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01. Juli 2002

Das Bündnis vor dem Aus?

Gedanken über die Zukunft der NATO

Die Geschichte der NATO ist für General Klaus Naumann, den ehemaligen Vorsitzenden ihres Militärausschusses, eine „nahezu unglaubliche Erfolgsgeschichte“. Er widerspricht nachdrücklich der Auffassung, die Allianz sei ein „Bündnis vor dem Aus“ und sagt ihr vielmehr eine Zukunft als globales Bündnis voraus.

Die NATO ist das erfolgreichste Verteidigungsbündnis, das die neuere Geschichte kennt; sie ist überdies das einzige zurzeit voll funktionsfähige Sicherheitsinstrument in Europa. Sie leistet gute Arbeit auf dem Balkan und hat am 12. September 2001 blitzschnell den Bündnisfall festgestellt. Doch danach wurde es still um die Allianz, sie versank in hektischem Stillstand in Brüssel. Weder in Washington noch in Europa sah man eine Notwendigkeit, das mächtigste Militärbündnis der Welt zu nutzen, als in Afghanistan zunächst die Taliban besiegt wurden und dann versucht wurde, durch eine Stabilisierungstruppe Frieden herzustellen. Die NATO ist eben noch immer ein Instrument, dessen militärische Fähigkeiten trotz mannigfacher Anpassung seit 1991 vorrangig auf die Verteidigung Europas zugeschnitten sind. Lage und Auftrag bestimmen nun einmal, mit welcher Koalition man kämpft. Ist die Koalition ungeeignet, eingesetzt zu werden, dann nutzt man sie nicht. Deswegen findet die NATO gegenwärtig so gut wie nicht statt.

In seiner nunmehr 53-jährigen Geschichte hat das Bündnis viele Krisen erlebt und immer wieder mit der Frage zu ringen gehabt, wie der Zusammenhalt der Mitgliedstaaten gewahrt werden kann. In der Zeit des Kalten Krieges war die Lösung stets relativ leicht zu finden, denn es war die als existenzgefährdend empfundene sowjetische Bedrohung, die das Bündnis zusammenhielt. Sie neutralisierte Zentrifugalkräfte ebenso wie französische Exzentrik, die immer wusste, dass man die Amerikaner nur über die NATO zur Kontrolle Deutschlands in Europa anhalten konnte. Man war aber nie bereit, den Preis dafür zu zahlen und amerikanische Hegemonie anzuerkennen. Andererseits muss man selbst im Quai d’Orsay, dem französischen Außenministerium, bei nüchterner Betrachtung einräumen, dass die USA ein gütiger Hegemon waren, der Westeuropa zusammenhielt und ihm erlaubte, unter amerikanischem Schutz fünf Jahrzehnte Frieden und Prosperität zu erleben. Doch Dankbarkeit ist nun einmal kein Element der Politik; man kann die Allianz damit nicht retten.

Die Entwicklung der NATO von 1991, dem Jahr der Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion, bis heute ist eine weitere, nahezu unglaubliche Erfolgsgeschichte. Es gelang, eine neue „raison d’être“ zu finden, die dem ursprünglichen politischen Ziel der Allianz entsprach, ein ganzes und freies Europa zu schaffen: Die NATO wurde zu einem Bündnis kollektiver Sicherheit in und für Europa, das aber seine Kernfunktion der kollektiven Verteidigung beibehielt und zusätzlich durch Projektion von Stabilität und durch die Bereitschaft zu aktiver Krisenbewältigung Frieden zu erhalten sucht.

Das ist die Kernaussage des Strategischen Konzepts, das die Staats- und Regierungschefs der inzwischen 19  Mitgliedstaaten im April 1999 auf dem Gipfel von Washington billigten. Die NATO blieb damit zwar ein regionales und defensives Bündnis, aber sie machte mit ihrem strategischen Konzept auch klar, dass als Regelfall für Einsätze von NATO-Truppen nicht länger der Einsatz auf dem Gebiet der NATO-Staaten zu sehen ist. Der Regelfall ist der Einsatz außerhalb des Vertragsgebiets mit dem Ziel, Risiken fern zu halten. Die NATO machte ferner deutlich, dass sie die von ihr gebildete Zone der Stabilität und des Friedens durch die Aufnahme weiterer Mitglieder, durch die Partnerschaft für den Frieden und die Zusammenarbeit mit Russland und der Ukraine Schritt für Schritt ausweiten will.

