IP Wirtschaft

01. Nov. 2020

„Wandel durch Handel“ auf Chinesisch

Die Neue Seidenstraße soll Pekings Werte befördern und einen weltwirtschaftlichen Führungsanspruch untermauern. Europa wäre gut beraten, nicht tatenlos zuzuschauen.

Die Weltwirtschaft ist im Umbruch. Ökonomische Prozesse werden digitalisiert; der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) erzwingt ein Umdenken bei Produzenten-Kunden-Modellen, Wertschöpfungsketten und unternehmerischen Organisationsformen. Zudem gerät die multilaterale Wirtschaftsordnung in wachsendem Maße unter Druck.

Im Zentrum der Umbrüche steht China. Gestützt auf eine anpassungsfähge Wirtschaftspolitik, innovative Unternehmen und experimentierfreudige Konsumenten schreiten Digitalisierung und KI hier deutlich dynamischer voran als in den meisten anderen Weltregionen. China schickt sich an, die USA in ihrer globalen Führungsrolle herauszufordern. Ausdruck des Ringens ist der erbittert geführte Handels- und Technologiekrieg zwischen Washington und Peking. An die Stelle freien Wirtschaftsverkehrs in einer globalen Interessensgemeinschaft treten wieder nationale Konzepte; Bilateralismus löst Multilateralismus ab.

Das sind die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die von China initiierte, aber keineswegs von ihm alleine umgesetzte Belt and Road Initiative (BRI), die so genannte Neue Seidenstraße. Zwei Dimensionen müssen wir dabei unterscheiden: zum einen die eines neuen Transportkorridors zwischen Ost und West, zum anderen die eines Katalysators für die Ausbildung neuer ökonomischer Kraftzentren in Regionen, die bislang nur eingeschränkt in die Weltwirtschaft integriert waren.



Teure neue Schiene

Als Transportkorridor bedient die Neue Seidenstraße nur Nischeninteressen. Über die Schienenwege, die in den Medien viel Beachtung finden, werden derzeit gerade einmal 1 bis 2 Prozent des gesamten europäisch-chinesischen Güterverkehrs bewegt; 95 Prozent der Güter werden weiterhin auf Containerschiffen transportiert.

Hinzu kommt, dass der schienengebundene Containerverkehr zwar um die Hälfte schneller ist als der Seetransport, aber auch um die Hälfte teurer ist. Derzeit werden sämtliche per Zug entlang der Neuen Seidenstraße bewegten Container von der chinesischen Regierung subventioniert. Die Fördersumme von rund zehn Milliarden Dollar soll jedoch 2020 halbiert werden. Das dürfte die Kosten in die Höhe treiben und Zweifel an der Wirtschaftlichkeit dieses Transportwegs aufkommen lassen.

Die zweite – und wichtige – Dimension des Projekts ist sein Beitrag zur Neugestaltung grenzübergreifender Geschäftsmodelle in der Weltwirtschaft. In ihrer ersten Ausbaustufe soll die Neue Seidenstraße eine In­frastruktur schaffen, auf deren Grundlage intensivere wirtschaftliche Aktivitäten und internationale Arbeitsteilung möglich sind: Eisenbahn­trassen, Autobahnen, Hafenanlagen, Pipelines, Kraftwerke etc.

Hier wird eine Bedarfslücke geschlossen, auf die Institutionen wie die Asian Development Bank seit Langem hinweisen. Es geht darum, Entwicklung und Wachstum zu fördern, und die Maßnahmen der BRI schaffen die dafür notwendigen Voraussetzungen. Die Finanzmittel stammen übrigens keineswegs in erster Linie aus China. Die Entwicklungshilfeleistungen der westlichen Welt an die BRI-Regionen liegen mindestens auf einem Niveau mit der aus Peking stammenden Hilfe.

Ein entscheidender Sprung über die reine Infrastrukturbereitstellung hinaus erfolgt über Industriezonen an Bahnhöfen und Häfen entlang der Seidenstraße. In diesen Gebieten können sich die Menschen vor Ort in die ansonsten nur durchgeleiteten Güterströme zwischen Europa und China einklinken und ihren eigenen Beitrag zur Wertschöpfung leisten.

