Bush oder Kerry: Wahl ohne Alternativen?
Der amerikanische Wahlkampf und transatlantische Perspektiven
Die Präsidentenwahl in den USA steht kurz bevor, doch die Europäer wissen immer noch nicht
recht, was sie erwarten wird. Christian Hacke, einer der besten Amerika-Kenner in Deutschland,
stellt die Alternativen Bush und Kerry gegenüber. Sein Ergebnis: Kerry unterscheidet sich außenpolitisch
kaum von Bush. Die Europäer könnten es mit ihm sogar schwerer haben als mit Bush.
Aber Kerrys Wahl ist ohnehin längst nicht sicher.
Die Welt schaut am 2. November 2004 gebannt auf Washington, setzt doch gerade das alte Europa unverhohlen große Hoffnungen auf eine zukünftige Präsidentschaft von John F. Kerry.1 War man noch im Zuge des Antiterrorkampfes verständnisvoll gegenüber manchen imperialen Attitüden von Präsident George W. Bush, so ist Widerstand gewachsen, seitdem Präsident Bush, angefeuert von neokonservativen Falken im Pentagon, in Irak einmarschierte. Er konnte den Diktator Saddam Hussein zwar stürzen, aber seitdem droht dieses Land in Chaos und Bürgerkrieg zu versinken.
Auch nach Übertragung von Verantwortung und formaler Souveränität an die irakische Übergangsregierung Ende Juni 2004 bleibt die Lage prekär. Die problematische Kriegsbegründung, Amerikas Versagen bei der Wiederherstellung von Ordnung und Frieden und nicht zuletzt die Bilder von Abu Ghraib haben dafür gesorgt, dass Amerikas Ansehen im Irak, im Nahen Osten und in der Welt zerrüttet erscheint wie seit Generationen nicht. Kein Amtsinhaber hat im 20. Jahrhundert in der Welt den Trend zum Antiamerikanismus so befördert wie Präsident Bush. Der Schaden für Amerikas Ansehen, für seine Rolle als zivilisatorisches Vorbild und als sanfte Hegemonialmacht könnte dramatischer nicht sein. Auch die Länder und Eliten, die bisher von Amerikas Führungsrolle profitiert haben, befürchten jetzt fatale Konsequenzen für ihre amerikafreundliche Interessenorientierung. Es ist heute schwer, als Freund Amerikas für Verständnis und abgewogenes Urteil zu werben. Die Emotionen wogen hoch, Antiamerikanismus begründet zunehmend Identität und Selbstverständnis von ehemals befreundeten Staaten und Regierungen. Massendemonstrationen gegen den Irak-Krieg in Europas Hauptstädten und in der Welt belegen, was die Europäer von Bushs Außenpolitik (und der seiner Verbündeten) halten.
Doch frappanterweise zeigen sich die Regierung Bush und ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung, vielleicht sogar die Mehrheit, von dieser Entwicklung unbeeindruckt. Diese trotzig-nationalistisch-missionarische Entwicklung in den USA ist nachhaltiger, als die inzwischen abgeebbte Hysterie um „freedom fries“ vermuten lässt. Im Krieg gegen den Terror erwartet man von den Europäern bedingungslose Solidarität: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, erklärte Präsident Bush. Sein manichäisches Weltbild provoziert Kritik an der amerikanischen Irak-Politik und Gegenmachtbildung, vor allem in Europa. Während die Kritik an der amerikanischen Irak-Politik Sinn macht, laufen die weiter reichenden Gegenmachtbildungen auf ein alternatives weltpolitisches Modell hinaus, den Gegenentwurf zur unipolaren Welt. Deshalb stehen die transatlantischen Beziehungen und vor allem die Außenpolitik der Deutschen und Franzosen unter dem Motto: Warten auf das Ende des Bush-Alptraums. Wer sich zur Zeit in transatlantischen Institutionen wie der NATO umhört, erfährt, dass es um die Gemeinschaftlichkeit alles andere als gut bestellt ist. Zwar funktioniert die tagespolitische Kooperation, wenn auch mühsam, aber alle großen konzeptionellen Fragen – zukünftige Mission der NATO, innere Struktur, Integration neuer Mitglieder etc. – sind von beiderseitigem Misstrauen überschattet. So hoffen Europäer auf einen erlösenden Kurswechsel in Washington am 2. November, der – wenn überhaupt – nur mit einem Machtwechsel erreicht werden kann. Es bleibt offen, ob Präsident Bush wie sein Vorbild Ronald Reagan in einer zweiten Amtsperiode kooperativer, multilateraler und weitsichtiger vorgehen wird, die amerikanische Außenpolitik wieder entideologisiert und entmilitarisiert.
