Chinas Zukunft
Projektion und Wirklichkeit
Die Wahrnehmung der Volksrepublik China durch den Westen ist teils geprägt vom Bild der boomenden Küstenregion und ihren glitzernden Metropolen, teils durch falsche Daten und Zahlen, die keine verlässlichen Prognosen erlauben. Die Instabilitäten des Landes können, so der künftige Direktor des Forschungsinstituts der DGAP, Voraussetzung für Reformen und den daraus erwachsenden politischen Fortschritt sein.
Endlich hat es die Kommunistische Partei Chinas geschafft. Auf ihrem 16. Parteitag im November 2002 ist es ihr erstmals gelungen, einen politischen Führungswechsel nach den geltenden Statuten der Partei zu vollziehen.1 Keine unkalkulierbaren Personalkonstellationen, vor allem aber keine Säuberungsrituale, wie sie bislang jeden Führungswechsel begleitet hatten. Die Weltöffentlichkeit nahm als wesentliche inhaltliche Veränderung zur Kenntnis, dass künftig auch Privatunternehmer offiziell Mitglieder der Partei werden können. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Politik und Privatunternehmern fand tatsächlich schon lange vor dem Parteitag statt. Dennoch ist die Entscheidung des Parteitags ein symbolisch wichtiger Schritt.
Ein Jahr nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) und wenige Monate nach dem Führungswechsel auf dem 16. Parteitag stellen sich altbekannte Fragen mit neuer Aktualität: Wie wird sich die Volksrepublik China innenpolitisch weiter entwickeln und welche Rolle wird das Land künftig in der internationalen Politik spielen? Spekulationen über Chinas Zukunft hatten immer Konjunktur und über China lässt sich nun einmal trefflich streiten. Westliche Wahrnehmungsmuster erschweren den Blick auf diese Frage, zumal die entsprechenden Schlussfolgerungen auf höchst unsicheren Daten beruhen.
China ist politisch längst instabil. Stabilitätspotenzial ist allerdings vorhanden und Instabilität ist nicht per se schlecht. Häufig liegen in solchen Situationen gerade die Ursprünge für politische Reformen. Für die westliche China-Politik geht es eher darum, auf unvorgesehene politische Veränderungen reagieren zu können, statt nur in blindem Vertrauen auf einseitige Prognosen zu setzen. Die Wurzel vieler unserer Probleme im Umgang mit China liegt nicht in China selbst, sondern in unserer Wahrnehmung dieses Landes, seiner Politik, seiner Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Schwarzweißmalereien sind an der Tagesordnung.
Wer sich heute chinesische Städte in der boomenden Küstenregion ansieht, dem bietet sich im Vergleich zu den Jahren nach der Kulturrevolution ein anderes Bild: hektisches Markttreiben, moderne Glas- und Metallfassaden, grelles Blinken und Glitzern von Neonreklame, modische gekleidete Menschen nicht mehr auf dem Weg zur politischen Schulung, sondern ins Büro, statt Mao-Bibel klingelnde Mobiltelefone, statt Fahrradkorsos verstopfen Autoschlangen die Straßen – Szenen, wie man sie aus westlichen Metropolen kennt.
Westliche Wahrnehmungen
Diese Eindrücke verleiten dazu, die tatsächlichen Potenziale des Landes zu beschönigen und seine inneren Probleme und die explosive politische und soziale Lage zu übersehen, die nach einem Vierteljahrhundert Reformpolitik entstanden sind. Geblendet vom Transrapid-Fieber und der Gigantomanie der Skylines von Pudong und Shenzhen nehmen viele westliche Medien, Politiker und Unternehmer nur die Schokoladenseite des chinesischen Wirtschaftserfolgs zur Kenntnis.
Die seinerzeit von Deng Xiaoping eingeleiteten Veränderungsprozesse haben ein Ausmaß angenommen, das es unmöglich macht, zu einer maoistischen Politik zurückzukehren. Dengs Erben aber sehen sich vor ähnlich immensen Aufgaben wie dieser selbst, als er sich 1978 anschickte, das Erbe des Maoismus in China zu beseitigen. Die schnell wachsende chinesische Wirtschaft braucht stabile politische Rahmenbedingungen, um binnenwirtschaftlichen Anforderungen und der Weltmarktkonkurrenz gewachsen zu sein. Aber gerade der WTO-Beitritt ist in seinen Folgen für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nur schwer abzuschätzen.
