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19. Dez. 2013

Dabei sein ist alles

Wer bestimmt die EU-Reformdebatte – und mit welchen Zielen und Mitteln?

Mit der bevorstehenden Vertiefung der Euro-Zone stellt sich gerade für die Nicht-Euro-Länder die Frage, was die Mitgliedschaft in der Europäischen Union künftig noch bedeutet. Sie überwölbt zugleich die europäische Reformdebatte. Nicht jeder Vorschlag aus angeblich „unberufenem Munde“ ist dabei kontraproduktiv – im Gegenteil.

Die EU befindet sich in einer Prägephase, und in ihrem Zuge verschiebt sich die Bedeutung von „Mitgliedschaft“ in der Europäischen Union: Was heißt es heute, Mitglied der EU zu sein? Sind alle gleich, oder manche „gleicher“? Und wer bestimmt eigentlich darüber, was ein „echtes“ EU-Mitglied ist? 

Die Frage nach ihrer EU-Identität stellt sich dabei nicht nur den Mitgliedsländern der Euro-Zone, die bei der Reform ihres gemeinsamen Währungsgebiets mit ganz neuen Problemen geteilter Souveränität, Akzeptanz und demokratischer Legitimation konfrontiert sind. Auch die EU-Identität von Ländern außerhalb der Euro-Zone ist von diesen Entwicklungen betroffen: Werden die Nicht-Euro-Länder bald überhaupt noch als vollwertige EU-Mitglieder angesehen, mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten, oder verlieren sie langsam aber sicher den Anschluss an die stärker integrierte Währungsunion? Und büßen sie ihre Mitspracherechte bei Entscheidungen ein, die sie am Ende als Binnenmarktteilnehmer doch betreffen werden? Vor diesem Hintergrund muss man grundsätzlich fragen, was denn zukünftig die Mitgliedschaft der EU im Kern ausmacht – die Zugehörigkeit zur vertieften Währungsunion und ihren Entscheidungsprozessen? Zum Binnenmarkt? Zur Wertegemeinschaft? 

Spaltpilze der Union

Die Frage nach der EU-Identität zu stellen, scheint auf den ersten Blick akademisch und künstlich. Schließlich ist eine der wesentlichen Stärken des europäischen Integrationsprozesses, dass er oft keine abschließenden Antworten auf Tiefe und Reichweite der europäischen Einigung geben kann oder geben muss. Diese Offenheit hat es der „immer engeren Union“ bis heute ermöglicht, Ländern mit ganz unterschiedlichen Ambitionen einen Platz zu bieten. Nun aber drohen Begriff und Substanz der EU-Mitgliedschaft zu Spaltpilzen für die EU zu werden. Was ist passiert, dass um den Charakter, um Sinn und Zweck der EU ein Kampf um die Deutungshoheit entbrannt ist?

Im Kern geht es um das alte Thema, was die EU leisten soll. Zuletzt hat sich dieses Thema auf die Vereinbarkeit einer stärker integrierten Euro-Zone mit einer leistungsfähigen Union der 28 Mitglieder zugespitzt. Mit dem Druck auf die Euro-Zonen-Mitglieder, ihre Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft zu vertiefen, ist eine für die Union existenzielle Frage aufgeworfen: Wie viel Ungleichzeitigkeit kann das System aushalten? Denn aufgrund der absehbaren Abkoppelung der Euro-Zone vom Rest der EU besteht die Gefahr, letztlich miteinander konkurrierende Systeme zu schaffen, was den Binnenmarkt als solches untergraben könnte. 

Es ist also nur verständlich, dass Mitgliedstaaten auf diese Entwicklungsperspektive reagieren und sich in die Debatte einmischen, worum es im europäischen Einigungsprojekt eigentlich in Zukunft gehen und welche Union am Ende der Aufräumarbeiten stehen soll.

Dürr, legalistisch, technisch

Regierungen und andere Beteiligte bringen sich dabei ganz unterschiedlich ein. Beispiel Deutschland: Bundeskanzlerin Angela Merkel nennt es „Auf-Sicht-Fliegen“ – in Berlin kommt die Europadebatte dürr, legalistisch und technisch daher. „Vertragspartnerschaften“, „Bankenabwicklung“, „Stabilitätsunion“ sind nur einige aktuelle Schlagworte. Dass mit der Reform der Euro-Zone nicht nur ein vertraglicher und institutioneller Umbau einhergeht, sondern dass es um einen Wettstreit von Modellen über die künftige Ausrichtung des wirtschaftlichen und sozialen Europas und die innere Verfasstheit der Union als solcher geht, bleibt in der deutschen Debatte unterbelichtet. 