Damit sind diese Industriezonen der Schlüssel für die Ausbildung eines neuen Geflechts arbeitsteiliger Strukturen, mit dem die Regionen in die Weltwirtschaft eingebunden werden. Mittelfristig können sie dann auch unabhängig von den wirtschaftlichen Schwergewichten an den Endpunkten der Neuen Seidenstraße, d.h. Europa und China, prosperieren. Ein beträchtlicher Anteil der ökonomischen Interaktion sollte letztlich innerhalb der Regionen selber stattfinden und gar nicht mehr China oder Europa direkt tangieren. Sollte sich diese Vision realisieren lassen, würde das zu einer massiven Steigerung von Einkommens- und Wohlstandsniveaus führen.



Industriezonen als Treiber

Industriezonen dieser Art entstehen zurzeit in erster Linie auf chinesische Initiative. 80 von ihnen existieren bereits und werden fast ausschließlich von chinesischen Unternehmen betrieben; westliche Firmen sind so gut wie nicht beteiligt. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Duisburger Hafen AG, die einen Anteil von 0,67 Prozent am Industriepark „Great Stone“ bei Minsk hält und dort zusätzlich in einen Eisenbahnterminal investiert. Mittelfristig werden die ansässigen Firmen wohl gar keine direkten Handelsgeschäfte mit China mehr anstreben. Dennoch bietet ein Engagement den Betreibergesellschaften und Unternehmen wichtige Vorteile. Vor allem verleiht es ihnen Strahlkraft in die lokalen Volkswirtschaften hinein.

Die bereits heute hohe und weiter wachsende Bedeutung chinesischer Unternehmen bringt einheimische Firmen dazu, sich an chinesische Geschäftspraktiken anzupassen. Sobald eine Mindestschwelle des wirtschaftlichen Austauschs mit China erreicht ist, wird zudem die Nutzung des Renminbi als Fakturierungswährung für lokale Unternehmen sinnvoll – und dann auch als Reservewährung für die Zen­tralbanken. Dollar und Euro werden als ­Leitwährungen verdrängt. Sogar die Fremdsprachenkompetenz der Bildungseliten vor Ort wird dadurch berührt: In Weißrussland hat Chinesisch bereits Deutsch als zweitbeliebteste Fremdsprache hinter Englisch verdrängt.

Für chinesische Unternehmen ergeben sich daraus erhebliche mittel- und langfristige Vorteile. Das Wechselkursrisiko entfällt, die Sprachbarriere wird niedriger und die Rahmenbedingungen der Geschäftstätigkeit entlang der Neuen Seidenstraße gleichen sich den gewohnten heimischen an.

Verstärkt wird dieser Effekt, wenn chinesische Unternehmen eigene technische Normen und regulatorische Standards in den Regionen der Neuen Seidenstraße einführen können. Hierdurch werden sie in die Lage versetzt, Institutionen und Verhaltensregeln zu gestalten und die sogenannten „Pfadabhängigkeiten“ zu ihren Gunsten zu lenken. Beispiele für ein derartiges Vorgehen lassen sich bei der Telekommunikation (5G) und bei mobilfunkbasierten Geschäftsmodellen beobachten. Bei der kommerziellen Nutzung selbstlernender Maschinen zeichnet sich Ähnliches ab, vor allem bei KI-gestützten Überwachungstechnologien wie Gesichtserkennungssystemen. Chinesische Unternehmen wie Huawei und ZTE etablieren Systemlösungen, die Kunden langfristig an ihre Standards binden und so einen Strom an Folgeaufträgen schaffen.



Umgekehrter „Wandel durch Handel“

De facto handelt es sich hierbei um genau das Phänomen, das in Deutschland über Jahrzehnte hinweg als „Wandel durch Handel“ propagiert wurde. Nur scheint diesmal der Prozess entlang der Neuen Seidenstraße von Ost nach West zu laufen.