Die Beschlüsse von Washington hatten eine Grundlage geschaffen, die es in den Jahren von 1999 bis heute erlaubte, mit den Widrigkeiten des Alltags wie der mehr als zögerlichen Verwirklichung der in Washington beschlossenen Modernisierung der Streitkräfte (Defence Capabilities Initiative/DCI)) durch die Verbündeten der USA und den von Washington nur widerwillig tolerierten Plänen der EU, eine europäische Eingreiftruppe zu schaffen, fertig zu werden.

Der 11. September 2001 stellte die Allianz dann aber vor eine Situation, die jenseits der Vorstellungswelt der NATO war: Sie musste mit einem Angriff auf die USA fertig werden, obwohl in den 52 langen Jahren ihrer Existenz die Schutzgarantie des Bündnisses doch immer nur als eine Garantie der USA für Europa gesehen worden war. Die NATO reagierte gut und schnell und erklärte ohne Einschränkung den Eintritt des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags. Es blieb allerdings bis heute bei der deklaratorischen Politik, obwohl der Einsatz der Luftraumüberwachungsflugzeuge der NATO vom Typ AWACS über amerikanischem Hoheitsgebiet in der dortigen Öffentlichkeit eine ungemein positive Resonanz fand. Dennoch wurde deutlich, dass die NATO in solchen Lagen nur eingeschränkt agieren kann. Sie müsste global agieren, aber sie hat dazu weder den politischen Willen noch die notwendigen Instrumente. Man muss deshalb Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ärgerlicherweise zustimmen, wenn er sagt: Ruft uns nicht an, um Hilfe anzubieten, wartet, bis wir euch sagen, was wir brauchen.

Die USA bildeten deshalb aus NATO-Staaten und anderen, darunter vor allem Russland, eine Koalition für den Kampf gegen den Terrorismus. Die NATO wurde der Welt als Bündnis vorgeführt, das die USA nicht brauchten, und Europa saß wieder einmal zwischen zwei Stühlen, dem amerikanischen und dem russischen. Der 11. September brachte der NATO mit ihrer raschen Entscheidung zwar einen weiteren Erfolg, aber gleichzeitig wurde dieser Tag zum Beginn der nächsten, noch nicht beendeten Krise. Russen und Amerikaner könnten, das ist die neue Gefahr, über die Köpfe der in ihren Bedenken schwelgenden Europäer hinweg unter sich ausmachen, wohin die Reise geht.

Krisen und Erfolge

Krisen gehören zur Geschichte der NATO wie ihre Erfolge. Oftmals waren diese Krisen Ausdruck der unterschiedlichen Interessen von Amerikanern und Europäern, oft waren sie auch Ausdruck der allein durch die Geographie bedingten unterschiedlichen Wahrnehmung von Ereignissen und Entwicklungen, und manchmal kam die unterschiedliche Kultur des Handelns von Europäern und Amerikanern hinzu.

Die europäischen Verbündeten sind es aus langer geschichtlicher Erfahrung gewöhnt, erst nach Beratung mit Partnern zu entscheiden und neigen allein deshalb dazu, erst alle Mittel der Diplomatie auszuschöpfen, bevor sie zu den Waffen greifen.Die USA dagegen neigen dazu, Entscheidungen im Stillen vorzubereiten und dann so zu handeln, dass das Problem möglichst schnell gelöst wird. Sie sind daher im Grundsatz eher als die Europäer bereit, militärische Mittel zu nutzen, obwohl in den USA wie in Europa der Einsatz von militärischer Macht als „last resort“, als letztes Mittel der Politik, gesehen wird. Die nach dem Kalten Krieg zur unangefochtenen Überlegenheit gewachsene militärische Macht der USA erleichtert es, so vorzugehen, denn niemand kann die USA militärisch besiegen; sie brauchen im Grundsatz, zumindest für zeitlich und räumlich begrenzte Operationen, keine Hilfe.