Dazu haben auch der blutleere Bundestagswahlkampf und die anschließenden Koalitionsverhandlungen beigetragen. Da wurde das Thema Europa als Unterpunkt der Arbeitsgruppe „Finanzpolitik“ versteckt – was Bände über das Europabild der neuen Bundesregierung spricht. 

Die Politik will das so: Innenpolitisch, so die Linie, die bislang mit erstaunlichem Erfolg gefahren wurde, soll möglichst wenig Staub aufgewirbelt werden. So wird die EU- beziehungsweise Euro-Zonen-Reform unter der Aufmerksamkeits- und Aufgeregtheitsschwelle gezimmert. Berlin ist dabei auf europäischer Ebene in der komfortablen Position, als maßgebliches Mitglied der Euro-Zone großen Einfluss bei der Gestaltung der Reformagenda zu genießen. Vielerorts ist sogar vom „deutschen Diktat“ die Rede – eine keinesfalls unumstrittene, aber im Kalkül der neuen Regierung Merkel gute Ausgangslage, um „ihre“ Euro-Zone 2.0 zu formen.

Andernorts kämpft man um Zugang zum Club der Entscheider. In Großbritannien tobt seit Monaten eine derart ideologisierte Europadebatte, dass sich nicht nur zart besaitete Kontinentaleuropäer die Augen reiben. Im Januar 2013 kündigte Premierminister David Cameron unter wachsendem Druck seiner Konservativen Partei an, mit der EU über die Modalitäten der Mitgliedschaft seines Landes verhandeln zu wollen. Im Klartext heißt das: „Weniger Europa“ und soll dem Premier helfen, nach der erhofften Wiederwahl 2015 auf der Grundlage dieser zu erzielenden Einigung ein Referendum zum Verbleib Großbritanniens in der EU zu gewinnen. 

Dumm nur, dass sich London dabei erst einmal in der Außenseiterrolle wiederfindet. Kaum ein anderes EU-Mitglied hat momentan Zeit und Neigung, der britischen Regierung zu helfen, Teile ihrer wild gewordenen Führungselite und ihre irregeleitete öffentliche Meinung wieder einzufangen. Die schon 2012 von der britischen Regierung begonnene Überprüfung der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten stößt in Europas Hauptstädten auf Sachebene vielleicht noch auf höfliches bis wohlwollendes Interesse, wird aber politisch als Stinkbombe betrachtet. 

Aus der Euro-Zonen-Reformdebatte, so ist in Berlin und Paris zu hören, hätten sich die Briten auf diese Weise ja nun wirklich selbst herauskatapultiert. Wie bekommt Cameron dann überhaupt noch eine Gelegenheit für Rückverhandlungen – also einen von allen EU-Ländern akzeptierten Verhandlungsprozess, in den London dann seine Forderungen einbringen kann? „There is nothing wrong about ambition“, sagte sich die britische Regierung und zäumte das Pferd von hinten auf: Es wäre doch gelacht, wenn sich in Kontinentaleuropa nicht Mitstreiter für die britische Reformdebatte finden ließen, wenn man seine Ideen nur etwas anschlussfähiger formulierte. Und London zog mit Forderungen nach mehr Wettbewerbsfähigkeit, Bürokratieabbau und einer Stärkung der nationalen Parlamente ins Rennen. Wer kann schon ernsthaft gegen solche Reformvorschläge sein? 

Marginalisierung sieht anders aus

Agil, wie die Briten mit ihrer Public Diplomacy nun einmal sind, haben sie es inzwischen geschafft, dass man sich auf dem Kontinent jetzt mit ihrer Reformdebatte beschäftigt – jenseits der engen Zirkel von Politik und Diplomatie auch in Universitäten und Thinktanks, in den Leitmedien und auf Twitter. London wird in Kontinentaleuropa zwar weiterhin kritisch beäugt, schafft es aber immer wieder als Spieler an den Tisch. Marginalisierung sieht anders aus. 