In Deutschland und Europa spricht man mittlerweile von einer neuen „Rivalität“ mit China, die in einen neuen Systemwettbewerb zu münden scheint. Die EU setzt derzeit eine „Konnektivitätsstrategie“ um: Mit einem alternativen oder komplementären Angebot an die Länder an der ­Neuen Seidenstraße möchte man europäische Werte, ethische wie technische Standards und wirtschaftliche Interessen verbreiten und stärken. Mit einem projektierten Finanzvolumen von rund 550 Milliarden Euro wird hier tatsächlich ein substanzielles Gegengewicht geschaffen. Erfolg wird es aber nur haben, wenn es bei den Unternehmen Widerhall findet – und noch zögern europäische und deutsche Firmen.

Dabei bieten die Volkswirtschaften entlang der Neuen Seidenstraße jede Menge Chancen. Da die Lohnkosten in China demografisch bedingt steigen werden, müssen die Europäer lohnintensive Fertigungsprozesse verlagern. Die Industriezonen der Neuen Seidenstraße bieten sich als neue Beschaffungs- und Fertigungszentren an. Sie können günstiger produzieren, liegen dichter an Europa und werden logistisch immer besser erschlossen.

Auch für BRI-Staaten dürften sich Vorteile aus einem stärkeren Engagement der Europäer ergeben. Das massive Auftreten chinesischer Unternehmen birgt die Gefahr einer exzessiven Abhängigkeit von chinesischen Geldern und Ressourcen, Unternehmensstrategien und politischen Interessen. Ein stärker differenziertes Portfolio von Geschäftspartnern könnte dem entgegenwirken.

Dessen ungeachtet erscheinen Vorwürfe, Peking verfolge mit der Neuen Seidenstraße neokolonialistische Ziele, nicht gerechtfertigt. Zweifelsohne ist die chinesische Außenwirtschafts- und Entwicklungshilfepolitik daran orientiert, lokale Führungseliten für chinesische Interessen einzunehmen. Bewusst orchestrierte Schuldenfallen mit Zwangsenteignungen und der Verpachtung von Territorien bei Zahlungsausfall (wie in Sri Lanka, dessen größter Hafen Hambantota für 99 Jahre an chinesische Unternehmen verpachtet wurde) liegen aber letztlich nicht im Interesse einer langfristig ausgerichteten chinesischen Geopolitik. Solche Maßnahmen provozieren massiven Widerstand in der lokalen Bevölkerung, gefährden den Herrschaftsanspruch chinafreundlicher Eliten und engen den Handlungsspielraum Pekings ein. Chinesische Unternehmen und Politiker haben daher ein beträchtliches Interesse, auf die Einbindung größerer Bevölkerungsgruppen hinzuwirken und Wohlfahrtsgewinne breiter zu streuen.

In Zeiten amerikanisch-chinesischer „Entkopplung“ und ökonomischer Eigenständigkeitsbestrebungen ist die Neue Seidenstraße das derzeit gehaltvollste Projekt zur Stärkung einer multilateralen, arbeitsteiligen Weltwirtschaftsordnung. Dabei hat es China geschafft, für sich eine Führungsrolle zu beanspruchen, die sich in steigendem Einfluss niederschlägt – kurzfristig im wachsenden Anteil chinesischer Unternehmen an Investitionen und Handel in den Volkswirtschaften entlang der Neuen Seidenstraße, längerfristig in einer schleichenden „Sinisierung“.

Während die Weltöffentlichkeit gebannt auf die Scharaden des chinesisch-amerikanischen Handels- und Technologiekriegs schaut, legt Peking weitgehend unbemerkt die Basis für eine weltwirtschaftliche Führungsrolle. Die europäische Wirtschaft täte gut daran, das Potenzial der Belt and Road Initiative stärker für sich zu erschließen und das Feld nicht einfach ihren chinesischen Konkurrenten zu überlassen.

 

Prof. Dr. Markus Taube ist Inhaber des Lehrstuhls für Ostasienwirtschaft / China an der Mercator School of Management und Direktor der IN-EAST School of Advanced Studies an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Gründungspartner von THINK!DESK China Research & Consulting und amtierender Präsident der Euro-Asia Management Studies Association (EAMSA).

 

Siehe dazu auch das Projekt „On the New Silk Road“ unseres Schwestermagazins Berlin Policy Journal. www.berlinpolicyjournal.com/on-the-new-silk-road.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 3, November 2019 - Februar 2020, S.18-21

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