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01. Sep 2005

Canetti und Versailles

Vor 100 Jahren wurde Elias Canetti geboren – willkommener Anlass, sich wieder einmal seinen politischen Einsichten zuzuwenden, speziell dem „Deutschland von Versailles“

Jeder politisch und historisch Interessierte kennt den Satz von Otto Wels, gesprochen in der letzten halbwegs freien Debatte des Reichstags: „Die Sozialdemokratie ist wehrlos, aber nicht ehrlos.“ Ein mutiges Bekenntnis, eine große Parlamentsrede. Aber von Hundert, die diesen Satz schon einmal gehört haben, dürfte doch nur eine Handvoll den Kontext kennen, in dem er fiel. Das Internet macht es heute möglich, sich die gesamte Rede als Tondokument herunterzuladen – und dabei erlebt man eine Überraschung. Wels nämlich beginnt mit der außenpolitischen Lage Deutschlands, er erinnert an den Versailler Vertrag und vor allem an die Stellungnahme der Sozialdemokratie 1919, als die Unterzeichnung anstand: Deutschland, so hatte die Partei der linken Demokratie damals erklärt, sei angesichts der Macht der Entente-Sieger zwar wehrlos, aber nicht ehrlos. Wiederum, so der Tenor der Rede von Wels, stehe man nun vor einem übermächtigen, diesmal innenpolitischen Gegner, der seine Bedingungen zwar momentan diktieren könne, damit aber noch nicht das Recht auf seiner Seite habe. Der letzte sozialdemokratische Redner im Reichstag bezog die Legitimation für seinen Angriff auf Hitlers Ermächtigungsgesetz aus dem kontinuierlichen Kampf seiner Partei gegen das Versailler Vertragswerk. Ähnlich hätten die Kommunisten argumentieren können, denen kein anderer als Lenin den Kampf gegen den Vertrag zur Pflicht gemacht hatte – war doch die junge Sowjetunion von den Verhandlungen ausgeschlossen worden.

Es ist der 100. Geburtstag von Elias Canetti, der uns zu diesem Thema zurückbringt. Hatten wir doch als Studenten „Masse und Macht“ aufgesogen wie ein Schwamm – nun bot das runde Datum, in allen Feuilletons gebührend gefeiert, einen willkommenen Anlass, uns wieder einmal den politischen Einsichten dieses Denkers zuzuwenden. „Das Deutschland von Versailles“ heißt ein Kapitel in dem Buch. Und es ist hier, wo man die seither berühmt gewordene Definition findet: „Wald und Heer hängen für den Deutschen auf das Innigste zusammen, und es lässt sich das eine so gut wie das andere als das Massensymbol der Nation bezeichnen; sie sind in dieser Hinsicht geradezu ein und dasselbe.“

„Es ist dabei von Bedeutung“, fährt Canetti fort, „dass immer von einem Diktat, nie von einem Vertrag die Rede war. ‚Diktat‘ erinnert an die Sphäre des Befehls.“ Nun lässt Canetti unerwähnt, dass es sich ja in der Tat nicht um ein durch Verhandlung erzieltes Übereinkommen der ehemaligen Kriegsgegner handelte – von den eigentlichen Verhandlungen blieb die deutsche Delegation ausgeschlossen –, sondern um ein Dokument, das die deutsche Seite nur noch, als es dann ausgefertigt war, unterzeichnen oder, angesichts der militärischen Verhältnisse unrealistisch, ablehnen konnte. Ein unter solchen Bedingungen unterzeichneter Vertrag kann aber keine echte Legitimation für seine dauerhafte Einhaltung beanspruchen; Verträge, die unter Zwang geschlossen werden, binden nun einmal nicht.