Zur britischen Agenda gehört traditionell, die Zugehörigkeit zum Binnenmarkt als wesentliches Merkmal einer Mitgliedschaft in der EU zu betrachten. Deutschland positioniert sich anders und macht den Euro zum Bezugspunkt: Schließlich seien Großbritannien, Dänemark und eingeschränkt auch Schweden lediglich Ausnahmen. Denn alle neuen EU-Mitglieder hätten sich mit ihrem Beitritt bereits dazu verpflichtet, auch der Euro-Zone beizutreten, sobald sie die Konvergenzkriterien erfüllen. 

Das ist zwar faktisch richtig, und es ist nachvollziehbar, warum die Bundesregierung keinen Keil in die Union getrieben sehen will. Politisch ist die Sache jedoch komplizierter. Zwar ist Lettland zum Jahreswechsel beigetreten, und die Euro-Zone wächst. Aber es ist fraglich, wie lange es dauern wird, bis die Euro-Zone tatsächlich nahezu deckungsgleich mit der Zahl der EU-Mitglieder ist. In der Zwischenzeit dürfte es die Bundesregierung einige Mühen kosten, den Euro als wesentliches Kennzeichen einer EU-Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten. 

Warschauer Alarmglocken

Bei diesem Thema schrillen vor allem in Warschau die Alarmglocken. Polen ist ein inzwischen akzeptiertes Mitglied in der Führungsriege der EU-Länder. Gleichwohl ist Polen noch kein Mitglied der Euro-Zone. Was „EU-Mitgliedschaft“ ausmacht, wird deshalb in Warschau mit besonderem Interesse beobachtet und mitzugestalten versucht. 

Im Gegensatz zu Großbritannien genießt Polen vergleichsweise gute Ausgangsbedingungen, die Reformdebatte zu prägen. Mit Deutschland hat es durch seine Geschichte besonders belastbare Beziehungen und ist inzwischen Gesprächspartner auf Augenhöhe. Im Weimarer Dreieck sieht sich Warschau zudem an der Seite von Paris. Politisch-strategisch also ist Warschau ganz nah dran am Motorenduo der Euro-Zone. 

Und doch muss Polen fürchten, wirtschaftlich und institutionell nicht so einfach Anschluss an die vertiefte Währungsunion halten zu können, auch wenn es sich zu den neuen Reformverträgen bekannt hat. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski setzte für Warschau effektvoll ein Zeichen in der Zukunftsdebatte, als er die damalige Bundesregierung im November 2011 in Berlin mahnte, er fürchte deutsche Macht weniger als deutsche Zurückhaltung. Die Rede hallt bis heute nach, Warschau muss aber dennoch weiterhin daran arbeiten, um im Kern des Geschehens zu bleiben. Unter anderem deshalb baut Polen seine Zusammenarbeit mit Frankreich in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus, nach dem Motto: Wenn schon keine Euro-Zonen-Mitgliedschaft, dann doch zumindest ein Mitglied mit Gewicht in einem weiteren für die EU wesentlichen Politikfeld. Und den Umarmungsversuchen der Briten hat sich Warschau bis jetzt weitgehend entzogen – vielmehr hat ihnen Sikorski in seiner Blenheim-Rede im September 2012 die Leviten gelesen. Es wäre auch politisch äußerst unklug, wenn in Berlin und London jetzt Zweifel an der europäischen Orientierung Polens aufkämen.

Diese Beispiele aus Deutschland, Großbritannien und Polen zeigen, dass die Frage, wer die EU-Debatte bestimmt, längst nicht so unschuldig ist, wie sie klingt. Letztlich geht es um die Machtfrage, um den Zugang zu Entscheidungsprozessen und Ressourcen der künftigen EU. 

Aber nicht nur Regierungen, auch Parteien, Verbände und die organisierte Zivilgesellschaft mischen sich inzwischen sehr viel stärker in Reformdebatten ein und versuchen dabei, die Debatte um die „neue“ EU entlang ihrer Interessen mit zum Teil erheblichen finanziellen Ressourcen zu besetzen. Im Vergleich zu früheren Reformdebatten multiplizieren sich damit die Akteure und Arenen. 

Wer darf mitreden?

Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Politisierung der Europa­politik in den vergangenen Jahren. Vereinfacht gesprochen fährt Angela Merkel nicht mehr nur als Regierungschefin eines wichtigen EU-Mitgliedstaats in schwarzer Limousine zum Stelldichein mit ihren Amtskollegen am Rondpoint Schuman vor, sondern als Spitze einer Regierungskoalition, die zuhause nicht zuletzt wegen ihrer Europapolitik unterstützt wird. Das Wissen und die Aufmerksamkeit um das, was an den europäischen Verhandlungstischen ausgehandelt wird, sind im Zuge der Krise in der Euro-Zone enorm gewachsen. 

