Buchkritik

01. Mai 2015

Chaos im Club

Wirtschaft unter Druck, Demokratie in Gefahr: Wie ist die EU zu retten?

„Schlacht“, „Scheitern“, „Schicksal“: Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, wie tiefgreifend Europas Krise ist, muss nur auf die Titel einiger Bücher aus den vergangenen Monaten schauen. Doch die Risse im Gefüge der EU aufzuzeigen, ist das eine. Was die EU braucht, sind Strategien zu ihrer Stärkung. Welchen Beitrag leisten die Neuerscheinungen dazu?

Das „Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty wurde im vergangenen Jahr zum Bestseller. Jetzt ist unter dem Titel „Interventionen“ eine Sammlung von Kurztexten des französischen Ökonomen erschienen, in denen der Autor die „Schlacht um den Euro“ begleitet und kommentiert.

Die Sammlung umfasst die Jahre 2008 bis 2015; zunächst die Banken- und Finanzkrise, dann ihre einschneidenden Folgen für Europa in den Jahren danach und zuletzt weitreichende Vorschläge zur politisch-institutionellen Reform der Union. Pikettys Fazit: Die Euro-Zone kommt an einer Föderalisierung nicht vorbei – ohne einen solchen Schritt sei der Euro auf Dauer nicht zu retten.

Das ist nicht nur was für Piketty-Fans, denn der bringt vieles kurz und bündig auf den Punkt: Soll man die Banker retten? Wer wird von der Krise profitieren? Kann Wachstum uns retten? Klare Worte und Positionen sind ein erfrischender Kontrast zur vergleichsweise homogenen deutschen Europa-Debatte. Was der Autor sich an Themen über die letzten Jahre herausgepickt hat, ist allerdings nicht für jeden Leser gleichermaßen relevant. Da hat der Verlag wohl auch die Gunst der Stunde genutzt und an den Erfolg Pikettys angeknüpft. Wer eine systematische Aufarbeitung der Krise aus einer europäischen Perspektive erwartet, ist hier an der falschen Adresse.

Wie wir in Zukunft leben wollen

Sebastian Schoepp erinnert in seinem Band eindringlich daran, dass es in der gegenwärtigen Krise um weit mehr geht als um Zahlen – und zwar im Kern darum, wie wir in Zukunft in Europa leben wollen. „Mehr Süden wagen“ gibt den gebeutelten Krisenländern eine Stimme, die oft zu kurz kommt.
Im Süden, so die Überzeugung des Autors, liegen Potenziale für die Zukunft Europas, die bisher zu wenig Raum bekommen: „Der Norden könnte sich von den Werten des Südens nicht nur einiges abschauen; er könnte auch sein eigenes Lebensmodell kritisch hinterfragen.“ Klingt nach Klischee und Mittelmeer-Romantik? Vielleicht, aber damit würde man dem Band nicht gerecht.

In einer Mischung aus persönlichen Erfahrungen und der Analyse aktueller gesellschaftspolitischer Debatten eröffnet der Südeuropa-Experte der Süddeutschen Zeitung dem Leser die Gedankenwelt im europäischen Süden. Die leichte Feder des Journalisten macht das Buch dabei ebenso lesenswert wie das klare Bekenntnis zu mehr Empathie der Europäer für­einander, ja, für eine neue Form der convivencia: „Schwäbisches Tüftlertum meets mediterranen Optimismus; südliche Beweglichkeit, angereichert durch deutsche Regeltreue.“ Eine positive Botschaft, wie Europa sich selbst gemeinsam neu erfinden könnte – das ist wohltuendes Kontrastprogramm.

Schock-Mobilisierung

Joschka Fischer dagegen setzt auf Dramatik. Scheitert Europa? Eine Frage, die noch vor wenigen Jahren Schockwellen durch die Republik gesendet hätte. Auch Angela Merkel hoffte immer wieder auf ihr mobilisierendes Potenzial. Joschka Fischer schreibt, um alle diejenigen aufzurütteln, denen die EU auch für die Zukunft lieb und teuer ist (und geht ansonsten hart mit der Kanzlerin und Deutschlands unrühmlicher Rolle in der Euro-Krise ins Gericht).

Funktioniert aber diese Form der Schock-Mobilisierung nach all den Krisenjahren noch? Wie die EU und insbesondere die Euro-Zone in diese missliche Lage geraten konnten, ist inzwischen hinreichend beleuchtet, wenn auch in ganz unterschiedlichen Schattierungen. Was bis heute fehlt, ist eine überzeugende Antwort der Politik auf die Verwerfungen, die die EU an ihre Grenzen geführt haben.

Wer das Buch des ehemaligen Außenministers, der vor 15 Jahren mit seiner Humboldt-Rede Maßstäbe für die EU-Debatte gesetzt hat, in die Hand nimmt, wird das erste Kapitel vermutlich eher streifen, in dem der Autor nochmals die Ereignisse seit 2008 reflektiert („Der große Knall“).