Überdies sieht jede amerikanische Regierung zuerst nationale Interessen und sucht sie durchzusetzen. Das hat sie im Übrigen mit den Regierungen ihrer Verbündeten gemeinsam. Sind die internationalen Partner stark, dann geht man in Washington geschmeidig vor, sind sie schwach, dann gibt man ihnen die Linie vor. Tritt das aber ein, dann werden die USA regelmäßig des Unilateralismus geziehen, der in Wirklichkeit Ergebnis der Schwäche der Partner Amerikas ist. So auch in der gegenwärtigen Krise der NATO, in der auf Seiten der Europäer nicht nur die Klage über unilaterales Vorgehen transatlantische Gräben aufreißt, sondern auch die Hybris mancher Europäer, die glauben, sich auf längst vergangene europäische Überlegenheit stützen zu können und den USA aus einer Position der Schwäche heraus Vorgaben machen zu müssen. So protestiert Europa einmal mehr undifferenziert gegen die Forderungen der USA, die NATO müsse mehr tun, müsse Fähigkeiten erwerben. Wie immer in Europa ist der Protest pauschal und leugnet die eigenen Defizite; wie immer glauben die Europäer, alles besser zu wissen, sind aber in ihrer Zerstrittenheit nicht in der Lage, es auch nur ein Jota besser zu machen.

Verschärfend kommt aber diesmal hinzu, dass Europa gegenwärtig Gefahr läuft, militärisch so weit abgehängt zu werden, dass es in der Tat schon bald keine nennenswerten Beiträge zu gemeinsamen Operationen mehr wird leisten können. Für jedermann sichtbar wird dies in den Verteidigungsausgaben, die in den USA, mit steigender Tendenz, konstant über drei Prozent des Bruttosozialprodukts liegen, bei der Mehrzahl der NATO-Partner, mit weiter fallender Tendenz, hingegen deutlich unter zwei Prozent. Das Schlusslicht Europas, Deutschland, gönnt sich sogar den Luxus, nur geringfügig mehr als ein Prozent für Verteidigung auszugeben. Ermahnungen durch die USA halfen ebenso wenig wie gemeinsam eingegangene, feierliche Verpflichtungen der Staats- und Regierungschefs, die Streitkräfte zu modernisieren.

In den USA scheint daher die Überzeugung zu wachsen, dass man echten Beistand von der NATO kaum erwarten kann. Die USA waren niemals ein monolithischer Block, wenn es um Fragen der Sicherheitspolitik ging, doch diesmal scheint sich eine alle Lager überwölbende Überzeugung zu bilden, dass das Bündnis nicht zu gebrauchen ist. Der Wille, den Kampf gegen den Terror weitgehend allein auszufechten und sich von niemandem reinreden zu lassen, nimmt deshalb zu.

Andererseits gibt es viele Amerikaner, die nur zu gut wissen, dass die lange, globale Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und anderen Formen asymmetrischer Reaktionen noch lange nicht entschieden ist und auch von den USA letztlich doch nicht allein gewonnen werden kann. Der aus dem schnellen scheinbaren Erfolg in Afghanistan geborene Übermut der Unilateralisten, der erst kürzlich zu dem aberwitzigen Vorschlag führte, man könne Irak mit einer Kombination aus Luftangriffen, ein paar Special Forces und einheimischen Hilfstruppen besiegen, wird schon bald von der Bedachtsamkeit der Multilateralisten abgelöst werden, die wissen, dass auch die beinahe übermächtigen USA Verbündete brauchen, Verbündete, die nicht nur über angemessene Mittel und Fähigkeiten verfügen, sondern die vor allem mit den USA gemeinsame Überzeugungen teilen.

Die Zukunft der NATO

Es hat daher in den USA eine Diskussion über die Zukunft der NATO und ihre Relevanz eingesetzt. Dabei scheinen sich drei Modelle herauszuschälen:

–Modell 1: Die NATO hat ausgedient, die Zukunft gehört einer Aufgabenteilung, in der die USA für den Kampf und die Europäer für die Finanzierung zuständig sind.

–Modell 2: Die NATO bleibt zentrales Bündnis, aber es gibt eine neue Aufgabenteilung: Die USA übernehmen die Kampfaufgaben und die Verbündeten stellen die nach einer Intervention notwendigen Friedenstruppen.

–Modell 3: Die NATO beschließt beim Gipfel von Prag im November 2002, dass der weltweite Kampf gegen den Terrorismus zu ihren zentralen Aufgaben gehört – was nichts Revolutionäres wäre, denn das Strategische Konzept erlaubt diese Auslegung bereits –, und sie beschließt ein neues Modernisierungsprogramm, dessen Verwirklichung die Verbündeten in die Lage versetzen würde, an der Seite der USA im globalen Kampf gegen den Terrorismus eine tragende Rolle zu übernehmen.

