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01. Febr. 2002

Chinas Beitritt zur WTO

Herausforderungen für China und die Weltwirtschaft

Seit Ende 2001 ist China Mitglied der Welthandelsorganisation. Dieser wichtige Schritt hat nicht nur Auswirkungen auf die Lebenssituation der 1,3 Milliarden Chinesen und die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Volksrepublik, sondern wird durch das enorme Marktpotenzial und wirtschaftspolitische Gewicht Chinas das globale System insgesamt neu strukturieren.

Bei der vierten Ministertagung der Welthandelsorganisation (WTO) im November 2001 in Doha wurde Chinas Aufnahme in dieses Gremium beschlossen; seit dem 11. Dezember ist die Volksrepublik offizielles Mitglied. Die Mitgliedschaft markiert den Abschluss eines außenwirtschaftspolitischen Strategiewechsels, der 1978 von DengXiaoping begonnen wurde und China aus einer fast vollständigen Abschottung von der internationalen Arbeitsteilung zurück in das weltwirtschaftliche Geschehen geführt hat. Dieser Schritt wird nicht nur für China, sondern für das globale ökonomische und politische Gefüge gewichtige Veränderungen mit sich bringen.

Auf seinem Weg in die WTO musste China zunächst mit allen WTO-Mitgliedstaaten, die dies gewünscht hatten, bilaterale Verhandlungen über die Konditionen seines Beitritts führen. Erst nachdem alle Vorbehalte, die seitens der WTO-Mitglieder vorgebracht wurden, ausgeräumt waren, konnte eine Zusammenführung der in den bilateralen Protokollen festgehaltenen Bedingungen in ein umfassendes Dokument erfolgen, das nun für alle Parteien verbindlich gleiche Rechte und Pflichten im Rahmen der chinesischen WTO-Mitgliedschaft festlegt. Dies bedeutet, dass Zugeständnisse, die China einer Partei gewährt hat, nun für alle WTO-Mitglieder gelten.

Europa hat eine wichtige Rolle für den erfolgreichen Abschluss der chinesischen Beitrittsverhandlungen gespielt: Die im Mai 2000 erreichte Einigung zwischen der EU und China kam nach mehrjährigen Verhandlungsrunden zustande, wobei das Verhandlungsmandat der Europäischen Kommission durch die Mitgliedstaaten vorgegeben war. Für die europäische Delegation ging es darum, die chinesischen Verhandlungspartner bis an die Grenze der für sie möglichen Zugeständnisse zu bewegen. Dabei wurde der chinesischen Seite allerdings signalisiert, dass sie nicht in eine „No-go-Zone“ gedrängt würde. Der zur Verfügung stehende Verhandlungsspielraum orientierte sich somit auch an den Einschränkungen, denen sich die Vertreter der chinesischen Regierung aufgrund innenpolitischer Entwicklungen zu unterwerfen hatten.

Gleichzeitig standen die Verhandlungen der EU mit China in einer engen Wechselbeziehung zu den Verhandlungen der USA mit China. Für die amerikanische wie auch für die europäische Verhandlungsposition war es wichtig zu berücksichtigen, wie weit reichend die jeweilige Einigung mit China war. Ein beträchtlicher Teil der Forderungen der EU und der USA war deckungsgleich und musste daher nur von einer Seite erfolgreich ausgehandelt werden. Beide Parteien verfolgten z.T. aber auch ganz spezifische Eigeninteressen, deren Durchsetzung gegenüber China den Spielraum für die Durchsetzung anderer Punkte einengen konnte. So haben die USA z.B. die Beibehaltung ihres derzeitigen Verfahrens zur Feststellung von Dumpingvorwürfen für weitere 15 Jahre durchsetzen können. Dieses Verhandlungsergebnis war für die EU unwichtig, da sie China bereits 1998 den Status einer „Nichtnichtmarktwirtschaft“ und somit ein deutlich „faireres“ Verfahren zuerkannt hatte. Die Zugeständnisse, die die amerikanische Seite China machen musste, um dieses Ergebnis herbeizuführen, führten allerdings zu einer Einengung des Verhandlungsspielraums für die Europäische Union.