Die Rückkehr des Landes auf die internationale Bühne stellt Chinas Regierung zusätzlich vor neue außenpolitische Probleme. Und nicht zuletzt gilt es immer wieder, Antworten auf die Kernfrage chinesischer Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu finden: Wie kann man in einem Land solch riesigen Ausmaßes, das in einem derart tief greifenden Veränderungsprozess steckt, das notwendige Mindestmaß an politischer Stabilität erhalten?
Spätestens seit die internationale Staatengemeinschaft China im Kampf gegen den Terror an ihrer Seite weiß, ist das Thema Menschenrechtsverletzungen von der Agenda verschwunden. In den USA wird die Diskussion um Menschenrechte zwar noch als politisches Druckmittel begrenzt weitergeführt, in Europa hingegen war sie immer schon mehr eine Pflichtübung in den jeweiligen innenpolitischen Debatten. Als ein Bestandteil operativer Außenpolitik gegenüber China spielte sie kaum eine Rolle. Hier zeigt sich insofern exemplarisch die Flüchtigkeit westlicher Wahrnehmungsmuster.
Was also wäre, wenn China in den nächsten 30 Jahren zur zweiten Supermacht neben den Vereinigten Staaten aufsteigen würde? Das Potenzial für einen solchen Aufstieg ist unbestritten vorhanden. Was wäre hingegen, wenn China an seinen wachsenden innenpolitischen Problemen zu scheitern drohte? Welche Konsequenzen müssten westliche Staaten dann ziehen? Was wäre, wenn gar die „Falken“ recht behielten und China zu einer aggressiven Macht im asiatisch-pazifischen Raum werden würde? Militärische Konflikte mit Taiwan und der Versuch einer Militärblockade oder gar eines direkten Angriffs auf eine konsolidierte Demokratie würden die USA, aber auch Europa vor schwierige Entscheidungen stellen. Und was wäre schließlich, wenn die „Tauben“ recht behielten und China in wachsendem Maße in Netzwerke internationaler Kooperation und Konfliktlösung eingebunden werden könnte?
Die Antworten auf diese Fragen hängen mehr von den Perspektiven und Erwartungen der jeweiligen Beobachter ab als von der realen chinesischen Entwicklung. Das „Faszinosum China“ erlaubt es jedem zu sehen, was er sehen möchte. Und dies obwohl wir heute sehr viel mehr über China wissen. Aber wie verlässlich sind die Daten?
Falsche Daten
Seit die Volksrepublik China Anfang der achtziger Jahre begonnen hat, ihre eigene Entwicklung in wachsendem Maße mit quantitativen Zahlen und Daten zu beschreiben, konnten auch westliche Beobachter einen immer besseren Zugang zu solchen Daten erlangen. Inzwischen gibt es einen regelrechten Wettlauf der Experten, mit Hilfe westlicher Modelle chinesische „Fakten“ zu analysieren, um zu weit reichenden Aussagen über Zustand und Perspektiven chinesischer Wirtschaft und Politik zu kommen. Ohne Rückgriff auf quantitative Daten lässt sich natürlich kein System beschreiben. Dennoch darf gerade im Falle Chinas ein wesentlicher Punkt nicht übersehen werden: Streng genommen sind alle Zahlen und Daten über China falsch. Sie liefern bestenfalls Annäherungswerte, die aber keine verlässlichen oder gar sicheren Prognosen erlauben.
Bei Angaben zu den Makrodaten chinesischer Wirtschaftsentwicklung wird dies besonders augenfällig. In diesen Wochen lesen wir in der internationalen Presse, dass China im Jahr 2002 die beeindruckende Summe von 52,7 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen erhalten habe. Das Bruttoinlandsprodukt soll um einen Wert zwischen 7,6 und der magischen Zahl 8 Prozent gestiegen sein. Können diese Zahlen stimmen? Kosmetik ist wichtig, weil chinesische Politiker überzeugt sind, 8 Prozent seien notwendig, um die Stabilität des Reformprozesses zu erhalten. Grundlage für die Zahlen sind die Erfolgsmeldungen chinesischer Unternehmen. Deren Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit wurden allerdings unlängst vom chinesischen Finanzministerium selbst als fragwürdig entlarvt, da rund 50 Prozent der am chinesischen Aktienmarkt gelisteten Unternehmen nach Angaben des Ministeriums im letzten Jahr ihre „Gewinne“ um bis zu zehn Prozent „geschönt“ haben.
