Buchkritik

26. Juni 2023

Das Ende des 30-jährigen Friedens

In den neunziger Jahren träumte man von einem Zeitalter des globalen Miteinanders, aufgewacht ist man jetzt in einer Welt des imperialen Großmachtstrebens: Das Lebensgefühl des ­Westens gleicht derzeit einer Achterbahnfahrt.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Woher kommt der Schmerz im Westen? Der Schmerz, der auf Ernüchterung beruht, auf Enttäuschung. Enttäuschung über die Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Und Ernüchterung über die Rolle, die der Westen bei alledem spielt – eine immer geringere.



Bei Jens Balzer kann man noch einmal nacherleben, wie das damals war, wie an sich im Westen fühlte, bevor der Traum vom „Ende der Geschichte“, vom endgültigen Ende des Systemgegensatzes zwischen Ost und West, Diktatur und Demokratie, Sozialismus und Marktwirtschaft und dadurch auch von Krieg, Flucht und Vertreibung in Europa blutig platzte durch die Aggres­sion Russlands gegen die Ukraine und eben jenen Westen.



Balzer nimmt einen mit in die sagenumwobenen „Neunziger“ – für ihn wie für viele andere das „Jahrzehnt der Freiheit“. „No Limit“ überschreibt der Kulturjournalist sein Buch und zeigt damit, wohin es mit dem Westen nach eigener Wahrnehmung damals ging: immer nach oben – und nach dem Mauerfall grenzenlos im wahrsten Sinne des Wortes.



Es entstand ein Lebensgefühl, das auf der Aussicht auf ein Jahrzehnt im Zeichen der Freiheit beruhte: Die Sowjetunion und die USA hatten gemeinsam begonnen, nuklear abzurüsten, und in Moskau hatte Michail Gorbatschow die Mitglieder des Warschauer Paktes in die Unabhängigkeit entlassen.

Viele meinten darin den Beginn des Zeitalters einer globalen Friedensordnung zu erkennen. Balzer verweist auf die Theorie der „Goldenen Bögen“, abgeleitet vom gelben „M“ von McDonald’s, das der US-Ökonom Thomas Fried­man als das Zeichen des Kapitalismus schlechthin ausgemacht hatte. Die Eröffnung der ersten Filiale der Fastfoodkette am Puschkinplatz in Moskau Anfang 1990 nahm Friedman zum Anlass, die These aufzustellen, noch nie hätten zwei Staaten gegeneinander Krieg geführt, in denen es McDonald’s-Filialen gebe.



Friedman prognostizierte eine dauerhafte Globalisierung von Wirtschaft und Kultur – stark befördert durch die digitale Vernetzung, den globalen Siegeszug der Informationsgesellschaft.



So begannen die Neunziger als ein „Jahrzehnt des Aufbruchs“: Die Zukunft sei wieder eine Verheißung gewesen. Die Postmoderne sollte in diesem Jahrzehnt zu ihrer Vollendung kommen. Ihr Gedanke eines universell befreiten „anything goes“ prägte für Balzer nicht nur die Aufbruchshoffnungen der Neunziger, sondern auch das zunächst positive Bild der Globalisierung.



Am Strand von Ver-sur-Mer

Um persönliches Erleben und Wahrnehmen geht es auch bei Timothy Garton Ash. Der Professor für Europäische Studien in Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University gilt seit Jahrzehnten als Vorkämpfer eines vereinten Europas. Nun widmet er seinem Europa seine eigene Geschichte – beginnend bei seiner Familie: Sein Vater landete am D-Day in der Normandie mit der ersten Welle alliierter Soldaten zur Befreiung Kontinentaleuropas vom Nationalsozialismus.



Ash erzählt, wie er am Strand von Ver-sur-Mer steht, morgens um 7.30 Uhr, zu der Zeit und genau dort, wo Captain John Garton Ash vor fast 80 Jahren in Frankreich an Land ging. Dabei lässt der Sohn Revue passieren, was er selbst an europäischer Geschichte miterlebt hat – inzwischen ein halbes Jahrhundert: „eine Werft in Gdańsk, ein Theater in Prag, eine Mauer in Berlin, ein Schlachtfeld in der Krajina“.



Bei Ash geht es um Triumphe und Katastrophen, um „geduldige Errungenschaften und törichte Fehler“ – erzählt entlang von Zäsuren wie Mauerfall, Jugoslawien-Krieg, Eurokrise oder Flüchtlingsdrama. Das heutige Europa lasse sich nicht verstehen, ohne in die Zeit zurückzugehen, die Tony Judt seiner Geschichte Europas nach 1945 als Titel gegeben habe: „Postwar“ – Nachkrieg. Überlagert und verdrängt werde dieser Rahmen vom „Nach­mauereuropa“ – „Postwall“.



