IP

01. Nov. 2007

Chinas künftige Krisen

Buchkritik

Wenn eine wirtschaftliche Entwicklung so rasant vor sich geht wie die Chinas, bemühen wir häufig biblische Begriffe oder Referenzen aus dem Tierreich, um sie begreifen zu können. Doch das Wachstum des chinesischen „Drachens“ ist weder unerklärlich, noch wird es sich im gleichen Tempo fortsetzen. Vier Neuerscheinungen zeigen, warum.

Chinas Wirtschaftswachstum ist kein Wunder, und sein wirtschaftliches Modell ist im Grunde sehr einfach zu verstehen: Es ist, ähnlich wie im Falle der asiatischen „Tigerstaaten“, auf internationale Integration ausgerichtet, vor allem auf Exporte und ausländische Direktinvestitionen, und es kann auf ein riesiges Reservoir an billigen Arbeitskräften zurückgreifen. Dieses Wachstum wird sich verlangsamen, und es werden Krisen kommen – wirtschaftliche wie politische. Was wird diese Krisen verursachen? Vier Bücher geben uns einige Einblicke.

Der ehemalige China-Korrespondent Rob Gifford hat sich im Land umgeschaut. Er ist entlang der Route 312, einer modernen Version der alten Seidenstraße, vom brodelnden Schanghai an der Ostküste bis zur westlichen Grenze zu Kasachstan gereist.

In Schanghai stößt Gifford auf zunehmenden Individualismus und nachwachsende Parteikader. In Nanjing, einst Hauptstadt der Ming-Dynastie, erfährt er einiges über geschichtliche Traumata: von der Niederlage 1842 gegen die britische Flotte bis hin zu den Massakern während der japanischen Invasion 1937. Im Süden Henans besucht er von Aids-Kranken bewohnte Dörfer, die ursprünglich von der Regierung geschaffen wurden, nun aber vor der Welt versteckt gehalten werden. Er entkommt nur knapp einer Verhaftung. Und in einem Bus im Süden Gansus, weit entfernt von den Boomregionen der östlichen Küste, trifft der Autor zwei junge Frauen, die mit Kosmetikprodukten handeln, fest entschlossen, Modernität in die abgelegenen Gegenden des armen, inneren Chinas zu bringen. Diese Begegnungen erzählen von sozialem Wandel und wachsenden Spannungen in einer sich reformierenden, gleichwohl immer noch mächtigen kommunistischen Diktatur. Dabei geht es um mehr als um antikommunistische Gefühle: Konfuzianismus und chinesische Tradition stehen ebenso auf dem Prüfstand wie der Geist des Maoismus. Giffords größte Leistung ist es, einen Zusammenhang zwischen der soziokulturellen Entwicklung Chinas und den gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten kommunistischer Machtkontrolle herzustellen. Die Balance zwischen

Individualismus und Kollektivismus war stets eine der Hauptquellen sozialer Konflikte. Die Partei hat wenig Hoffnung, individualistisch ausgerichtete Chinesen, die kommunistischen Ideen abgeschworen haben, von den Vorteilen kollektivistischer Macht zu überzeugen. Ihre langfristige Strategie zur Machterhaltung geht eher dahin, die junge Elite einzubinden, die Besten und Brilliantesten des zukünftigen China. Eine Strategie, die in den Handelsregionen funktionieren mag. Doch sie vernachlässigt die soziologische Basis der chinesischen Revolution: die Bauern. Maos besonderer Beitrag zur Geschichte der kommunistischen Bewegung war seine Allianz mit den Bewohnern der armen, ländlichen, Gegenden. Doch die Führung in Peking ist gegenwärtig dabei, einen alten Fehler zu wiederholen: Sie vernachlässigt das Hinterland.

Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die derzeit die Macht der Kommunistischen Partei im Lande bedrohen. Welche das sind, zeigt Susan Shirk, in der Bill Clinton-Regierung Expertin für China. Im Zentrum ihrer fesselnden Abhandlung steht der Nationalismus – nicht nur als Theorie oder historische Idee, sondern, mindestens genauso wichtig und vielleicht auf den ersten Blick überraschend, als einzig möglicher Weg, Kritik an der Regierung zu üben. Träger des zunehmenden Nationalismus sind zum einen die Bauern, die im Zuge der rasanten Wirtschaftsentwicklung Opfer von Enteignungen durch lokale Behörden wurden. Eine andere Gruppe sind Universitätsstudenten, die angesichts der Erfahrungen von 1989 zögern, die Regierung mit Forderungen nach Demokratie zu bestürmen und daher den Umweg über nationalistische Argumente nehmen.