Wer also mit solchen Zahlenwerken arbeitet, muss wissen, dass sie bestenfalls Trends markieren, aber auf keinen Fall für bare Münze genommen werden dürfen. Auf ihnen Zukunftsprognosen aufzubauen, kommt dem Bauen potemkinscher Dörfer gleich. Wer allerdings aus einer umfassenderen Perspektive auf die Trends der chinesischen Entwicklung schaut, kann auch vor einer weiteren Einsicht die Augen nicht länger verschließen: Die Volksrepublik China ist nach 25 Jahren eines beeindruckenden wirtschaftlichen Erfolgs in einer hochgradig instabilen Situation.
China ist instabil
Anzeichen für diese Instabilität gibt es viele:
–Ein dramatisches binnenwirtschaftliches Entwicklungsgefälle zwischen den schnell wachsenden Küstenregionen und dem zentral- und westchinesischen Binnenland verbietet es eigentlich, China als einen geschlossenen Wirtschaftsraum zu betrachten. Alle Bemühungen der Regierung, mit einer Strategie der aktiven Entwicklung der Westprovinzen diesem bedrohlichen Trend entgegenzuwirken, blieben bislang nur mäßig erfolgreich.
–Seit Jahren berichten die westliche und die chinesische Presse über eine gigantische Arbeitsmigration: Zwischen 130 und 150 Millionen Wanderarbeiter liefern zwar ein billiges Arbeitskräftereservoir, ihre Versorgung aber überfordert auch immer wieder die lokale Infrastruktur in den Ballungszentren.
–Unrentable Staatsbetriebe stehen seit langem im Zentrum einer intensiven wirtschaftspolitischen Debatte sowohl in China als auch in seinem internationalen Umfeld. Marktwirtschaftliche und wettbewerbspolitische Konsequenzen verbieten sich aber aus politischen Gründen: China hat bereits heute ein gigantisches Heer von geschätzten 150 Millionen Arbeitslosen zu verkraften. Nach den Lockerungen des Kündigungsschutzes im Zuge des WTO-Beitritts werden vermutlich weitere 40 Millionen hinzukommen. Daraus kann sich ein schwer kalkulierbares Potenzial für soziale und politische Spannungen entwickeln. Schon seit Jahren entladen sich solche Spannungen immer wieder in örtlich begrenzten Unruhen, Streiks und Aufständen – bis zu 2000 solcher regionaler Zwischenfälle werden jährlich gezählt.
–Ethnische Unruhen in den beiden Provinzen Tibet und Sinkiang werden im Zuge einer eigenwilligen Auslegung des Kampfes gegen den Terror mit drakonischen Maßnahmen bekämpft, ohne dass es jedoch bislang gelungen wäre, einer echten Befriedung entlang der zentralasiatischen Instabilitätszone näher zu kommen.
Angesichts dieser Liste von destabilisierenden Faktoren würde man eigentlich keinem Land der Welt Stabilität unterstellen. Für China tut man es aber, denn für Optimisten gilt ungebrochen das Prinzip Hoffnung, die allerdings nur so lange berechtigt ist, wie das prekäre Gleichgewicht der chinesischen Politik nicht durch unvorhergesehene Ereignisse gestört wird.
China ist „stabil“
Man darf bei dieser Auflistung allerdings nicht übersehen, dass es trotz vielfältiger destabilisierender Einflüsse eine ganze Reihe von Gründen gibt, die die bisherige politische Stabilität trotz tief greifender ökonomischer und sozialer Umbrüche erklären können:
–Die Kompetenz des politischen Führungspersonals, mit komplexen Problemsituationen nicht mehr nur ideologisch kontrollierend, sondern technokratisch gestaltend umzugehen, nimmt zu. Trotz schwindender Legitimität des Monopolanspruchs der Partei erwies sich die Führungselite um Jiang Zemin in der Lage, die regulativen und kontrollierenden Möglichkeiten des politischen Systems zu erhalten, gleichzeitig aber Verhandlungskapazitäten mit neuen sozialen Gruppen und Lernstrategien im Umgang mit technologischem Wandel (Internet) zu entfalten.
