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01. Nov. 2020

Corona als Generalprobe

Die Erfahrungen mit Covid-19 sollten Regierungen dazu nutzen, Menschen besser vor Biowaffen zu schützen. Und in der Forschung muss Missbrauch verhindert werden.

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Bild: Soldaten in Schutzanzügen in Israel
Besser gewappnet gegen Biowaffen: Schutzübung im Tel Aviv Sourasky Medical Center.
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Die Covid-19-Pandemie ist nach bisherigem Wissensstand nicht im Labor entstanden. Der DNA-Vergleich zu Corona-Viren bei Fledermäusen und Schuppentieren spricht dagegen, dass SARS-CoV-2 gezüchtet wurde und dann versehentlich – oder gar absichtlich – freigesetzt wurde. Trotzdem lassen sich aus der Pandemie wichtige Lehren für den Schutz vor biologischen Waffen ableiten. Für Regierungen und Militärs ist die Corona-Krise eine Generalprobe, um sich auf die nächste und womöglich gefährlichere Pandemie besser vorzubereiten. Ob deren Erreger auf natürlichem oder künstlichem Wege entstanden sind, ändert nichts an der Notwendigkeit, sie zu identifizieren, die Krankheit zu behandeln und die Bevölkerung zu schützen.



Doch auch dafür, wie groß die Gefahr eines Bioangriffs überhaupt ist, hat die Covid-19-Pandemie Folgen. Einerseits schärft sie das Bewusstsein für die Gefahr und die Dringlichkeit besserer Vorbeugung. Andererseits führt sie Terroristen und staatlichen Akteuren vor Augen, wie wirkungsvoll biologische Waffen sein können und wie schlecht es auch in hochentwickelten Industriestaaten um den Schutz vor Erregern bestellt ist.



Der eklatante Mangel an Masken und Schutzkleidung und die Engpässe in den Krankenhäusern waren ein Schock. Die Bilder, wie Armeelastwagen Leichen aus Krankenhäusern in Norditalien abtransportierten, haben sich tief ins Gedächtnis eingegraben. Covid-19 verbreitete Angst, Leid und Ratlosigkeit, begründete schärfste Eingriffe in die Freiheiten der Menschen und entlarvte Versäumnisse und Schwächen der Regierungen.



Hinzu kommen der immense wirtschaftliche Schaden und schließlich die gesellschaftlichen Zerwürfnisse, die sich umso tiefer eingraben, je länger die Pandemie andauert. „An Covid-19 zeigt sich die Macht der Biologie, plötzliche Störungen hervorzurufen, Schaden zu verursachen und das Vertrauen in die Regierungen zu schwächen“, sagt James Revill, Wissenschaftler am United Nations Institute for Disarmament Research in Genf. In anderen Worten: Für Täter, die der menschlichen Gesellschaft den spektakulärsten, größtmöglichen Schaden zufügen wollen, ist die Corona-Krise eine Inspiration.



Allerdings ist die Herstellung von biologischen Waffen nicht nur sehr gefährlich, sondern auch extrem schwierig. „Wenn Sie sich das klassische biologische Agens vorstellen, dann ist das zum Beispiel Bacillus anthracis, der Erreger des Milzbrandes. Das ist ein Bakterium, das als weißer Schleim auf einer roten Platte wächst“, sagt Oberstarzt Roman Wölfel, Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr, im Interview. „Wenn man dieses Bakterium nun abkratzt, in großen Mengen produziert und zum Beispiel gefriertrocknet, sodass es als stabiles Pulver vorliegt, dann macht man daraus einen biologischen Kampfstoff. Aber eine biologische Waffe wird das erst, wenn man das Pulver in ein Ausbringungsmittel füllt. Ein Sprühgerät, eine Bombe oder etwas, das dafür sorgt, dass es effektiv ausgebracht wird und zum Beispiel in den Atemwegen möglichst vieler Menschen landet. Das ist dann die biologische Waffe.“



Auch das US-Militär wurde getroffen

Am ehesten sind es Staaten, die über die Expertise, die Ressourcen und die Zeit verfügen, um Erreger waffenfähig zu machen. Doch was nützt ihnen eine tödliche Krankheit, die auch die eigene Bevölkerung befällt? Und wie sollten sie den bösen Vorsatz rechtfertigen, der in der rechtzeitigen Impfung der eigenen Bürger erkennbar würde? Biologische Waffen – Bakterien, Viren und Toxine – sind durch das Biowaffen-Übereinkommen (BWÜ), dem 183 Staaten angehören, verboten. Dahinter steht ein äußerst starkes Tabu: Eine Regierung, die zu diesen Waffen griffe, brächte die ganze Welt gegen sich auf.



