„Manchmal stehe ich wie in der Luft“
Ein Rückkehrer krempelt die irakisch-kurdische Stadt Erbil um
23 seiner 48 Lebensjahre hat Nihad Salim als Asylant in Deutschland verbracht. Heute ist er Oberbürgermeister von Erbil, der Hauptstadt Irakisch-Kurdistans, und er hat diese Stadt zu einer der blühendsten des Iraks gemacht. Denn Salim ist furchtlos genug, um vieles über den Haufen zu werfen, was aus seiner „deutschen“ Perspektive keinen Sinn macht. Seine kurdischen Landsleute lernen über ihn neue Ideen und Werte kennen.
Ein leises Zirpen, kaum hörbar, ertönt. Ohne den Blick vom Gegenüber zu nehmen, tastet Nihad Salim nach seinem Handy. „Wenn der Makler Sie betrogen hat, werden wir uns darum kümmern“, verspricht er dem alten Mann, der vor seinem Schreibtisch sitzt. Ein schneller Blick aufs Display, „jetzt nicht“, murmelt er und drückt das Gespräch weg. Keine fünf Sekunden später zirpt es erneut. „Bebura, Entschuldigung, das ist wichtig“, sagt er und nimmt das Gespräch an.
Das diskrete Klingeln ist der Draht der Einwohner von Erbil zum Oberbürgermeister, wohl der direkteste in ganz Irakisch-Kurdistan. Kurdische Behörden mögen für vieles berühmt sein – für schnellen Service nicht. In einer Gegend, in der sich die Bedeutung eines Beamten oder Politikers nicht unwesentlich danach bemisst, wie lange es dauert, zu ihm vorzudringen, grenzt das Rathaus von Erbil an ein Wunder: Keine Sekretärin wimmelt Besucher ab, kein angeblich voller Terminkalender. „Ruft an, wenn ihr ein Problem habt oder kommt vorbei“, verkündet Salim stattdessen im Lokalfernsehen, und Probleme hat in Erbil eigentlich jeder. Deshalb zirpt sein Handy nervenschonend anstatt zu klingeln, an manchen Tagen 200-mal. Und von morgens acht bis nachmittags um drei gleicht sein Büro dem Sprechzimmer eines gefragten Spezialisten, in das die Menschen pilgern in der Hoffnung auf Heilung oder wenigstens Linderung.
Natürlich kann auch der Oberbürgermeister nicht allen helfen. Erbil, die Hauptstadt Irakisch-Kurdistans, hat eine Million Einwohner – und nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch die Baath-Partei, des Bürgerkriegs zwischen konkurrierenden kurdischen Parteien und nach jahrelanger Embargo-Wirtschaft so viel nachzuholen, dass Salim „oft nicht weiß, wo ich anfangen soll“.
Dass in Erbil viel passiert, sieht jeder auf den ersten Blick: überall Kräne, Baustellen und Hinweistafeln auf Riesenprojekte wie „Dreamcity“ – eine Wohnsiedlung mit 1200 Einfamilienhäusern, Krankenhaus, Schulen und Kindergärten. Der Flughafen von Erbil ist zum Tor in den Irak geworden, nicht nur weil es immer mehr Direktflüge nach Europa und in die Nachbarländer gibt. Auch die Einreise ist im Vergleich zur komplizierten Visaprozedur in Bagdad ein Kinderspiel: Für 81 Dollar gibt es den Stempel bei der Ankunft. Ein neuer, weitaus größerer Flughafen ist gleich neben dem alten, der auch noch nicht fertig ist, im Bau. Ein deutsches Ingenieurbüro plant die Erneuerung der kompletten Kanalisation, ein neues 450-Megawatt-Kraftwerk soll in Kürze den chronischen Strommangel mildern.
