den Kurs der Revolution.“

Eine verständliche Position, sind es doch die Demonstranten im Land, die täglich ihr Leben riskieren im Kampf gegen das Regime. Zeitouneh lebt seit März im eigenen Land auf der Flucht, eilt von einem Versteck zum nächsten und dokumentiert akribisch Namen und Zahlen der Toten, führt Buch über Verhaftete und Verschwundene und sorgt dafür, dass sie nicht vergessen werden. Zwischenzeitlich hatten Sicherheitskräfte ihren Mann verhaftet, in der Hoffnung, sie gäbe dann auf. Drei Monate wusste sie nicht, wo er war, ob er lebte, wie es ihm ging. Dann wurde ihm ein fadenscheiniger Prozess gemacht mit absurden Anschuldigungen, aber er wurde auf freien Fuß gesetzt. „Im Prinzip ist das ganze Volk zur Fahndung ausgeschrieben“, spottet Nakhle, der sich der sicheren Verhaftung durch Flucht über die Grenze entzog, aber deswegen nicht weniger eifrig im Dienst der Revolution steht. „60 000 Personen werden polizeilich gesucht, da können sie doch wirklich gleich alle verhaften.“

Auch durch diesen Verfolgungsdruck ist die Opposition weit verstreut, operiert aus den Nachbarländern Türkei, Jordanien und Libanon, aus den USA, London, aus Verstecken in Damaskus. Einen wirklichen gemeinsamen politischen Schirm gibt es bislang nicht. Auf einer Oppositionskonferenz in der Türkei im Juli kam es zum Eklat, als die kurdischen Parteien abreisten aus Protest gegen die Verwendung des Begriffs „Syrische Arabische Republik“. Im Land selbst haben sich die Local Coordination Committees als Stimme der Straße etabliert: Vorwiegend junge Aktivisten aus verschiedenen Städten und Dörfern haben sich vernetzt, organisieren gemeinsam Proteste an verschiedenen Orten, geben Erklärungen heraus und informieren täglich die ausländischen Medien über das, was in Syrien geschieht.5

Die Stimmenvielfalt der Opposition verwirrt viele ausländische Beobachter und wirft immer wieder die besorgte Frage auf, ob es denn überhaupt eine politische Alternative zu Assad gibt oder ob sein Abgang unweigerlich zum Chaos führt. Eine Frage, die Zeitouneh wütend macht: „Das Regime hat 40 Jahre lang systematisch Misstrauen zwischen den Menschen gesät und das ganze Volk zu Spitzeln gemacht. 40 Jahre Ausnahmezustand mit Versammlungsverbot, alle politischen Parteien wurden zerstört, wer politisch aktiv wurde, verschwand für Jahre, manchmal Jahrzehnte im Gefängnis. Wie soll da über Nacht eine geeinte politische Front entstehen?“

Immerhin, durch die verschiedenen Konferenzen in der Türkei, durch gemeinsame Statements und intensive Medienarbeit wird die syrische Opposition sichtbarer, auch wenn bislang nicht die eine herausragende Führungsperson sichtbar ist. Aber die gab es in Tunesien und Ägypten auch nicht. Aus vielen zunächst einzeln agierenden Akteuren entstehen neue Netzwerke, die sich leichter untereinander verständigen können. „Wir haben lange unter einem politischen Vakuum gelitten, aber allmählich findet die Opposition zueinander“, sagt Zeitouneh.

Das System Assad

Weit weniger transparent sind die Strukturen des Systems Assad. Der innere Machtapparat ist nach außen gut abgeschirmt. Niemand weiß, wer tatsächlich welche Fäden zieht. Trifft Baschar al-Assad die Entscheidungen oder ist er nur die Frontfigur, eine Puppe, hinter deren Rücken sich die wahren Drahtzieher der blutigen Niederschlagung der Proteste verbergen? Insbesondere das Hin und Her zwischen Reformankündigungen und dem Gebrauch brachialer Gewalt lässt immer wieder Spekulationen aufkommen, Assad sei nicht der wirklich starke Mann an der Spitze.

Die zentralen Positionen sind alle von der direkten oder erweiterten -Familie besetzt. Maher al-Assad, Baschars Bruder, kommandiert die gefürchtete Präsidentengarde und 4. Division, eine den Assads treu ergebene Eliteeinheit der Armee, die maßgeblich an der Niederschlagung der Proteste beteiligt ist. Ihre Mitglieder sind handverlesen, gut ausgebildet und wegen ihrer unbedingten Loyalität die bevorzugte Waffe für heikle Missionen. Käme es zu einem Kampf Armee gegen Präsidentengarde, vermutet Nakhle, könnte die Präsidentengarde gegen die weniger gut ausgebildete und ausgerüstete Armee ziemlich lange durchhalten. Doch auch in der regulären Armee ist bei jeder -Einheit der mächtigste von drei Führungsoffizieren stets ein Alewit, also ein Mitglied der Minderheit, der auch die Assads angehören. Eine große Zahl von Deserteuren oder Überläufern hält Nakhle daher für unwahrscheinlich.

Baschars Schwager, Asef Shawkat, ist stellvertretender Stabschef der syrischen Armee, von 2005 bis 2010 leitete er den militärischen Geheimdienst. Alle wichtigen Fäden der syrischen Wirtschaft hält Rami Makhlouf in der Hand, Baschars Cousin. Mobilfunk, Banken, Freihandelszonen, Duty Free Shops, eine große Baufirma, eine Fluggesellschaft und die wichtigsten Importlizenzen zum Beispiel für europäische Autos und teure Tabakwaren gehören zu seinem Imperium. Außerdem besitzt er zwei Fernsehsender und mehrere Zeitungen. In einem Interview mit der New York Times gab Makhlouf im Mai einen seltenen Einblick in den inneren Machtzirkel um Assad.6  Die Regierung habe beschlossen, die Proteste bis zum Ende zu bekämpfen, sagte Makhlouf und warnte, wie es das Assad-Regime immer wieder tut, dass die einzige Alternative zur jetzigen Führung Chaos, Bürgerkrieg und der Aufstieg extremer Islamisten sei.

Eine Sorge, die die Aufstände im prekären Vielvölkerstaat Syrien mit sunnitischer Mehrheit und einer drusischen, christlichen und – der regierenden – alewitischen Minderheit von Anfang an begleitet hat. Unter Pessimisten macht das böse Wort von „Alewiten ins Grab, Christen nach Beirut“ die Runde. Doch gab der Verlauf der Proteste bislang wenig Anlass, der düsteren Prophezeiung des Regimes zu glauben. Auf ihren Plakaten betonen die Demonstranten immer wieder „Suria wahida“, geeintes Syrien. Und die wenigen Fälle interkonfessioneller Gewalt seien mit Hilfe von Schlägertrupps des Regimes gezielt provoziert worden, versichern die jungen Revolutionäre.

Sie stellen sich inzwischen darauf ein, dass die Revolution noch lange dauern kann. Für Nakhle kein Grund zur Verzweiflung: „Wir haben sechs Monate durchgehalten, wir halten auch noch weitere sechs Monate durch.“

SUSANNE FISCHER leitet als Programm-Managerin Nahost des Institute for War and Peace Reporting von Beirut aus Projekte zur Förderung der Pressefreiheit.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 60-67

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