Und doch wachsen auch im staatlichen Bereich die Risiken. Ein Krankheitserreger, das wurde an Covid-19 deutlich, kann das Militär einer Weltmacht empfindlich einschränken. Ein Beispiel liefert der Corona-Ausbruch auf dem US-Flugzeugträger Theodore Roosevelt: Am 1. April wurde das Schiff in Guam nach einem öffentlichen Brandbrief des Kapitäns bis auf eine Notmannschaft für die Nuklearreaktoren evakuiert – weit über tausend Seeleute hatten sich infiziert. Es dauerte mehr als sechs Wochen, bis der für die internationale Einsatzbereitschaft der amerikanischen Streitkräfte wichtige Flugzeugträger in See stechen konnte.



Mit großem Interesse verfolgten Militärbeobachter auch die Befehle von US-Verteidigungsminister Mark Esper zum Schutz der Soldaten vor dem Virus. Esper ordnete Ende März an, mit Ausnahme des Teilabzugs aus Afghanistan weltweit alle größeren Truppenbewegungen zu stoppen. Nicht ganz so radikal reagierte die Bundeswehr auf Covid-19, aber auch sie reduzierte ihre Ausbildungsmissionen im Ausland auf ein Minimum.



Es wäre sicher falsch, aus diesen Ereignissen den Schluss zu ziehen, dass verfeindete Streitkräfte nun Biowaffen entwickeln werden, um ihren Gegner durch Infektionswellen lahmzulegen. Krankheiten, auch künstlich geschaffene, sind zu schlecht planbar, um sich für die Kriegsführung zu eignen. Gerade Großmächte verfügen über zuverlässigere Waffen. Sicher ist aber, dass die Streitkräfte überall auf der Welt in ihre Bioabwehr investieren werden, um auf natürliche oder künstliche Erreger besser vorbereitet zu sein.



Zunächst einmal ist das gut. In Deutschland hat das Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr den Auftrag, Verfahren und Maßnahmen zu entwickeln, um Soldaten vor biologischen Kampfstoffen zu schützen. Gleich zu Beginn des Covid-19-Ausbruchs leisteten die Münchner Wissenschaftler durch die Entwicklung sicherer Testverfahren einen zentralen Beitrag zur zivilen Pandemiebekämpfung. „Die zur Diagnostik eines Krankheitserregers eingesetzten Verfahren sind identisch, egal ob es um Sprühangriffe mit biologischen Kampfstoffen auf Soldaten oder um eine natürlich entstandene Pandemie geht“, erklärt Oberstarzt Wölfel. In der Corona-Krise hätten sich die vorhandenen diagnostischen Verfahren bewährt; die Bundeswehr-Forscher hätten angesichts von Engpässen beim medizinischen Material aber auch gelernt zu improvisieren.



Allerdings entstehen auch neue Risiken, wenn viele Länder ihre Forschung zur Abwehr von Biowaffen verstärken. Die Erreger, an denen gearbeitet wird, sind sehr gefährlich, und Erkenntnisse aus der defensiven Forschung können auch offensiv genutzt werden. „Es besteht die Gefahr von Laborunfällen und Fehlinterpretationen“, sagt Una Jakob, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. „Und es kann auch bewusste Anschuldigungen geben.“ Tatsächlich haben einige Regierungen den Verdacht geäußert, SARS-CoV-2 sei im Labor gezüchtet und versehentlich oder absichtlich freigesetzt worden. Die Anschuldigungen unterscheiden sich nur danach, in welchem Land dies passiert sein soll.