Erbil boomt wie keine andere Stadt im Irak, und das hat wohl auch ein wenig mit dem kleinen Wunder im Rathaus zu tun. Und dem Mann, der dort seit zwei Jahren die Geschäfte führt. Nihad Salim ist ein Rückkehrer. Als politischer Flüchtling ging er 1981 fort, als Oberbürgermeister kam er Anfang 2004 zurück. 23 seiner 48 Lebensjahre hat er in Deutschland gelebt, in Bonn, daher sein unverkennbar rheinischer Akzent. Genauso fließend spricht er Kurdisch und Arabisch, die Sprachen, mit denen er aufgewachsen ist. Er hat einen deutschen Pass, fährt einen Volkswagen Tuareg („Ich fühle mich in deutschen Autos einfach sicherer“), zugleich kennt er jede Gasse in der Altstadt, jeden Winkelzug der komplizierten kurdischen Geschichte. „Da hinten war meine Grundschule“, erzählt er auf einem Spaziergang durch die Stadt, „als ich dort eingeschult wurde, musste ich meinen Namen ändern.“ Der Vater, ein kurdischer Freiheitskämpfer, hatte ihn Schoresch getauft, Revolution – als quasi lebenden Aufruf zum Widerstand aber wollten ihn die Lehrer nicht in den Unterricht lassen.
Schwarzbrot liebt Salim genauso wie Wasserpfeife, er träumt auf Deutsch und verhandelt auf Kurdisch, und auf seinem Schreibtisch steht neben der kurdischen Flagge eine deutsche Hausmülltonne in Miniatur, denn „mein großer Traum ist es, in Erbil den Grünen Punkt einzuführen“.
Der Zurückgekehrte ist Fremder und Einheimischer zugleich. Äußerlich erinnert nichts an seine kurdische Herkunft: kein Bart, kein Bauch, und statt „Scharwal kurdi“, der traditionellen Kurdentracht, trägt er einen Anzug in Anthrazit. Salim stammt aus einer alten Erbiler Familie, wurde auf der Zitadelle geboren, der mehr als 5000 Jahre alten Festung hoch über der Stadt. Seine Frau und seine beiden Töchter wohnen noch in Bonn, sein Vater und seine Geschwister in Erbil.
Und was macht dieser Wanderer zwischen den Welten anders, womöglich besser als einer, der niemals fort gewesen ist? „Er hat keine Angst, sich Traditionen und Bräuchen zu widersetzen, sorgt sich nicht um das Gerede der Menschen“, sagt Tahir Outhman, der Vizegouverneur der Provinz Erbil. Sozialer Druck ist noch immer eine mächtige Waffe in der kurdischen Gesellschaft. Wer anders als die Mehrheit lebt, eigene Wege gehen will, spürt schnell Gegenwind und die Erwartung, sich anzupassen. „Doch Salim war lange genug weg, um frei zu sein“, meint Outhman. „Er kann tun, was nötig ist, und er hält sich nicht mit dem auf, was die Leute von ihm erwarten.“
Dabei hilft, dass er Rückendeckung von ganz oben hat – denn solange die politischen Verhältnisse sind wie sie sind in Irakisch-Kurdistan, kann ein Reformer immer nur ein Reformer von des Herrschers Gnaden sein. Nedschirvan Barzani, der Premierminister der kurdischen Regionalregierung, und dessen Onkel, Präsident Masud Barzani, stehen hinter Salim, sonst wären die kleinen und großen Kämpfe, die er täglich führt, aussichtslos. Oder sogar gefährlich. Schon mehrere andere Rückkehrer, die angeeckt sind bei den Mächtigen, haben sich nach Suleimania abgesetzt, das vom anderen Kurdenführer Jalal Talabani und dessen PUK kontrolliert wird, weil sie sich in Erbil nicht mehr sicher fühlten. Auch die Tradition, Gegner durch Haft zum Schweigen zu bringen, hat die Zeitenwende überlebt. Seit Oktober 2005 sitzt der Publizist Kamal Said Qadir in Erbil im Gefängnis, weil er in mehreren Artikeln im Internet Masud Barzani beleidigt haben soll. Qadir, gebürtiger Kurde mit österreichischem Pass, war zu Besuch in seiner Heimat, als er nachts auf dem Weg zum Hotel von Beamten der Parastin, der geheimen Sicherheitspolizei der KDP, festgenommen wurde. In einem Gerichtsverfahren, das laut Qadir keine halbe Stunde dauerte, wurde er zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt – wegen „Beleidigung kurdischer Institutionen.“