Aber ist der Kandidat John Kerry der geeignete Hoffnungsträger für europäische Sehnsüchte nach den „good old days“ der Clinton-Jahre, der als Hegemon mit Samthandschuhen die weltordnungspolitischen Interessen den Europäern und der Welt vermitteln kann? Wie stehen Kerrys Chancen auf den Wahlsieg, und wie wahrscheinlich ist es, dass er tatsächlich eine andere Politik betreiben wird?
Rätselhafter Wahlkampf
Die Kerry-Campaign begann mit einem Paukenschlag: „George Bush verfolgt die arroganteste, unsinnigste, rücksichtsloseste und ideologischste Außenpolitik in der neueren Geschichte unseres Landes“,2 donnerte Kerry in seiner ersten außenpolitischen Grundsatzrede im Dezember 2003. Seither fehlt diese Anklage bei keinem Auftritt des Kandidaten, und sie hat nach den abscheulichen Folterbildern aus dem Iraker Gefängnis Abu Ghraib noch an Schub gewonnen. Rhetorisch befindet sich Kerrys Kritik im Einklang mit den alten Europäern. Doch Kerrys Positionen, seine Konzepte und Lösungsvorschläge für die verfahrene Situation sind nur schemenhaft auszumachen. Sie zeigen wenig Klarheit oder Alternative, für manche sogar Ratlosigkeit. An diesem Bild inhaltlicher Schwäche konnte auch der solide, aber wenig inspirierende Parteitag der Demokraten nichts ändern. Die ausländischen Medien mochten den Auftritt Kerrys und seiner Partei zwar hoffnungsvoll goutieren, aber die Reaktion in den USA blieb verhalten, wie der vergleichsweise geringe „post-convention bump“, der Sprung in den Umfragewerten zeigt.
John Kerrys außenpolitische Vorstellungen lassen sich oft nur mühsam vom jetzigen Amtsinhaber abgrenzen, vielmehr decken sie sich in zentralen Fragen wie z.B. mit Blick auf Irak: pünktliche Übergabe der Autorität an die Iraker, Beibehaltung eines starken amerikanischen Einflusses für die nächsten achtzehn Monate, Engagement der NATO und Beibehaltung der militärischen Autorität im Irak. Kerry hat als Senator für den Krieg gestimmt. Damit befindet er sich im Mainstream der Demokratischen Partei: Auch Bill Clinton erklärte jüngst, er halte den Irak-Krieg für gerechtfertigt.3 Selbst der als Speerspitze der Linken missverstandene Gouverneur Howard Dean hatte sich für militärisches Engagement der USA ausgesprochen, frei von den Zwängen internationaler Institutionen. Ähnlich argumentierte der Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, Senator John Edwards. Wenngleich Wahlkämpfer wie Ted Kennedy und Al Gore in Irak „Bushs Gulag“4 ausmachen wollen, die Gleichförmigkeit der programmatischen Ausrichtung zwischen Bush und Kerry kann nicht geleugnet werden.