–Die intellektuelle Elite ist seit 1989 nicht mit übermäßiger Systemkritik hervorgetreten. Intellektueller Protest ist nicht in einem Maße zu erkennen, das prinzipiell stabilitätsbedrohend wirken könnte. Die schnell wachsende Mittelschicht in den wirtschaftlichen Prosperitätszonen verfolgt ihr Interesse an Reichtum und sozialem Aufstieg und verzichtet noch auf politische Forderungen nach Pluralisierung und Partizipation, zumindest solange die ökonomischen Rahmenbedingungen dies zulassen. Eine glaubwürdige oder gar handlungsfähige Opposition außerhalb der Partei ist nicht in Sicht. Und schließlich:
–Phasen politischer Instabilität hat es in der Volksrepublik China immer wieder gegeben, zum Teil sogar in deutlich drastischeren Ausmaßen, als dies heute zu beobachten ist, ohne dass das politische System in seinem Bestand und in seiner Handlungsfähigkeit gefährdet gewesen wäre.
Instabilität als Reformmotor?
Der an westlichen politischen Systemen und ihren normativen Grundlagen geschulte Beobachter muss deshalb umdenken: Instabilität ist nicht per se schlecht – im Gegenteil: Sie kann wesentliche Voraussetzung für Reformen und den daraus erwachsenden politischen Fortschritt sein. Ein gutes Beispiel für die reformfördernden Auswirkungen hoher institutioneller Unsicherheiten ist der Beitritt zur WTO und die erkennbaren Anpassungsschritte Chinas im ersten Jahr seiner Mitgliedschaft. Eine Reihe institutioneller Änderungen wurden beeindruckend schnell vollzogen: Allein im vergangenen Jahr wurden 2300 Gesetze und Regularien neu eingeführt und 830 alte abgeschafft, um das Land den WTO-Regeln anzupassen.
Auch China kann sich die Geschwindigkeit seiner Anpassung an globalisierte Wettbewerbsmuster trotz nachhaltigen internationalen Drängens nicht von außen diktieren lassen: Regularien zu haben ist eine Sache, die Feinarbeit der Umsetzung aber wird von dem Maß des sozial und wirtschaftlich gerade noch Verträglichen bestimmt. In Anbetracht von geschätzten 150 Millionen Arbeitslosen und sich mehrenden Berichten von Streiks und Unruhen in allen Teilen des Landes lässt die prekäre Stabilitätssituation des Landes keine andere Politik zu.
Eigentlich befindet sich westliche Politik gegenüber China an dieser Stelle in einer häufig übersehenen strategischen Falle: Soll man die Chinesen drängen, Wettbewerbsregeln, denen ihre Unternehmen nicht oder noch nicht gewachsen sind, vorschnell einzuführen, um auf diesem Wege den chinesischen Markt schnell und nachhaltig für westliche Unternehmen zu öffnen? Nimmt man dafür vielleicht sogar in Kauf, dass die Konsequenzen einer solchen Politik tatsächlich zu einer nachhaltigen Destabilisierung des Landes führen könnten? Oder soll man China Zeit lassen, den eigenen Rhythmus der Anpassung an globale Konkurrenzmuster zu finden, wie die erfolgreichen neuen Industrieländer Ost- und Südostasiens in den vergangenen drei Jahrzehnten?
Außenpolitische Flexibilität
China lässt sich nicht drängen. Dies gilt nicht nur für seine Öffnung zum Weltmarkt, sondern erst recht für seine außenpolitischen Zielsetzungen. Unabhängigkeit, Souveränität, nationale Einheit und Sicherheit vor militärischen Bedrohungen gehören seit jeher zu den außenpolitischen Maximen aller chinesischen Regierungen. Das Land hat allerdings auch seine Fähigkeit zu einem hohen Maß an außenpolitischer Flexibilität bewiesen. Die lange mit allem Nachdruck verfolgte außenpolitische Zielsetzung, die Präsenz amerikanischer Streitkräfte im asiatisch-pazifischen Raum zu verringern, wurde im Rahmen einer flexiblen Anpassung nach dem 11. September 2001 zumindest zeitweilig aufgegeben.
China leistete politische und diplomatische Unterstützung für die USA, stimmte den Sicherheitsratsresolutionen gegen den Terrorismus zu, musste allerdings im Gegenzug die wachsende amerikanische Militärpräsenz an seiner sensitiven Westgrenze in Zentralasien tolerieren. Für geraume Zeit sind folglich außenpolitische Bodengewinne gegenüber den Vereinigten Staaten wieder verloren gegangen. Aber schon im Falle der schwierigen Situation auf der koreanischen Halbinsel wird der chinesischen Regierung eine deutlich aktivere Funktion zukommen. Ähnliches dürfte für ihre Politik gegenüber Pakistan und Indien gelten. Die Handlungsspielräume chinesischer Außenpolitik werden tendenziell wieder wachsen.