Es schließen sich Betrachtungen zur Geschichte der Europäischen Union an. Fischer betont Europas besondere Rolle als „Kontinent der Geschichte“, die bis heute nachwirke. Kein Wunder, dass Fischer die Kosten eines Scheiterns hoch ansetzt – der Kostenvoranschlag als Warnung. Die Krise der EU nach innen sei auch deshalb so gefährlich, weil sich parallel eine Transformation des weltpolitischen Umfelds vollziehe.

Auch die jüngste Bedrohung durch Putins Russland findet hier Raum. Fischers überzeugende Lesart: Die Erweiterungspolitik der EU sei eben kein „lästiges Anhängsel, das die Ruhe EU-Europas stört und zudem teuer ist, sondern ganz im Gegenteil: Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Sicherheit der Europäischen Union, ja ihre entscheidende Machtprojektion nach außen in ihre geopolitische Nachbarschaft.“

Zuletzt dann: die Lehren aus den Krisen. Fischer sieht den einzigen Ausweg für die EU in einer vollen politischen Integration zumindest der Euro-Länder in den kommenden zehn Jahren – eine Neugründung hin zu den Vereinigten Staaten von Europa.

Fischer bleibt damit im Kern seiner Humboldt-Rede aus dem Jahr 2000 treu. Und wenn er dort prophezeite, dass die EU, „getrieben durch den Druck der Verhältnisse und der von ihnen ausgelösten Krisen“, vor die Alternative einer politischen Integration aller oder eines „Gravitationszentrums“ von EU-Ländern gestellt würde, ist mittlerweile klar: Es kann zunächst nur mit einer Gruppe von Mitgliedstaaten gelingen.

Als Aufbereitung der Krisenjahre für eine breitere Leserschaft und als Plädoyer für europäisches strategisches Handeln ist Fischers Band wertvoll. Alle diejenigen, die sich intensiver mit Europas Krisen beschäftigen, werden darin wirklich Neues vermissen.

Prinzipien auf dem Prüfstand

Einem für die Zukunft der EU nicht weniger existenziellen Thema widmet sich Jan-Werner Müller: der Aushöhlung demokratischer Prinzipien in EU-Mitgliedstaaten. Mit der Frage „Kann es innerhalb der Europäischen Union eine Diktatur geben?“ beginnt der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler seinen Essay; anschließend entwickelt er anhand des Beispiels von Victor Orbáns Ungarn einen Kriterienkatalog, wie sich die EU im Angesicht einer Aushöhlung der Demokratie verhalten sollte.

Die Frage, ob die EU überhaupt das Recht habe, in einem solchen Fall tätig zu werden, beantwortet Müller mit einem klaren „Ja“ und arbeitet sich dabei an den Argumenten derer ab, die die Union selbst für einen undemokratischen Verein halten.

Drei Kriterien müssten für eine Intervention der EU vorhanden sein: Es müssten, erstens, eindeutige Belege für politisches und rechtliches Regierungs-fehlverhalten vorliegen; zweitens müssten diese Verfehlungen systematischen Charakter haben; und drittens müsste es hinreichende Gründe für die Einschätzung geben, dass ein Land nicht mehr zur Selbstkorrektur fähig ist. Müller analysiert die bestehenden politischen und rechtlichen Instrumente der EU und zeigt ihre Defizite auf. Letztlich brauche die EU so etwas wie ein Frühwarnsystem, etwa eine Kommission, die die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien auch nach dem Beitritt eines Landes überwacht.

Allein die Hintergründe zum Fall Ungarn machen das Buch lesenswert. Das Verdienst des Bandes ist aber vor allem die klare Positionierung des Verfassers und der Beitrag zur Versachlichung des Problems. Schließlich ist die EU ein Club, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Voraussetzung für eine Mitgliedschaft sind. Was aber passiert, wenn man dann im Clubsessel sitzt? Eine Krähe hackt bekanntlich der anderen kein Auge aus. Die EU kann es sich schlichtweg nicht leisten, vor Entwicklungen wie in Ungarn die Augen zu verschließen. Oder, um mit den Worten Müllers zu sprechen: „Ist es (…) nicht eine zum Himmel schreiende Asymmetrie, wenn ‚Europa’ zwar beim Haushalten gnadenlos durchgreift, aber nichts zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaat tut?“

Almut Möller leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der DGAP.

Thomas Piketty: Die Schlacht um den Euro. Interventionen. München: C.H.Beck 2015, 175 Seiten, 14,95 €

Sebastian Schoepp: Mehr Süden wagen. Oder wie wir Europäer wieder zueinander finden. Frankfurt a.M.: Westend Verlag 2014, 224 Seiten, 17,99 €

Joschka Fischer: Scheitert Europa? Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, 160 Seiten, 17,99 €

Jan-Werner Müller: Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, 79 Seiten, 7,99 €

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 139-141

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