„Die Pandemie kann dazu führen, dass man künftig international enger zusammenarbeitet, um bessere Vorbereitungen zur Verhütung und Abwehr solcher Ereignisse zu treffen“, sagt James Revill vom UN-Institut für Abrüstungsforschung. „Sie kann aber auch den Wettbewerb in Fragen der öffentlichen Gesundheit verschärfen. Man kann nicht ausschließen, dass es zu einem Wettrüsten mit biologischen Waffen kommt, das haben wir schon im Kalten Krieg gesehen. Aber es wäre viel besser, in Maßnahmen zur Verhütung und Abwehr dieser Waffen zu investieren.“



Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sowohl die USA als auch die Sowjetunion biologische Waffen. In Washington stoppte Präsident Richard Nixon schließlich das Programm; in der Sowjetunion lief es heimlich weiter, auch noch nach der Unterzeichnung des Biowaffen-Übereinkommens von 1972. Erst Anfang der 1990er Jahre berichteten Überläufer, welch erschreckende Fortschritte die sowjetischen Forscher erzielt hatten. Insgesamt gab es früher etwa 20 Staaten, die an biologischen Waffen forschten. Heute steht im Wesentlichen nur noch Nordkorea im Verdacht, ein heimliches Biowaffen-Programm zu unterhalten.



Asymmetrische Kriegsführung

Für staatliche Akteure stellt das Tabu, mit dem weltweit Biowaffen belegt sind, ein erhebliches Hemmnis dar; auch Unabhängigkeitskämpfer und ethnisch motivierte Terroristen dürften keine Krankheitserreger einsetzen wollen, die auch die eigene Volksgruppe treffen können. Aber es gibt auch religiöse Extremisten, Rechtsradikale oder Sonderlinge, die wahllos morden und eigene Opfer willig in Kauf nehmen. Für sie gilt: Je spektakulärer ein Anschlag ist, desto besser. Covid-19 wird ihnen erneut vor Augen geführt haben, wie immens der Schaden ist, der sich mit relativ geringen Mitteln erzielen lässt. Biowaffen sind das ideale Instrument der asymmetrischen Kriegsführung.



1993 reiste Shoko Asahara, der Führer der Aum-Sekte in Japan, mit 16 Ärzten und Krankenschwestern für einen angeblichen Hilfseinsatz nach Zaire. In Wirklichkeit wollte sich Asahara Proben des Ebola-Virus besorgen. Auch mit Botulinumtoxin, Milzbrand, Cholera und Q-Fieber ließ er experimentieren. Doch Aum scheiterte, obwohl die Sekte über Zehntausende von Mitgliedern und ein Milliardenvermögen verfügte und jahrelang ungestört arbeiten konnte. „Hochentwickelte biologische Waffen herzustellen, ist schwierig“, sagt James Revill. „Man braucht Ressourcen und Expertise. Aus biologischen Stoffen Waffen zu machen, ist schwierig, weil es um lebende Organismen geht.“



Nach den Misserfolgen mit Biowaffen verlegte sich die Aum-Sekte auf chemische Waffen. Für ihren Angriff auf die Tokioter U-Bahn 1995 verwendete sie Sarin. Andere Terrorgruppen bemühen sich jedoch weiter um biologische Kampfstoffe. In den Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erhielten mehrere US-Medien und Senatoren Briefumschläge, die Anthrax (Milzbrandsporen) enthielten; fünf Menschen starben. Auch Rizin, eine äußerst giftige Substanz aus den Samen des Wunderbaumes, der als Kampfstoff sowohl für Bio- als auch für Chemiewaffen gilt, wird immer wieder verwendet. Nach Geheimdienstinformationen interessierten sich Al-Kaida und andere Terrorgruppen für Rizin. Es gibt aber auch Einzeltäter. 2018 wurde in Köln ein Tunesier festgenommen, in dessen Wohnung man Zutaten zur Herstellung von Rizin fand. Amerikanische Sicherheitskräfte stellten im September 2020 einen an Präsident Trump adressierten Brief mit Rizin sicher.