Ein viertes Modell, das die Europäer einführen könnten, die NATO ausschließlich auf die bisherige kollektive Verteidigung zu beschränken, hat keine Chance auf Zustimmung. Aus amerikanischer Sicht wäre dies die Fortsetzung des Trittbrettfahrerverhaltens der Europäer, das den USA die Hauptlast der gemeinsamen Verteidigung aufbürdet und dies für eine NATO, die möglicherweise beschließt, bis zu sieben neue Mitglieder aufzunehmen. Die USA würden nur zusätzliche Verpflichtungen übernehmen, ohne echten Nutzen vom Bündnis zu haben. Hinzu käme, dass dieses Modell nicht gerade in eine Landschaft passt, in der das Bündnis einen Neuanfang mit Russland sucht. Man kann daher annehmen, dass Modell vier die Gipfelvorbereitung nicht überleben wird.

Betrachtet man die drei verbleibenden Modelle, dann ist schnell offenkundig, dass das zweite den Verbündeten erlauben würde, zunächst einmal so weiterzumachen wie bisher. Dieser Ansatz dürfte aber schon bald zu Spannungen und Belastungen in der Allianz führen, denn er ist für die Verbündeten der USA teuer, kann rasch zu Verlusten führen und bietet letzten Endes doch keinen nennenswerten Einfluss auf amerikanisches Vorgehen. Auch lädt es die USA geradezu ein, sich über den Kopf der Europäer hinweg mit den Russen zu einigen.

Noch deutlicher ist dies beim ersten Modell: Kein Einfluss – zu hohe Kosten; das war das deutsche Modell während des Golf-Krieges. Es gibt kaum eine ernst zu nehmende Stimme, die eine Wiederholung empfiehlt, weder in Deutschland noch sonst irgendwo. Außerdem würde dieser Ansatz früher oder später zum Ende der NATO führen. Ein solches Vakuum in einem noch nicht völlig befriedeten Europa zu schaffen, kann weder im Interesse der USA noch der Europäer liegen. Damit bietet nur das dritte Modell den Europäern ein gewisses Maß an Mitsprache und Einfluss. Es ist ein Ausweg aus der Krise, der allerdings zusätzliche Anstrengungen erfordert. Dies wäre denkbar, sofern es gelingt, einen Weg zu finden, der von den Europäern Machbares verlangt.

Steigerungsraten bei den Verteidigungsausgaben, wie sie Präsident George W. Bush für das neue Haushaltsjahr verkündet hat, sind wegen der bevorstehenden Herkulesaufgabe der EU-Erweiterung in Europa nicht machbar und angesichts der allgemein als friedlich empfundenen Lage in Europa nicht vermittelbar – dies ist ein fundamentaler Unterschied zu der Befindlichkeit der Amerikaner, die sich im Krieg sehen.

Es muss also ein Weg gefunden werden, der den Verbündeten, sozusagen als Lohn für ihre Anstrengung, mehr Mitsprache und mehr politischen Einfluss einräumt. Dieser Ansatz muss aber zugleich sicherstellen, dass zum einen die NATO im Zentrum des Denkens in den USA bleibt und damit zur bevorzugten Option bei der Krisenbewältigung wird und dass zum andern die Anstrengungen der europäischen Verbündeten auch der EU bei der Aufstellung ihrer Eingreiftruppe zugute kommen. Den hierfür geeigneten Weg zu finden, dürfte für die NATO und ihre Mitglieder bei der Vorbereitung auf den Gipfel von Prag die Aufgabe schlechthin werden.

Transformation

Prag muss daher ein Gipfel werden, auf dem stärker als die Erweiterung um neue Mitglieder das transatlantische Verhältnis, die Rolle der NATO in der Abwehr globaler Risiken und die Modernisierung der NATO-Streitkräfte diskutiert werden müssen. Herausgefordert ist dabei zuerst NATO-Europa, das sich entscheiden muss, ob es seine Streitkräfte modernisiert oder seine eigene Marginalisierung herbeiführt. Aber auch die USA werden sich entscheiden müssen, denn die Modernisierung der verbündeten Streitkräfte kann nur gelingen, wenn die USA bereit sind, ihre Verbündeten in deutlich stärkerem Maße als bisher an amerikanischer Technologie teilhaben zu lassen.