Dabei geht es der Volksrepublik nur begrenzt um Akte politischer Symbolik. Die Sicherheitsinteressen des Landes, insbesondere bezüglich des Einflusses islamischer Separatisten in Sinkiang, haben nach anfänglichem Zögern der USA neue Spielräume für eine zumindest zeitweilige Entspannung im Verhältnis zur westlichen Supermacht eröffnet. China macht vor, wie flexible Außenpolitik aussehen kann – und die Zeiten, in denen das Land ausschließlich vom Westen zu lernen hatte, sind ohnehin längst vorbei.
Wie also sollten Chinas westliche Partner auf diese Situation reagieren? Die Konsequenz aus den bisherigen Überlegungen lautet: Flexible Reaktionen sind wichtiger als unsichere Prognosen. Die meisten Ereignisse, die uns in den letzten Jahren immer wieder „überrascht“ haben (vom Fall der Mauer bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion) folgen einer einfachen Logik: sie ereignen sich in typischen „windows of opportunity“, deren strukturelle Voraussetzungen hätten bekannt sein können, die aber aus wissenschaftsinternen oder politischen Gründen geflissentlich oder auch nur zufällig übersehen wurden. Projektionen sind immer stärker als Zahlen.
Gefragt sind deshalb vor allem Konzepte zum Umgang mit China, die flexible Reaktionen auch auf plötzliche politische Veränderungen ermöglichen und das vermeintlich Undenkbare mitdenken. Dazu gehört auch die Gefahr einer unerwarteten und tief greifenden Destabilisierung des politischen Systems. Hier liegt die wesentliche Herausforderung nicht nur für Politiker und Unternehmer, sondern auch für China-Beobachter, wenn ihnen daran gelegen ist, eine Brücke zwischen Wissenschaft und Politik zu schlagen. In Zukunft ist die politische Risikoanalyse deutlich stärker gefragt als bisherige Stabilitätsanalysen auf der Grundlage scheinbar verlässlicher Daten.
Bliebe noch anzumerken, dass ein bislang nur wenig ausgeprägter transatlantischer Dialog über China zur Entpolemisierung amerikanischer China-Politik beitragen sollte. In der derzeitigen Debatte zeigt sich ein aufschlussreicher Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten: Während man sich in Europa einhellig auf eine Politik des „constructive engagement“ festgelegt hat und versucht, China möglichst eng in internationale und multilaterale Kooperationsnetze einzubinden, verläuft die Diskussion in den USA ganz anders: Publikationen wie „The Coming Conflict with China“, oder „The Coming Collapse of China“2 dokumentieren die grundsätzlich unterschiedliche Sichtweise in den USA, die gerade bei der derzeitigen republikanischen Regierung auf große Aufmerksamkeit trifft. Vertreter einer harten Linie betonen im Zuge der amerikanischen Debatte um die Grundlagen nationaler Sicherheitspolitik nach dem 11. September den strategischen Konkurrenzgedanken gegenüber China.
Im Interesse Europas liegt es, den Partner USA davon zu überzeugen, dass pragmatische und flexible Reaktionen mit Blick auf die prekäre wirtschaftliche und soziale Situation in China im Interesse aller Beteiligten liegen. Keine einfache Aufgabe, denn China wird für westliche Staaten auf lange Sicht ein unsicherer Partner mit hohen innenpolitischen Destabilisierungsrisiken und immer selbstbewusster verfolgten außenpolitischen Eigeninteressen bleiben. Daran wird sich auch nach dem 16. Parteitag nichts ändern.
Anmerkungen
1 Vgl. hierzu Sven Bernhard Gareis, Personelle Erneuerung – Politische Kontinuität. China nach dem 16. Parteitag der KPCh, in: Internationale Politik, 12/2002, S. 51–56.
2 Vgl. Richard Bernstein und Ross H. Munro, The Coming Conflict with China, New York 1998; Gordon G. Chang, The Coming Collapse of China, New York 2001.
Internationale Politik 2, Februar 2003, S. 10 - 16