Den Bogen zur Jetztzeit schlägt Ash, indem er darauf hinweist, dass bereits die Zeit nach dem Mauerfall in Europa keine des immerwährenden Friedens gewesen sei: vom blutigen Zerfall Jugoslawiens über terroristische Gräueltaten in vielen europäischen Städten bis hin zu Russlands Aggression gegen Georgien, die Besetzung der Krim und den Konflikt in der Ostukraine. Dennoch glaubt auch Ash, dass sich diese Zeit für die Mehrheit der Europäer als „Dreißigjähriger Frieden“ bezeichnen lasse – ein Lebensgefühl, das mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ein jähes Ende fand.



Wie geht man damit um? Andreas Urs Sommer fasst die Reaktionen im Westen pointiert zusammen: Zuerst seien die Fachleute gefragt gewesen und jene, die als solche gelten möchten. Die einen, die „Falken“, wie er sie nennt, hätten einander mit Vorschlägen überboten, wie sich Russland – und mittelbar auch China – eindämmen ließen. Die anderen, die „Tauben“, hätten, um weiteres Blutvergießen zu verhindern, der Ukraine angeraten, die Waffen zu strecken und den Russen zu geben, was sie wollten.



Den „Falken“ ordnet der Freiburger Philosophieprofessor einen dezidierten Forderungskatalog zu: von unbeschränkten Waffenlieferungen an die Ukraine und der Verhinderung militärisch relevanter Exporte nach Russland über eine NATO-Verteidigungslinie in Polen, dem Baltikum und Skandinavien bis hin zu einer mittelfristigen Unabhängigkeit von fossiler Energie und der Eindämmung Chinas.



Demgegenüber die „Tauben“, die nicht müde würden, vor möglichen Eskalationen zu warnen und davor, dass es allein vom russischen Präsidenten abhänge, von wann an er die Unterstützung der Ukraine durch den Westen als Kriegseintritt bewerte. Manche noch „Taubenfüßigere“ hätten schon in den ersten Wochen des Krieges die Auffassung vertreten, nicht nur Waffenlieferungen des Westens seien verwerflich: Die Ukraine müsse schnellstens kapitulieren, um der Zivilbevölkerung weiteres Leid zu ersparen.



Die Argumente, die Sommer hier vorstellt, sind Eingeweihten natürlich längst bekannt. Neu ist, dass der Autor sich die Zeit – und den Platz – nimmt, sie für ein größeres Publikum aufzubereiten und ihnen so eine seriöse Entscheidungsgrundlage zu liefern. So ist sein Buch ein wichtiger Debattenbeitrag zur „Zeitenwende“.



Keine Illusionen

Ruft Sommer seiner Leserschaft in seinem Buchtitel „Entscheide dich!“ zu, so dürfte das bei Stefanie Babst nicht notwendig sein. Zu den „Tauben“ würde Babst sich nicht zählen – nicht vor und schon gar nicht nach dem 24. Februar 2022. Und im Unterschied zu vielen anderen Spätgeläuterten ist das bei Babst glaubwürdig: Sie war nicht nur mehr als zwei Jahrzehnte bei der NATO tätig, wo sie als Stellvertretende Beigeordnete Generalsekretärin für Public Diplomacy zur ranghöchsten deutschen Frau im Internationalen Stab aufstieg. Sie hatte sich auch schon zuvor intensiv mit dem östlichen Europa beschäftigt: als Dozentin an der Bundeswehr-Führungsakademie in Hamburg, als Gastdozentin in den USA, in Russland, der Ukraine und Tschechien sowie als Mitglied einer OSZE-Wahlbeobachtungskommission, ebenfalls in Russland.



Daher sollte man genau lesen, was Babst dem Westen in ihrem Buch „Sehenden Auges“ ins Stammbuch schreibt: eine Strategie des „Roll Back Putinismus“. Was der Westen brauche, sei der „Mut zum strategischen Kurswechsel“, so der Untertitel ihres Plädoyers: Man werde so lange weiter mit einem verbrecherischen, kleptokratischen und rückwärtsgewandten Regime in Moskau konfrontiert sein, bis dieses System erodiere, zerfalle oder wenigstens beginne, seine autoritären, bedrohlichen Wesensmerkmale nachhaltig zu verändern. Erst Russlands glaubwürdiger Verzicht auf weitere militärische Gewaltanwendung gegenüber der Ukraine und anderen Nachbarn, sein Rückzug aus den besetzten ukrainischen Gebieten und die uneingeschränkte Bereitschaft zur Übernahme politischer, rechtlicher und finanzieller Verantwortung für den Krieg und seine Folgen könnten die Rahmenbedingungen dafür schaffen, sich auf ernsthafte diplomatische Gespräche mit Moskau einzulassen.