Prag dürfte damit ein Gipfel werden, dessen wahres Ergebnis die Transformation der NATO in eine zum Handeln über ihre unmittelbare Region hinaus befähigte globale Allianz sein wird. Zusätzlich muss die NATO in Prag aber zwei weitere Fragen beantworten: Sie muss über die Aufnahme weiterer Mitglieder entscheiden, und sie muss versuchen, ihr Verhältnis zu Russland weiterzuentwickeln. Dazu hat sie erste Schritte beim Treffen der Außenminister in Reykjavik im Mai 2002 getan und diese am 28. Mai in Rom feierlich besiegelt.

Die Aufnahme neuer Mitglieder ist geboten, weil die Aufgabe der Stabilisierung Europas, die Vision des ganzen und freien Europas, noch nicht wahr geworden ist und weil die NATO mit ihren Beschlüssen von Washington Erwartungen geweckt hat. Die Entscheidung wird nahezu ausschließlich von politischen Gesichtspunkten bestimmt werden, aber sie bedeutet eben auch, dass die Allianz die Schutzverpflichtung für ein größer werdendes Gebiet übernimmt, obwohl die künftigen Mitglieder anfänglich eher Empfänger denn Produzenten von Sicherheit sein werden. Dies ist übrigens ein weiteres Argument dafür, über die militärischen Fähigkeiten der NATO bei diesem Gipfel zu beraten. Täte man es nicht, würde die NATO zunehmend Gefahr laufen, hohle Garantien zu geben. Das aber produziert eher Instabilität denn Stabilität; die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa belegt dies. Es bleibt zu hoffen, dass die NATO in Prag zumindest die drei baltischen Staaten und Slowenien aufnehmen wird. Slowenien wäre im Grunde genommen schon 1999 aufnahmereif gewesen, und die drei baltischen Staaten sollten die Gewissheit bekommen, dass sie in der Familie der freien Völker Europas nun eine dauerhafte Heimat finden.

Mit der Aufnahme von Estland, Lettland und Litauen würde es auch einfacher, den Neubeginn im Verhältnis zu Russland zu einem Erfolg zu machen. Die Entscheidung würde zeigen, dass die NATO niemandem ein Mitentscheidungsrecht in ihren internen Angelegenheiten gibt. Damit sollte es möglich sein, das neue Instrument der Entscheidungsfindung im Zwanzigerkreis, das heißt die 19 NATO-Staaten und Russland, so zu nutzen, dass die NATO und Russland anfangen könnten, in den in Reykjavik klar definierten Bereichen von gemeinsamem Interesse gemeinsam zu entscheiden. Russlands legitimem Wunsch, in Fragen der europäischen Sicherheit eine maßgebliche Rolle zu spielen, würde damit ebenso entsprochen wie dem Wunsch der NATO, Sicherheit mit und nicht gegen Russland zu suchen. Die NATO behielte durch die Begrenzung russischer Mitentscheidung den Charakter eines Verteidigungsbündnisses bei und würde nicht zu einer Art OSZE mit begrenzter Mitgliedschaft. Die NATO darf in dieser Frage der Mitentscheidung keine faulen Kompromisse eingehen, das Maximum ist die nun beschlossene russische Teilnahme am Entscheidungsprozess in bestimmten, klar begrenzten Feldern.

Die NATO wird Prag gestärkt überleben. Sie sollte dort aber auch deutlich machen, dass sie ihre stabilisierende Aufgabe in und um Europa als noch nicht beendet ansieht. Ihre Tür sollte offen bleiben, denn die Finalität eines ganzen und freien Europas wird in Prag noch nicht erreicht. Sie sollte sich allerdings Zeit nehmen und den Schritten von Prag eine Phase der Konsolidierung folgen lassen. In ihr könnte sie die Ausgestaltung ihrer Strategie im Sinne einer „Grand Strategy“ betreiben, die Partnerschaft für den Frieden mit Schwerpunkt Balkan und Zentralasien ausgestalten und ihre Strukturen mit dem Ziel größerer Beweglichkeit anpassen.