Neben diesen Gruppen nennt Shirk das Militär, für das die Taiwan-Frage und die Ein-China-Politik im Fokus stehen. Ebenso bedeutsam, und mittlerweile der Kontrolle der Regierung entglitten, ist die Animosität gegenüber Japan. Immer häufiger kommt es zu antijapanischen Demonstrationen, die eine ständig wachsende Anzahl von Menschen anziehen. Eine Umfrage unter jungen Chinesen im Jahr 2005 hat ergeben, dass mehr als die Hälfte von ihnen Japan hasst oder verabscheut. Der Vertrieb des Filmes „Die Geisha“, in dem drei chinesische Filmstars als Geishas zu sehen sind, wurde auf Anweisung der Regierung untersagt. Der Grund: Angst vor öffentlichem Aufruhr.

Der chinesische Nationalismus hat historische Wurzeln; er kann nicht befriedigend erklärt werden ohne ein tiefer gehendes Verständnis der chinesischen Geschichte. Zu diesem Thema sind jetzt zwei glänzend geschriebene Abhandlungen erschienen. Sie beschäftigen sich mit der Entstehung des chinesischen Staates und dem fortwährenden Ringen um den Zusammenhalt des Landes. Verwendet Julia Lovell (Cambridge) als Chiffre für 3000 Jahre chinesischer Geschichte das Bild von der Großen Mauer, so betrachtet der australische Politikwissenschaftler Harry G. Gelber Chinas Geschichte aus einer westlichen Warte.

Beide Bücher stellen gerade für die Nationalismusdebatte eine erhellende Lektüre dar. So versteht Lovell den chinesischen Nationalismus als ein Produkt des Politbüros und als ein Phänomen, das kaum älter als hundert Jahre ist. Zuvor hätten die herrschenden Dynastien im Mittelpunkt gestanden. Doch sie spricht von einer „Wiederbelebung“ des Nationalismus als einer Methode, das Land gegen die „Gefahr des drohenden Zusammenbruchs“ zu schützen. Was ist es also, das wiederbelebt wurde? Geeint wurde China im Jahre 200 v. Chr. durch Qin Shi Huang Di; die Bezeichnung „China“ leitet sich vermutlich von seinem Namen ab. Auf diesen brutalen Herrscher gehen nicht nur die Schaffung eines fortschrittlichen Verwaltungsapparats und eine Modernisierung des Heeres zurück, sondern auch die Einführung eines einheitlichen Gesetzeskodexes sowie einer einheitlichen Währung und nicht zuletzt die Anfänge der Großen Mauer.

Darüber hinaus sorgte Qin für eine Politisierung sämtlicher Bereiche des chinesischen Alltags, einschließlich des Familienlebens. Obgleich er nur vergleichsweise kurz regierte und seine imperialen Ambitionen das Land an den Rand der Erschöpfung trieben, steht seine Regierungszeit im kollektiven Gedächtnis Chinas für die durch ihn vollzogene Zentralisierung der Macht und die damit entstandene Idee, dass China nur stark sein kann, wenn es sein ausgedehntes Reich zusammenhält.

Das hat China bis heute geprägt. Epochen der Schwäche werden als Resultat interner Streitigkeiten interpretiert – zwischen Regionen und zwischen Dynastien. Und in diesen Zeiten der Schwäche wurde China gedemütigt – von den mongolischen Eroberern im Norden und von Kolonialisten aus dem Westen und dem Osten (Japan).

Diese romantisierende Idee ist äußerst wirkungsmächtig: Sie geht davon aus, dass Fortschritt und Modernisierung mit Zentralisierung einhergehen, eine starke Zentralmacht gilt als die höchste Form des Nationalismus. Und das alles muss mit Mauern geschützt werden – realen wie mentalen. Dieser Glaube verleiht brutalen Herrschaftsmethoden Legitimität – von Qins Terrormaßnahmen wie der Bücherverbrennung und der Massenhinrichtung Intellektueller bis zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens oder der exzessiven Kontrolle von Internetnutzern.

Rob Gifford: China Road. A Journey into the Future of a Rising Power. New York: Random House 2007, 352 Seiten, $ 26,95

Susan L. Shirk: China. Fragile Superpower, Oxford University Press, 2007, 336 Seiten, £ 15,99

Julia Lovell: Die Große Mauer. China gegen den Rest der Welt. 1000 v. Chr. – 2000 n. Chr. Stuttgart: Theiss 2007, 344 Seiten, € 22,90

Harry G. Gelber: The Dragon and the Foreign Devils: China and the World 1100 BC to the Present. London: Bloomsbury 2007, 492 Seiten, £ 25,00

FREDRIK ERIXON, geb. 1973, ist Direktor und Gründer des European Centre for International Political Economy (ECIPE) in Brüssel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2007, S. 137 - 139.

Teilen

Mehr von den Autoren