Der einvernehmliche Abschluss der Verhandlungen zwischen den USA und China im November 1999 bedeutete zum einen eine Erleichterung der europäischen Verhandlungsinitiative, da bereits knapp 80 Prozent der EU-Forderungen durch dieses Abkommen abgedeckt wurden. Zum andern aber wurde die Durchsetzung der verbliebenen Forderungen erschwert, da der Verhandlungsspielraum eingeengt und öffentlicher Druck auf einen zügigen Abschluss ausgeübt wurde (nicht zuletzt deshalb, weil sich die EU in der Vergangenheit wiederholt und mit aller Deutlichkeit für einen möglichst frühen Beitritt Chinas zur WTO ausgesprochen hatte). Dieser Zwangslage stand lediglich entgegen, dass das von den Verhandlungsdelegationen erzielte Ergebnis nur dann Geltungskraft erlangen konnte, wenn der amerikanische Kongress China „Permanent Normal Trade Relations (PNTR)“ gewähren würde. Diese Entscheidung aber konnte nur durch einen vorangehenden Abschluss der europäisch-chinesischen Verhandlungen erfolgreich beeinflusst werden. Der hieraus erwachsene Druck auf die chinesische Verhandlungsdelegation kam der EU zugute.

Die europäisch-chinesische Vereinbarung weist die Punkte Industriegüter, Landwirtschaft, Dienstleistungen und sogenannte horizontale Bereiche auf. Aus der Erkenntnis heraus, dass der chinesische Transformationsprozess noch nicht abgeschlossen ist, wurden von vornherein Übergangsfristen beim Abbau von Handelsschranken einkalkuliert.

Doch der Beitritt zur WTO verlangt von China weit reichende und nicht einfach zu erzielende Anpassungsleistungen seiner Wirtschafts- und Handelspolitik wie auch im Verwaltungsapparat. Hierbei wird nicht nur entscheidend sein, wie rasch die entsprechenden Maßnahmen konkret umgesetzt werden. Tief greifende Auswirkungen auf das gesellschaftliche und politische System der Volksrepublik können die Folge sein. Die EU erachtet deshalb die Unterstützung der chinesischen Regierung und Verwaltung als wichtigen Beitrag, damit China den aus dem Beitritt resultierenden Verpflichtungen nachkommen kann. Für die chinesische Regierung ist die Mitgliedschaft in der WTO in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Staatspräsident JiangZemin und besonders Ministerpräsident ZhuRongji können dies als politischen Erfolg verbuchen, bevor sie in absehbarer Zeit ihre Führungspositionen abgeben. Auch liegt es in Chinas Interesse, die nächste Runde der WTO-Verhandlungen als Mitglied mitzugestalten.

Ökonomische Implikationen

Im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte hat die chinesische Volkswirtschaft bereits große Schritte in Richtung Weltmarkt unternommen. Trotzdem wird der WTO-Beitritt einen schweren Schock auf das Wirtschaftsgefüge ausüben. Zahlreiche Industriezweige und -unternehmen sind noch immer im Schutz protektionistischer Barrieren gegen ausländische Konkurrenten tätig, genießen staatliche Subventionen und operieren in kleinen „Fürstentümern“, die ihnen von lokalen Gebietskörperschaften gewährt werden. Im Zuge des Abbaus von tarifären und nichttarifären Handelsbarrieren und der Liberalisierung des Investitionsregimes werden diese Unternehmen nun plötzlich Konkurrenten gegenüberstehen, die es gelernt haben, sich im globalen Wettbewerb zu behaupten. Betroffen sind hiervon insbesondere Staatsunternehmen in den bislang besonders geschützten Schlüsselindustrien sowie der landwirtschaftliche Sektor, dessen Produktionskosten ein Drittel über dem Weltmarktniveau liegen.

Hauptgewinner des WTO-Beitritts werden zunächst die chinesischen Konsumenten sein, die in die Lage versetzt werden, aus einer größeren Auswahl an qualitativ besseren und zudem kostengünstigeren Produkten wählen zu können. Auch einige chinesische Industrieunternehmen, wie die Textil- und Bekleidungsindustrie, werden durch den WTO-Beitritt unmittelbar profitieren, da in den WTO-Mitgliedsländern Handelsbarrieren abgeschafft werden, was ihnen erlauben wird, ihre Exporttätigkeit auszuweiten. Insgesamt wird China aber in den ersten Jahren nach dem WTO-Beitritt eine Anpassungskrise durchmachen, die mit Unternehmensbankrotten und Massenentlassungen verbunden sein wird. Eine besondere destabilisierende Wirkung wird davon ausgehen, dass erstmals seit Beginn der Reformära größere Bevölkerungsteile Wohlfahrtsverluste erfahren und ein der Abfederung sozialer Härten dienendes Sozialversicherungssystem nur in Ansätzen vorhanden ist.