„Das war nicht klug”, sagt Salim. „Was Qadir geschrieben hat, war sehr beleidigend“ – unter anderem hatte er ein Mitglied der Barzani-Familie als schwul bezeichnet, eine schwere Ehrverletzung in der konservativen kurdischen Gesellschaft. „Aber 30 Jahre Gefängnis sind trotzdem lächerlich. Wenn wir eine Demokratie sein wollen, müssen wir lernen, mit Kritik anders umzugehen.“
„Das Glück meines Lebens“
Er hat es gelernt, mehrere tausend Kilometer von der Heimat entfernt. „Das Glück meines Lebens“ nennt Salim heute die Chance, die er bekam, Irak zu verlassen. „Ich wäre entweder tot oder ein anderer, als ich es heute bin.“ Vielleicht wäre er immer noch Lehrer in einem entlegenen kurdischen Dorf, wo er „alles außer Religion“ unterrichtete. Oder er hätte seine Nebenbeschäftigung Politik schon früher zum Beruf gemacht – und wäre Teil jenes Systems, das er nun zu verändern sucht. Würde nicht Korruption und Selbstherrlichkeit von Parteibonzen und hohen Beamten tadeln, sondern wäre einer von ihnen. „Die jahrelangen Kriege haben unsere Gesellschaft verändert“, konstatiert er melancholisch, „wir haben die Liebe zur Heimat verlernt!“ Die Baath-Partei habe eine Kultur zurückgelassen, die auf Chaos und Mord basiere; das rückgängig zu machen werde noch Jahre dauern. „Wir haben Saddam ins Gefängnis gesteckt, aber es laufen noch viele Saddams überall frei herum.“ Wie wichtig Zivilgesellschaft und Bürgersinn seien, um eine Nation voranzubringen, habe er in Deutschland gelernt. So wie „alles, was ich über Demokratie und Rechtsstaat weiß“.
Dorthin zu kommen half ihm eine gute Seele an der deutschen Botschaft in Bagdad; bis heute weiß er nicht so recht, warum. Vergeblich hatte er sein Glück bei der Schweiz versucht, bei den Briten, hatte Botschaft um Botschaft abgeklappert, ohne Erfolg. „Wollen Sie abhauen?“, fragte ihn die Frau in der deutschen Botschaft, wo er eigentlich nur geklopft hatte, weil die Vertretung auf seinem Heimweg lag. So entscheidet bisweilen der Zufall, wo ein neues Leben beginnt. Heute kann sich Salim sich selbst ohne Deutschland-Bezug nicht mehr vorstellen.
Er erinnert sich gut, wie ihm bei dieser Frage heiß und kalt wurde. Ja, er wollte abhauen – als politisch aktiver Kurde bangte er um sein Leben und fürchtete zudem, zu Recht, dass wegen des Iran-Irak-Kriegs die Grenzen bald ganz geschlossen würden. Das dem Falschen einzugestehen wäre reiner Selbstmord gewesen. Trotzdem riskierte er eine offene Antwort. „Ich will weg, ich bin Kurde und habe Schwierigkeiten.“ Drei Stunden später hatte er ein Touristenvisum für vier Wochen im Pass. Am 21. Juli 1981 flog er mit Iraqi Airways von Bagdad nach Frankfurt, völlig legal, aber ohne Vorstellung, wie er es anstellen würde, in Deutschland zu bleiben. „Paragraph 16, Asylrecht, das kannte ich alles nicht.“ Er wurde schnell aufgeklärt, stellte den Antrag und wurde nach elf Monaten als Asylbewerber anerkannt. Im Irak führte Saddam Hussein seinen Krieg gegen die Kurden immer brutaler, Tausende wurden vertrieben, verschleppt oder hingerichtet. Für Salim, der über sich selbst sagt, er sei im zarten Alter von fünf Jahren ein „politischer Mensch“ geworden, hätte die Rückkehr leicht den Tod bedeuten können.
Fünf Jahre alt war Salim 1963: es war das Jahr, in dem sich die Baath-Partei gegen General Abd al-Karim Qassim an die Macht putschte. Salims Vater hatte in jener Zeit mit den Peschmerga gearbeitet, den kurdischen Freiheitskämpfern, und nach dem Putsch kam die Geheimpolizei, um ihn zu verhaften. Durch eine glückliche Fügung suchten sie zuerst im falschen Haus, ein Nachbar rannte herbei, um den Vater zu warnen, und er konnte in die Berge fliehen. Über Nacht waren Salim und seine Brüder für die Ernährung der Familie zuständig. Das Haus und die Autowerkstatt des Vaters wurden beschlagnahmt. Die Kinder arbeiteten hart, und als der Vater zwei Jahre später durch eine Amnestie nach Erbil zurückkehren konnte, hatten sie genug Geld gespart, um ihm wieder eine Werkstatt zu kaufen.