Babst stellt klar heraus, dass es nur darum gehen könne, das heutige Russland in seinem Aktionsradius und seinen militärischen und hybriden Fähigkeiten einzuschränken. Solange der Putinismus das Land politisch dominiere, werde Europas Sicherheit bedroht bleiben: „Daran sollte niemand Zweifel haben.“



Zweifel an einer solchen Linie hat auch Christoph Heusgen nicht. Mit „Führung und Verantwortung“ betitelt er nicht nur sein Buch über Angela Merkels Außenpolitik, die er als ihr zentraler Berater im Kanzleramt über viele Jahre begleitet hat. Damit lässt sich auch zusammenfassen, was der heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz als Deutschlands künftige Rolle in der Welt ausmacht.



Bezogen auf die Lage in der Ukraine bedeutet das für ihn, das Land in seinem Verteidigungskampf gegen Russland humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen zu unterstützen. Kiew habe das Völkerrecht und die Moral auf seiner Seite, und man dürfe „nicht vergessen, dass die Ukrainer nicht nur ihre, sondern auch unsere Freiheit verteidigen“. Zugleich mahnt Heusgen jedoch, man müsse stets bereit sein, die Hand Richtung Moskau auszustrecken, wenn die Bedingungen stimmten – für ihn allerdings erst in einer Post-Putin-Ära denkbar und auch nur aus einer Position der Stärke des Westens heraus.



Einen ähnlich klaren Blick hat Heusgen heute auf China: Man dürfe sich keine Illusionen machen, Peking wolle Moskau in der vom verstorbenen republikanischen US-Senator John McCain charakterisierten Rolle als „Tankstelle Chinas“ nicht verlieren. Ein Russland in internationaler Isolation und damit in Abhängigkeit von China passe perfekt in die Langfriststrategie Xi Jinpings. Denn es stärke ihn in seinen Ambitionen, die USA als mächtigste Nation der Welt abzulösen und das Völkerrecht in die von ihm gewünschte Richtung zu verändern: die Subsumierung aller Rechtsvorschriften einschließlich der Menschenrechte unter die Staatensouveränität.



Zivilisation von unten

Welche Vorstellung von der Welt und ihrer Ordnung wird sich durchsetzen? Erneut die westliche? Eine Antwort auf diese Frage könnte im Alten Orient liegen. Dorthin nimmt David Wengrow seine Leserschaft unter der Leitfrage mit, was Zivilisation sei, um daraus Ableitungen für die Zukunft des Westens zu ziehen. Der in Köln und London lehrende Archäologe und Anthropologe ist zusammen mit seinem verstorbenen Kollegen David Graeber international bekannt geworden durch ihre Menschheitsgeschichte „Anfänge“. Hier schildern sie, wie über Jahrtausende hinweg, lange vor der europäischen Aufklärung, schon jede erdenkliche Form sozialer Organisation erfunden worden sei, und wie das Streben nach Freiheit, Wissen und Glück später das westliche Denken beeinflusst habe.



Wengrow geht es bei seinem Blick auf den Ursprung der heutigen westlichen Welt im Alten Orient um eine Definition von Zivilisation, die näher an der lateinischen Wurzel des Wortes „civilis“ liegt und sich auf die Art und Weise bezieht, wie sich Gesellschaften durch Prozesse der „freiwilligen“ Koalition organisieren: Zivilisation von unten nach oben statt umgekehrt.



Was Zivilisation in diesem Fall definiert, sind weder politische Einheiten noch technische Errungenschaften. Vielmehr bezieht sich der Begriff auf die Fähigkeit von Gesellschaften, eine moralische Gemeinschaft zu bilden – trotz Unterschieden in der ethnischen Zuordnung, der Sprache, der Glaubenssysteme oder der territorialen Zugehörigkeit.



„Zivilisationen“ in diesem Sinne hätten im Nahen Osten eine sehr viel länger zurückreichende Geschichte als die frühesten Monarchien und Reiche. Und sie hätten auch das kulturelle Milieu gebildet, aus dem bereits die antiken Supermächte hervorgegangen seien – gefolgt von denen der westlichen Moderne. Vielleicht kann diese Erkenntnis den gegenwärtigen Schmerz im Westen ein wenig lindern.

 

Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. Berlin: Rowohlt Berlin 2023, 384 Seiten, 28,00 Euro

Timothy Garton Ash: Europa. Eine persönliche Geschichte. München: Hanser 2023, 448 Seiten, 34,00 Euro

Andreas Urs Sommer: Entscheide dich! Der Krieg und die Demokratie. Freiburg im Breisgau: Herder 2023, 128 Seiten, 16,00 Euro

Stefanie Babst: Sehenden Auges. Mut zum strategischen Kurswechsel. München: dtv 2023, 287 Seiten, 24,00 Euro

 

Christoph Heusgen: Führung und Verantwortung. Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt. München: Siedler 2023, 251 Seiten, 24,00 Euro

David Wengrow: Was ist Zivilisation? Die Zukunft des Westens und der Alte Orient. Stuttgart: Klett-Cotta 2023, 236 Seiten, 25,00 Euro

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 124-127

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Dr. Thomas Speckmann ist Historiker und Politikwissenschaftler und hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen.

 

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