Mittelfristig gesehen wird die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation die wirtschaftliche Entwicklung in der Volksrepublik China allerdings deutlich forcieren. Die Wachstumsimpulse werden dabei in erster Linie davon ausgehen, dass

–eine substanzielle Verbesserung der institutionellen und organisatorischen Ausgestaltung der ökonomischen Interaktion innerhalb Chinas sowie zwischen China und dem Ausland stattfindet;

–eine intensivere Arbeitsteilung zwischen China und dem Rest der Welt vorgenommen wird, die zudem besser an den komparativen Vorteilen der beteiligten Volkswirtschaften ausgerichtet ist;

–Produktivitätsgewinne erzielt werden, die aus einer Intensivierung des Wettbewerbsprozesses auf den chinesischen Märkten resultieren.

Diese Faktoren werden zu einer substanziellen Verbesserung der Faktorallokation und von daher zu einer effizienteren Nutzung der verfügbaren Ressourcen führen. Gleichzeitig ist aber auch zu erwarten, dass die Quantität der der chinesischen Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Produktionsfaktoren ansteigen wird. Die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen, UNCTAD, kalkuliert mit einer Verdopplung der jährlichen Direktinvestitionszuflüsse auf 100 Milliarden Dollar innerhalb von fünf Jahren nach Beitritt. Dies wird nicht nur eine quantitative Ausweitung des Sachkapitalstocks bewirken. Gleichzeitig wird auch dessen Qualität durch die Einfuhr neuer Technologien erhöht und dessen produktive Nutzung durch den Einsatz moderner westlicher Managementpraktiken gewährleistet.

Der Charakter der nach China fließenden Direktinvestitionen wird sich ebenfalls verändern. Mit der Liberalisierung des Investitionsregimes wird der Anteil der binnenmarktorientierten Unternehmungen zunehmen. Während heute knapp 90 Prozent des Bestands an Direktinvestitionen in der Küstenregion angesiedelt sind, wird es nun zu einer stärkeren Konzentration in den Binnenprovinzen kommen. Dies wird nicht nur zu einer Reduzierung des Anteils von ausländisch kapitalisierten Unternehmen am Export (derzeit gut 40 Prozent) führen, sondern auch ein größeres Potenzial für wachstumsfördernde Spill-over-Effekte im chinesischen Unternehmenssektor eröffnen. Des weiteren dürften Zusammenschlüsse und Aufkäufe von Firmen zu einem wichtigen Investitionsmodus avancieren und zur Restrukturierung des staatlichen Unternehmenssektors beitragen.

Der chinesische WTO-Beitritt wird nicht nur die chinesische Volkswirtschaft verändern, er wird auch die Weltwirtschaft neu strukturieren. Die Erschließung von bislang aufgrund administrativer Barrieren nicht umgesetzten arbeitsteiligen Strukturen wird die Richtung grenzüberschreitender Güterströme verändern und eine Reallokation von Produktionsfaktoren induzieren. Dieser Prozess wird sowohl Ursache als auch Wirkung einer Modifizierung der relativen Preise sein, in deren Zuge es auch zu einer Veränderung der Terms of trade der in die Weltwirtschaft integrierten Volkswirtschaften kommen wird. So wird der erwartete massive Anstieg der chinesischen Ausfuhren – zumindest kurzfristig – zu einer reduzierten Knappheit der betreffenden Güter auf dem Weltmarkt führen und deren Preise senken. Die gleichzeitig erwartete substanzielle Ausweitung der chinesischen Einfuhren wird im Gegenzug zu einer Verknappung der betreffenden Gütergruppen und entsprechenden Preissteigerungen führen. Diese Entwicklung wird die Terms of trade Chinas verschlechtern, die der europäischen Volkswirtschaften und der USA aber positiv beeinflussen, wovon letztlich eine Dämpfung ihres passiven Handelsbilanzsaldos mit China ausgehen wird.

Die Ausweitung der chinesischen Aus- und Einfuhrmengen wird nicht zu einer Ausweitung des Welthandels in gleichem Umfang führen, sondern zum Teil lediglich bisherige Interaktionsmuster ersetzen. Derartige Verdrängungseffekte werden in erster Linie jene Volkswirtschaften betreffen, die sich auf einer China vergleichbaren Entwicklungsstufe befinden und somit in einer direkten Konkurrenzbeziehung stehen. Betroffen sind also in erster Linie vergleichsweise unterentwickelte Volkswirtschaften in Südostasien, Lateinamerika und Osteuropa.

Die Wirtschaftsbeziehungen der Europäischen Union zu China werden wahrscheinlich eine deutliche Intensivierung erfahren. Als erstes wird der WTO-Effekt in Struktur und Volumina der Handelsströme zu merken sein. Durch den Abbau von tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen wird auf einen Schlag der Handel mit ganzen Warengruppen ökonomisch interessant, die zuvor nicht mit China ausgetauscht wurden. Chinas Position als drittwichtigster außereuropäischer Handelspartner der EU (hinter den USA und Japan) wird hierdurch gefestigt werden. Eine substanzielle Reduzierung des EU-Handelsbilanzdefizits mit China, das im Jahr 2000 einen Rekordwert von 44,4 Milliarden Euro erreichte, darf in diesem Zusammenhang aber nicht erwartet werden.