Doch all dies ist in seiner Dimension weit entfernt von Covid-19. Einen Erreger wie SARS-CoV-2 bewusst herzustellen, sei wesentlich schwieriger, als man das gemeinhin denke, sagt Wölfel. „Wichtiger ist es, mehr Aufmerksamkeit auf das zu verwenden, was man Dual Use Research of Concern (DURC) nennt – Wissenschaft, die von ganz normalen Forschenden zum Beispiel an Universitäten betrieben wird, und bei der auf einmal herauskommt, dass die Forschungsergebnisse unbeabsichtigte gefährliche Effekte haben.“



Filippa Lentzos vom King’s College London warnte schon 2018 vor den Risiken der synthetischen Biologie. Im „Bulletin of the Atomic Scientists“ berichtet sie von einem Experiment an der kanadischen Alberta-Universität, das vom US-Unternehmen Tonix Pharmaceuticals finanziert wurde. Die Forscher wollten nachweisen, dass man im Labor Pferdepocken herstellen kann, ein für den Menschen ungefährliches Virus, das es in der Natur nicht mehr gibt. Langfristig wollten sie auf dieser Grundlage einen besseren Pocken-Impfstoff herstellen. Das Ergebnis war ein Virus, das imstande war, Zellen zu infizieren und sich zu vermehren.



„Dieses Experiment gibt Anlass zur Sorge, weil die Machbarkeitsstudie und Methodologie zur synthetischen Herstellung von Pferdepocken-Viren genauso anwendbar sind auf den viel gefährlicheren Cousin der Pferdepocken: das Variola-Virus, das Pocken verursacht“, schrieb Filippa Lentzos. „Das Pferdepocken-Experiment ist ein Schritt in die falsche Richtung und vergrößert aktiv die Wahrscheinlichkeit, dass die Pocken erneut zu einer Bedrohung der weltweiten Gesundheitssicherheit werden könnten.“



Lehren aus der Corona-Krise

Drei Lehren lassen sich aus der Covid-19-Krise für den Schutz vor biologischen Waffen ziehen. Da ist zunächst die Erkenntnis, dass bessere Schutzmaßnahmen vor einer Pandemie auch besser vor einem Angriff mit Biowaffen schützen. Der zweite Punkt betrifft die private und universitäre Forschung. Hier sollte sich wirklich jeder Wissenschaftler im Klaren darüber sein, welcher Missbrauch mit seiner Forschung betrieben werden kann. Die Labore sollten besser gegen Unfälle und Diebstähle gesichert werden. Schließlich geht es auch um die Einsicht, dass manche Forschungsergebnisse – wie zur Synthetisierung der Pferdepocken – lieber nicht im Detail veröffentlicht werden sollten.



Die dritte Schlussfolgerung betrifft die Stärkung des Biowaffen-Übereinkommens, das zwar ein Verbot von Entwicklung, Produktion, Lagerung und Einsatz dieser Waffen enthält, aber keine Kontrollen vorsieht, weil Regierungen, Unternehmen und Wissenschaftler um ihre Forschungsgeheimnisse fürchten. Nur deswegen konnte die US-Regierung China beschuldigen, es habe den SARS-CoV-2-Virus aus dem Labor in Wuhan entweichen lassen. „Wir brauchen viel mehr Transparenz und viel mehr Wissen darüber, wer an was forscht“, mahnt Una Jakob, „wir brauchen Vertrauensbildung und letzten Endes auch Verifikation.“



Ende 2021 bei der achten Überprüfungskonferenz hat die Völkergemeinschaft eine Chance, die Biowaffen-Konvention zu stärken. Doch angesichts erstarkender Nationalismen und geopolitischer Spannungen zwischen den USA und China ist die Hoffnung nicht allzu groß, dass ein Durchbruch gelingt. Dabei wäre dies sicherlich eine der wichtigsten Lehren, die die Staatengemeinschaft aus der Corona-Krise ziehen kann.



Bettina Vestring ist freie Autorin und Publizistin in Berlin. Sie schreibt vor allem über Außen-, Sicherheits- und Europapolitik. ist freie Autorin und Publizistin in Berlin. Sie schreibt vor allem über Außen-, Sicherheits- und Europapolitik.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 67-71

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Bettina Vestring

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