Seither habe er gewusst, sagt Salim, was Unterdrückung heißt. „In jener Nacht begriff ich, was mein Vater für unser Volk riskiert hatte, und ich wusste, diese Verantwortung habe ich auch.“ 1970 trat er in die Jugendorganisation der Demokratischen Kurdischen Partei ein.
Auch in Deutschland wurde Salim rasch politisch aktiv, organisierte Hungerstreiks gegen das Saddam-Regime, arbeitete mit der „Aktion kurdischer Studenten im Ausland“, traf politische Flüchtlinge aus der Türkei, dem Iran und natürlich viele irakische Kurden. „In Deutschland konnten wir uns für das Recht unseres Volkes einsetzen, weil Deutschland ein Rechtsstaat ist. In unseren Heimatländern hätten wir das so nicht gekonnt.“ Eigentlich hatte er studieren wollen, doch nach dem vorbereitenden Studienkolleg brach er ab. Zu abstrakt empfand er die Vorlesungen, wo doch im Irak schrecklichste Dinge geschahen und er Tag um Tag nicht wusste, wer von seiner Familie noch am Leben war. Er begann zu arbeiten, als Kellner, Taxifahrer, eröffnete ein Restaurant und fing dann als Dolmetscher an bei der deutschen Justiz.
Was er über deutsche Verwaltung und Behörden weiß, kennt er aus jener Zeit – und aus 23 Jahren deutschem Gemeindeleben. Er heiratete, zwei Töchter wurden geboren, deren erste Sprache Deutsch ist, mit denen er und seine ebenfalls kurdische Frau aber auch immer wieder Kurdisch sprechen. Nach Saddams Sturz, das war immer klar, würde er in den Irak zurückkehren. „Ich habe mein Land verlassen, obwohl ich es liebte. Ich musste gehen. Aber ich wollte immer zurück.“
Jetzt möchte er das, was er in der neuen Heimat gelernt hat, an seine alte vermitteln. Dass die KDP und die Barzanis ihn geholt haben, werten Kenner der politischen Szene als gutes Zeichen. „Vor allem Premierminister Nedschirvan Barzani scheint eingesehen zu haben, dass es klüger ist, sich mit Sachverstand zu umgeben anstatt mit Ja-Sagern aus der Partei“, glaubt ein Journalist aus Erbil. Wie weit diese Einsicht reicht, falls der „Sachverstand“ die Machtstrukturen und wirtschaftlichen Verflechtungen der Barzanis berühren sollte, ist offen. In Deutschland habe er gelernt, sagt Salim, „dass es oft eines Kompromisses bedarf, um weiterzukommen“. Er versuche, behutsam vorzugehen und lasse sich oft auf einen Mittelweg ein. „Eine deutsche Stadt wird aus aus Erbil nie. Aber wir müssen den Abstand zu Europa verkürzen und gleichzeitig unsere Identität bewahren, eine schwierige Balance. Was ich praktizieren will, ist für die Menschen hier erst mal sehr fremd.“ Umgekehrt ist ihm manches fremd geworden in der alten Heimat. „Manchmal stehe ich wie in der Luft, nach 23 Jahren im Ausland spüre ich eine Kluft zwischen mir und dem Land, aus dem ich damals fortgegangen bin.“
„Wir machen das hier so“
Oft sind es Winzigkeiten, die ihm das Gefühl erhalten, ein Fremder zu sein. In Dohuk, einer Stadt nördlich von Erbil, wollte er einen Tee ohne Zucker trinken. Fünf Mal habe er beim Kellner „ohne Zucker“ bestellt, fünf Mal sei der Kellner mit dem landesüblichen Gemisch aus halb Zucker, halb Tee zurückgekommen, um ihn schließlich zu belehren: „Mein Herr, wir trinken den Tee hier eben so, und das müssen Sie auch tun.“