Auch im Bereich der Direktinvestitionen erschließen sich mit der Öffnung des chinesischen Binnenmarkts und der Möglichkeit, chinesische Staatsunternehmen aufzukaufen, interessante Investitionsfelder für europäische Unternehmen, die an den bislang vorrangig geförderten exportorientierten Investitionsprojekten kein größeres Interesse hatten. Es steht zu erwarten, dass das veränderte Investitionsumfeld in China dazu führt, dass der Anteil der EU an den aus aller Welt nach China strömenden Direktinvestitionen deutlich über den derzeit realisierten Anteil von ca. zehn Prozent ansteigen wird. Soweit ausländisch kapitalisierte Unternehmen bislang die wichtigsten Abnehmer europäischer und insbesondere deutscher Exporte nach China waren, kann hiervon mittelfristig ein weiterer belebender Impuls für die europäische Exportindustrie erwartet werden. Dies gilt allerdings nur im Nettoergebnis einer Gesamtbetrachtung.

Politische Auswirkungen

Aus der Sicht der Europäischen Union wird die Aufnahme Chinas in die WTO als wichtiger Beitrag zu einer stetigen und stabilen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes verstanden. Indem sich die Volksrepublik in das multilaterale Regelwerk einordnet, verstärkt sich die Rechtssicherheit für Handels- und Investitionspartner. Neben positiven Impulsen für die chinesische Wirtschaft werden entsprechende Auswirkungen hinsichtlich der Verbesserung der rechtlichen und sozialen Lage der Bevölkerung erwartet. Ein weiterer Effekt kann sich dadurch ergeben, dass die reformorientierten Kräfte in der chinesischen Führung gestärkt werden, was die Berechenbarkeit der chinesischen Politik erhöht. Außerdem kann die Einbindung Chinas in ein internationales Regelwerk nachhaltig auf die Region Asien ausstrahlen.

Einen Tag nach Abschluss der Verhandlungen der WTO mit China einigte sich die Welthandelsorganisation in Doha erfolgreich mit Taiwan auf eine selbständige Mitgliedschaft der Inseln Taiwan, Penghu, Kinmen und Matsu. Taiwan besitzt somit in der WTO den Status eines separaten Zollgebiets, genauso wie heute bereits Hongkong und Macao. Von dem Zusammentreffen Chinas und Taiwans in diesem multilateralen Rahmen sind positive, stabilisierende Impulse für die weitere Annäherung beider Seiten zu erwarten.

Chinas Bedeutung als zentraler politischer und sicherheitspolitischer Akteur in der asiatisch-pazifischen Region steht außer Zweifel. Zwar haben sich – zumindest vorerst – die zuletzt angespannten chinesisch-amerikanischen Beziehungen verbessert und in Reaktion auf die Eskalation des internationalen Terrorismus „Freunde in der Not“ geschaffen. Doch noch ist es zu früh für eine Bewertung, wie stabil und berechenbar die chinesische Außenpolitik künftig sein wird. Zu einem großen Teil hängt dies von den Entwicklungen in der Kommunistischen Partei und von der Lage der chinesischen Bevölkerung ab. Die Einbindung Chinas in bi- und multilaterale Dialogforen hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der chinesischen Außenpolitik.

Zwar kann die EU in sicherheitspolitischer Hinsicht in keiner Weise mit den Vereinigten Staaten verglichen werden. Mit der Erweiterung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) wird sich aber der internationale Handlungsspielraum der EU vergrößern, was sich auch in den europäisch-chinesischen Beziehungen niederschlagen wird. Sowohl China als auch die Europäische Union befinden sich in einem entscheidenden Stadium der jeweiligen Definition des eigenen Profils als internationaler Akteur.

Nach dem 11. September 2001 zeichnet sich ab, dass multilaterale Foren einen wichtigen Beitrag zur Regelung globaler Konflikte leisten müssen. Da internationale Sicherheit in einem umfassenden Sinne mehr beinhaltet als die rein militärische Dimension, drängen ökonomische Aspekte zunehmend in den Vordergrund. Die Mitgliedschaft Chinas in der WTO bietet – trotz der genannten Schwierigkeiten – einen wesentlichen Beitrag in der internationalen Politik, der zur Verringerung von Unsicherheit beitragen kann.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2002, S. 33 - 38.

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