Für die Demokratisierung der Europapolitik ist das zweifellos begrüßenswert. Heute gibt es in ganz Europa eine sehr viel größere Vielfalt an Informationen und Meinungen über die EU, ihre Politiken und die laufenden Reformen. Öffentlichkeit spielt deshalb eine sehr viel größere Rolle im Kalkül der Akteure. „Europe matters“ – jetzt auch für den Machterhalt daheim.

Kreuz und quer durch Europa werden Öffentlichkeiten inzwischen auch kollektiv mobilisiert. Man denke an die europaweit geführte Debatte zum Thema „Sparen versus Wachstumsimpulse“, die in Brüssel verstärkt zu Gegenwind für die Bundesregierung geführt hat. Verbunden mit dieser neuen Dynamik der Reformdebatte ist auch die Frage, wer darin als legitimer Akteur gilt und weshalb – und umgekehrt, welchen Akteuren es an Legitimität für die EU-Reformdebatte fehlt oder zu fehlen scheint. 

Den Briten wird vielerorts ein konstruktives Interesse an der Entwicklung einer Reformagenda für die EU über den eigenen Tellerrand hinaus abgesprochen. Stimmt das eigentlich? Es kommt natürlich darauf an, welche Art von EU man im Sinn hat. London zweifelt beispielsweise offen das Ziel einer „immer engeren Union der Völker“ aus den Gründungsverträgen an. Das ist ein Schock für diejenigen, die aus nachvollziehbaren Gründen die Verträge als Kern und Richtschnur für das Handeln in der Union sehen. 

Bis vor kurzem hielten sich diese Verfechter des alten Europagedankens in der überwältigenden Mehrheit. Heute ist nicht mehr ausgemacht, dass sich Regierungen und vor allem Bevölkerungen gemeinsam zu diesem Ziel bekennen würden. Das macht sie nicht notwendigerweise zu Feinden der EU. Auch wenn Cameron maßgeblich die eigene Wiederwahl antreibt, macht dies die Fragen, die London aufwirft, nicht weniger relevant. Man muss ja am Ende nicht der gleichen Meinung sein – aber Ideenarmut kann sich die EU jetzt nicht leisten. Wer sich tiefen Reformdebatten verweigert, wird Europa nicht aus der Krise führen. Im Gegenteil: Er wird dem wachsenden Unbehagen vieler Menschen weiter Raum geben. 

Schockwellen zu erwarten

Besonders stellt sich diese Frage angesichts der Europawahlen im Mai diesen Jahres. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien und Bewegungen gewinnen in Europa seit Jahren an Boden. Sie alle über einen Kamm zu scheren wäre unredlich, aber viele von ihnen stellen das „Modell EU“ radikal in Frage. 

Oft präsentieren sie sich als alleinige Träger echter Alternativen und versuchen, die Reformdebatte für sich zu usurpieren. Auch wenn sie selten in der Sache an einem Strang ziehen, haben sie das Potenzial, im Mai an den Urnen Schockwellen durch die europäischen Hauptstädte zu schicken. Marine Le Pen etwa, die mit dem Front National stärkste Kraft in den anstehenden französischen Kommunalwahlen werden will, hat sich kürzlich mit Geert Wilders als gemeinsame rechte Kraft für die Europawahl in Den Haag präsentiert.

Die reformorientierten Kräfte, die eine andere EU wollen, müssen jetzt deutlich machen, wo der Übergang zwischen einer „anderen EU“ und der Kampfansage an ihre grundlegenden Werte und Ziele liegt. Inzwischen ist schon einiges an Boden verloren gegangen. 

Das beste Argument, um die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und anderswo bei den Europawahlen an die Urnen zu bringen, ist, ihnen zu zeigen, dass es in der EU jetzt um Richtungsentscheidungen geht. Dass es eine ganze Bandbreite von legitimen und interessanten Alternativen in der aktuellen EU-Grundsatzdebatte gibt, über die gestritten werden muss. Dass es aber auch eine wachsende Anzahl von Kräften gibt, die zwar vorgeben, ein „anderes Europa“ erstreiten zu wollen, aber in Wirklichkeit gar kein Interesse an einem verflochtenen Europa haben.

Almut Möller leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 34-39

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