Genau dieses „Wir machen das hier so“ ist Salims größter Feind. Denn natürlich sind längst nicht alle begeistert vom „deutschen Bürgermeister“, der vielleicht nicht alles, aber doch das meiste anders machen möchte. Der von Abwassergebühren und Bauordnung redet, der 40 000 Dinar (22 Euro) Strafe eingeführt hat für jeden, der Müll auf dem Bürgersteig entsorgt, und der die Straßenkarren der fliegenden Händler verbieten will, weil sie den Verkehr lahm legen. In drei Jahren ist die Zahl der Autos in Erbil von 10 000 auf 200 000 gestiegen, „da müssen wir doch was tun.“ Und warum eigentlich holt die Partei die Bauern aus den Dörfern und beschäftigt sie als Beamte bei der Stadt? „Sie bekommen ein Gehalt, ohne wirklich zu arbeiten – weil sich die Politik so ihre Stimmen kauft. Saddam hat 4500 Dörfer in Kurdistan zerstört, 4000 wurden wieder aufgebaut – und jetzt zerstören wir sie mit unserem Geld. Wir machen die Menschen unproduktiv.“
Mögen die Leute den Kopf schütteln, weil er keine große Dienstwagen-Flotte führt, nicht ständig zehn Bewaffnete an seiner Seite hat. „Als Oberbürgermeister,“ ermahnen sie ihn, „kannst du nicht einfach durch die Stadt laufen.“
Kann er doch. Und will er auch. Er läuft und fährt durch die Stadt und weiß deshalb genau, wo die Probleme liegen – weil er sie selbst sieht. Und weil sein Blick ein anderer ist. Auf dem Weg vom Rathaus zu einer Preisverleihung an den „Torwart des Jahres“ etwa entdeckt Salim einen Fischverkäufer an einer Stelle, wo er nicht hingehört. Jeder, der zum Kauf anhält, behindert den Verkehr. „Außerdem müssen wir die Ware kontrollieren.“ Per Handy ordert Salim einen Streifenwagen, der dem Händler einen Strafzettel schreiben wird. „Hier glaubt jeder, er könne machen, was er will“, grummelt er noch, da wird die nächste Intervention fällig: Ein Müllauto der Stadtwerke, aus Deutschland importiert, steht vor einem Haufen Schlamm, der Fahrer schickt sich gerade an, die Besen auszufahren, um ihn aufzukehren. „Neiiiiin“, ruft Salim, „doch keinen Schlamm! Dann ist der Wagen gleich hin.“
Kampf dem Benzinschwarzmarkt, dem Müll, der Planlosigkeit! Ordnung müsse her, „prrrrrrreußische Ordnung!“, sagt Salim und lacht, weil er weiß, dass sein Lieblingswort in Kurdistan befremdlich klingt. „Hier läuft nichts nach Plan, schlimmer noch: Es gibt überhaupt keine Planung. Wenn Herr X aus Dorf Y kommt und eine Straße verlangt, kann es sein, dass der Gouverneur sie bauen lässt, weil er gute Stimmung machen will – auch wenn die Straße keinen Sinn ergibt.“
(Freiwillige) Rückkehrer können für Gesellschaften im Umbruch ein wertvolles Kapital sein, das zu nutzen den Daheimgebliebenen allerdings oft schwer fällt. Mit den Heimkehrern kommen neue Werte und Ideen ins Land. Wo sich Menschen jahrzehntelang gegen Unterdrückung behaupten und um ihr Überleben kämpfen mussten, gelten jene, die der Gewalt beizeiten entflohen, leicht als Feiglinge, die doch gar nicht mitreden können. Dabei können gerade sie Starthilfe leisten für den Übergang von der Militärkultur zur Zivilgesellschaft. Vielen falle gar nicht auf, wie militärisch geprägt die Gesellschaft immer noch sei, sagt Salim. In seinem Büro hängt, wie in allen kurdischen Amtsstuben, ein Porträt des legendären Kurdenführers Mustafa Barzani. Doch anders als die meisten Bilder zeigt das in Salims Büro Barzani im Anzug, nicht in Kämpfertracht. Mit seinem Anliegen, den militärischen Gruß der Wachen abzuschaffen, ist er bislang gescheitert. Noch immer knallen die Hacken und stehen die Männer stramm, sobald Salim sein Büro verlässt.