Aber auch aus einem anderen Grund wird die NATO aus dem Gipfel von Prag gestärkt hervorgehen. Die Amerikaner wissen sehr wohl, dass die NATO ihnen Einfluss gibt in Europa, also bei dem wirtschaftlichen Konkurrenten, der als einziger die theoretische Möglichkeit hätte, ein konkurrierender Hegemon zu werden. Da die USA das Entstehen eines neuen Hegemon nicht zulassen wollen, ist die beste und sicherste Methode, auf ihn Einfluss zu nehmen. Es ist die Formel Bismarcks, nicht zuzulassen, dass jemand Bündnisse gegen die Vormacht schmiedet. Die NATO ist so gesehen ein nahezu vollendetes Bismarcksches Produkt. Sie bleibt das Bündnis, an dem die USA festhalten werden. Doch wissen die Europäer und Kanadier ihrerseits nur zu genau, dass sie die anstehenden Aufgaben nur mit und niemals ohne Amerika bewältigen können und dass es keine Sicherheit in einer Zeit globaler Risiken ohne die USA geben kann. Sie werden deshalb ebenfalls die NATO für unverzichtbar erklären. Beide, Amerikaner wie Verbündete, werden es schließlich mit Winston Churchill halten, der sinngemäß einmal sagte, dass es in hohem Maße ärgerlich sei, mit Verbündeten Krieg führen zu müssen, aber eben doch um vieles besser, als ohne Verbündete allein kämpfen zu müssen.

Eine Phase neuen Blühens aber wird die NATO nur erleben, wenn den Worten von Prag, die gewiss wohl klingen werden, diesmal Taten folgen. Diese Taten werden schnell sichtbar werden, denn sie müssen zu deutlichen Veränderungen bei den wesentlichen Instrumenten der NATO führen, bei ihrer Kommandostruktur, die beweglicher werden muss, und bei ihren Streitkräften, die modern und interoperabel sein müssen. Hier besteht erheblicher Handlungsbedarf.

Die NATO ist gut beraten, unter dem Brüsseler Hauptquartier, das in seiner Effizienz zu steigern und auf die Führung in Krisen auszurichten ist, zwei Strategische Kommandos und die Ebene der Regionalen Kommandos beizubehalten. Damit erhält sich die NATO die Flexibilität, in mehr als einer Krise handeln zu können und bewahrt sich die nötige Durchhaltefähigkeit für Einsätze von längerer Dauer.

Unterhalb der Regionen sollte es nur noch die Durchführungsebene geben, am besten in Form der bereits in den neunziger Jahren beschlossenen zwei Combined Joint Task Forces.   Sie sollten als schnell verfügbare, voll einsatzbereite, in ihrer Größe modular beliebig groß gestaltbare Truppenteile konzipiert werden und sollten die Integration amerikanischer Truppen vorsehen, aber auch ohne diese einsetzbar sein. Die CJTF könnten somit zugleich den Kern europäischer Eingreifkräfte bilden, die nach Ergänzung durch Truppen europäischer Staaten, die nicht Mitglied der NATO sind, als EU-Einsatzkräfte operieren könnten.

Dieser Weg, der relativ wenig Geld kostet und zugleich Europa stärker zusammenwachsen lässt, würde die Europäer zu Verbündeten machen, auf die man in Washington hört, weil man sie braucht. Dies würde Europa erlauben, seine vielen, guten nichtmilitärischen Beiträge wirkungsvoll einzubringen.

Die NATO steht nicht vor dem Aus, doch auch nach Prag wird sie ein Bündnis im Wandel bleiben, dann allerdings ein globales Bündnis. Es wird Anpassungen des Strategischen Konzepts geben, weil man über das Verhältnis von Abschreckung zu Verteidigung weiter nachdenken wird. Es mag irgendwann eine weitere Erweiterungsrunde geben, bis das Ziel eines ganzen und freien Europas erreicht ist, dessen Staaten Mitglieder der NATO und der EU sein sollten. Es dürfte auch Schritte geben, um den Euroatlantischen Partnerschaftsrat wirkungsvoller zu machen, was sinnvoll ist, wenn man an die unruhige Region des Kaukasus, aber auch an Zentralasien denkt. Man wird das Verhältnis zu Russland weiterentwickeln, und man mag eines fernen Tages, wenn Europa handlungsfähig geworden ist, sogar daran denken, wie es Stimmen in Frankreich allerdings verfrüht vorschlagen, eine neue transatlantische Erklärung zu verfassen. Bis dahin sollte man den NATO-Vertrag besser so belassen, wie er ist und immer wieder voller Bewunderung die einfache und klare Sprache dieses Vertrags lesen, vor allem aber alles tun, um das transatlantische Verhältnis gesund und belastungsfähig zu erhalten. Kommt dann die nächste Krise, dann sollte es in Washington wie in Brüssel auf die Frage, wer sie denn meistern soll, nur eine Antwort geben: Die NATO, wer denn sonst!

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2002, S. 7 - 14.

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