Canettis Werk, vor allem das aphoristische, kennt den Unterschied von These und Begründung kaum – meist ist es ja eher die gesteigerte Intensität, die schiere Wucht seiner Sätze, die für die Evidenz sorgt. So auch hier. Merkwürdig, dass den Moralisten das eigentliche moralische Problem des Versailler Vertrags – die Belastung der Deutschen mit der ganzen Kriegsschuld – nicht berührt, so wenig übrigens wie das wirtschaftliche Problem der Reparationen, das doch durch die zwanziger und dreißiger Jahre zu immer neuen Plänen führte. Nein: Es ist die Rüstungsbegrenzung, die Canetti als das Grundproblem ansieht. „Ein einziger, fremder Befehl, der Befehl des Feindes, darum ,Diktat‘ genannt, hatte dieses ganze herrische Treiben des militärischen Befehls von Deutschen an Deutsche unterbunden. Wer das Wort vom ,Versailler Diktat‘ hörte oder las, empfand auf das Tiefste, was ihm weggenommen war: die deutsche Armee. Ihre Wiederherstellung erschien als das einzige, wirkliche Ziel. Mit ihr würde alles wieder werden, wie es früher war. Die Bedeutung der Armee als nationales Massensymbol war überhaupt nicht erschüttert worden; der tiefere und ältere Teil von ihr stand noch unberührt da: als Wald.“

Es scheint ein abergläubisches Hängen an den Symbolen zu sein, das die Deutschen damals motivierte. Dass ein Staat ohne Armee keine Möglichkeit hat, den Schutz seiner Bürger zu garantieren, wie es doch seine erste Aufgabe wäre, spielt im Denken Canettis keine Rolle. Waldmenschen, Waldschrate sind ihm die Deutschen, ein zum Kollektiv gewordenes Monstrum, das sich zwanglos der Monster-Galerie seiner literarischen Figuren einfügte; es passte zum Sammlerwahn des Sinologen Kien aus der „Blendung“ und zu den anderen ins Pathische gesteigerten Charakterbildern seines literarischen Werkes. In einer an sich durchaus friedlichen Umwelt, so will Canetti dem Leser nahe legen, gab es eine Nation, die aus Gründen, die nur durch tiefe Symbolexegese zu ermitteln sind, partout die Souveränität über ihren Wehrhaushalt beanspruchte. Man hat den Eindruck, dass das Urteil über den ganzen Fragenkomplex für den Denker und Schriftsteller, fast wie in einem Werk Kafkas, schon feststand, bevor er sich an seine Begründung machte. Für die Wirklichkeit der Zwischenkriegszeit fehlte Canetti der Sinn; plausibel sind seine Sätze nur, wenn man sich entschließt, sie auf Treu und Glauben hinzunehmen.

Was soll uns Versailles heute? Kürzlich traf man sich in einer wissenschaftlichen Buchgesellschaft zur Beratung über förderungswürdige Titel. Eine mehrbändige deutsch-französische Geschichte stand zur Diskussion, erarbeitet von deutschen und französischen Forschern gemeinsam. Eines der löblichen Projekte also, das zwischen ehemaligen Feinden differierende Geschichtsbilder rational diskutierbar machen und wechselseitige Vorurteile auflösen will. Dann kam einer aus dem Kreis auf die gemeine, machiavellistische Frage, bei welchem Forscher welcher Nationalität man denn die Bearbeitung des Versailler Vertrags in Auftrag gegeben habe. Die Antwort schien niemanden ernstlich zu überraschen, aber auch niemanden zu beunruhigen: Die Verantwortung für den entsprechenden Band liegt bei einem französischen Historiker. Und plötzlich schien uns diese kleine Szene ein unvergleichliches Licht auf die deutsche Intelligenz zu werfen. Diese Intelligenz ist ungemein gebildet, mit allen Wassern historiographisch avancierter Theorien gewaschen, ihren Hayden White weiß sie noch im Schlaf auswendig und über die „Erfindung von Traditionen“ könnte sie aus dem Stand einen abendfüllenden Vortrag halten. Was dieser Intelligenz fehlt, ist der politische Instinkt, also – geben wir es nur zu – eine animalische Qualität. Denn zur Politik gehört eine vitale Lust am Kampf und ein physischer Sinn für Machtverhältnisse, der sich nicht im Seminar erlernen lässt. Ob wir uns solche politischen Tiere unter den gelehrten Köpfen wünschen sollen, ist die eine Frage. Aber was ist, wenn sie in Deutschland gänzlich aussterben?

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2005, S. 106 - 107

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