Rückkehrer können unabhängiger von gewachsenen Strukturen agieren als jene, die niemals fortgewesen sind. Doch haben sie genau diese Strukturen auch nicht selten gegen sich. Beamte, die seit 30 Jahren denselben Job machen, „haben keine Motivation, irgendwas zu ändern. Die lehnen mich ab, weil ich etwas in Bewegung bringen möchte“, sagt Salim. Bewegung nach vielen Jahren des Stillstands macht Angst, könnte Pfründe kosten, Einfluss und Gewohnheiten. Dazu kommt die universal menschliche Regung Neid. „Manche denken, wir seien auf ihre Kosten zurückgekommen und wollten nun dick absahnen, nachdem wir schon 20 Jahre in Saus und Braus in Deutschland gelebt hätten.“ Vom Leben der Exilkurden haben die Daheimgebliebenen oft eine völlig falsche Vorstellung – auch weil viele Rückkehrer das Blaue vom Himmel herunterlügen. Kaum einer erzählt, wie schwer das Leben in der Fremde oft ist. Die ewigen Erfolgsgeschichten machen die Rückkehrer leicht zum Feindbild. „Es gibt viele, die versuchen, Salims Pläne zu sabotieren“, sagt Mostafa Moradi, ein Kurde aus dem Iran, der in Dortmund Raumplanung und Abfallwirtschaft studiert hat und gemeinsam mit Salim versucht, für die Müllabfuhr in Erbil das Duale System einzuführen. Die beiden kennen sich aus Deutschland, wo sie gemeinsam gegen das Saddam-Regime demonstriert haben. Seit 28 Jahren darf Moradi nicht in seine iranische Heimat einreisen, deshalb sitzt er regelmäßig in Salims Büro. „Hier kann ich mit dem, was ich in Deutschland gelernt habe, beim Aufbau helfen.“ Auch wenn der Fortschritt in vielen kleinen Schritten errungen werden muss. „Ihr mit Euren Ideen aus Deutschland“, bekämen sie immer wieder zu hören, „wozu brauchen wir das?“
So fühlen sich jene, die aus Europa oder den USA in die alte Heimat kommen, oft als Don Quijote wider Willen; sie müssen gegen lauter Windmühlen kämpfen, wo sie doch helfen wollen. Ein aus England zurückgekehrter Kunstprofessor wurde nach seinem irakischen Grundschulzeugnis gefragt, obwohl er einen Master-Titel einer Londoner Universität vorlegen konnte. Die Erklärung „das Zeugnis aus England könnte ja gefälscht sein“ zeigt, wie tief das Misstrauen gegenüber den vertrauten Fremden sitzt – dabei sind gefälschte Dokumente nirgends leichter zu bekommen als im Irak.
Obwohl die meisten Rückkehrer rational verstehen, dass Angst um die eigene Position hinter der Ablehnung steckt, die reflexhafte Verteidigung der eigenen Lebensleistung, sind sie enttäuscht. Viele haben in der Fremde lange vom Moment der Rückkehr geträumt, sich ausgemalt, wie sie für ihren Entschluss, zurückzukommen, respektiert und belohnt werden. Stattdessen: Widerstand auf allen Ebenen. Manche geben frustriert nach einigen Monaten auf.
Salim nicht. Als er beschloss, den Posten des Oberbürgermeisters anzunehmen, habe er sich keine Illusionen über schnelle Veränderungen gemacht. „Ich wusste, ich brauche Geduld, Geduld und noch mal Geduld.“ Dabei gaben ihm die meisten seiner deutschen Freunde „drei Monate, dann bist du wieder hier. Meine Frau meinte, ich schaffe ein halbes Jahr.“
Inzwischen sind zwei daraus geworden, weitere sind geplant, womöglich in anderer, höherer Funktion. „Salim ist nicht allein“, versichert Vizegouverneur Outhman. „Wir unterstützen seine Ideen.“
Für seine Lieblingsidee allerdings bräuchte Salim Hilfe aus seiner zweiten Heimat, aus Deutschland. Er träumt von einer deutschen Schule in Erbil. Als Brücke zwischen den Kulturen, aber auch, damit er denen, die nicht wie er freiwillig zurückkommen, helfen kann. „In den nächsten Jahren werden viele abgeschobene Familien nach Kurdistan zurückkehren. Was könnten wir besseres tun, als deren Kindern ein Stück ihrer deutschen Heimat zu erhalten?“
SUSANNE FISCHER, geb. 1968, berichtet seit Herbst 2003 aus und über den Irak. Seit 2005 lebt sie in Irakisch-Kurdistan, wo sie im Auftrag des britischen Institute for War and Peace Reporting irakische Journalisten ausbildet. Ihr Buch „Café Bagdad. Der ungeheure Alltag im neuen Irak“ (zusammen mit Christoph Reuter) erschien im Oktober 2004.
Internationale Politik 3, März 2006, S. 50 - 57.