Folglich müssen sich die Europäer auch unter Führung eines Präsidenten Kerry auf eine robuste Außenpolitik der Weltmacht USA einstellen, erklärte dieser doch unmissverständlich: „Als Präsident werde ich unsere Sicherheit weder einer anderen Nation noch irgend einer Institution überlassen, und Gegner werden keinen Zweifel haben an meiner Entschlossenheit, wenn nötig, Gewalt einzusetzen.“5 Den Krieg gegen den Terrorismus will Kerry, im Gegensatz zur Mehrheit der Europäer, ohne Wenn und Aber militärisch gewinnen. Dabei macht er sich allerdings die liberale Sicht zu Eigen, dass der islamische Fundamentalismus die – nach Faschismus und Kommunismus – dritte große Herausforderung an den demokratischen Westen ist6 und auch unter Einfluss nichtmilitärischer Mittel an den gesellschaftlichen Wurzeln bekämpft werden muss. Aber Kerry fordert unmissverständlich die Todesstrafe für Terroristen und vermeidet klare Stellungnahmen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Gefangenenlagers auf Guantánamo Bay. Auch in der Sicherheitspolitik teilt er die zentralen Auffassungen der Regierung Bush. Er schweigt zum expandierenden Budget des Pentagon.
Allerdings setzt er zwei neue außenpolitische Akzente: Er betont einen „new realism“7 in der Tradition von Präsident Clinton – „ohne die ideologische Starrheit, die uns unsere natürlichen Verbündeten auf der ganzen Welt entfremdet hat.“8 Folglich betrachtet er die neokonservative Idee einer Demokratisierung des Nahen Ostens unter Einschluss gewaltsamer Mittel skeptisch. Aber er befürwortet überwältigende militärische Stärke; sie würde jedoch von ihm als Präsident sehr bedachtsam eingesetzt werden. Diese Unterscheidung hebt Joseph Biden, der ranghöchste Demokrat im Auswärtigen Ausschuss des Senats, besonders eindrucksvoll hervor: Er befürchtet als schlimmste Konsequenz der Entwicklung im Irak eine Vertiefung des Misstrauens innerhalb der Demokratischen Partei gegenüber dem Gebrauch militärischer Macht.9 Folglich könnten Europäer versucht sein, in einem Präsidenten Kerry einen Hoffnungsträger zu sehen. Doch drohen hier Fehlschlüsse? Die Geschichte zeigt, dass es fast immer demokratische Präsidenten waren, die in Tradition von Woodrow Wilson den Missionsgedanken auch im Kalten Krieg hochhielten, mit militärischer Eskalation wie z.B. in Vietnam verknüpften und fatale Konsequenzen provozierten. Auch die „humanitäre Intervention“ als Produkt der Krisen und Kriege nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ist keine Idee der Republikaner!
Unentschiedenheit oder Arroganz?
Zum neuen außenpolitischen Realismus von John Kerry gehört also die Überzeugung, dass der Terrorismus nicht nur, aber auch militärisch bekämpft werden soll. Ihm muss der gesellschaftspolitische Nährboden entzogen werden. Das kommt europäischen Vorstellungen nahe und könnte mehr transatlantische Gemeinsamkeit in der Terrorismusbekämpfung befördern, wie auch Kerrys Forderung, die amerikanische Maklerrolle im israelisch-palästinensischen Konflikt wieder aufzugreifen. So laufen Kerrys Überlegungen auf das klassische liberale Programm hinaus: Wirtschaftshilfe, Überwindung gesellschaftspolitischer Rückständigkeiten, Bekämpfung von Krankheit, Armut und Unwissen. Kerry möchte im Kampf für eine bessere Welt die Rolle der USA als zivilisatorisches Vorbild, wie zuletzt von Präsident Jimmy Carter personifiziert, wieder beleben: „Wir müssen wieder beginnen, auf vielen Gebieten zu führen, an vielen Orten und mit einer weiteren Definition unserer nationalen Interessen.“10 Daraus könnte aber ein außenpolitisches Dilemma für Kerry entstehen – sein „neuer Realismus“ definiert einerseits nationale Interessen militärisch enger, andererseits sollen die Interessen ökonomisch und politisch ausgedehnt werden. Man wittert idealisierte Vorstellungen, die Michael Mandelbaum als „Foreign Policy as Social Work“11 verspottet hat. Kerrys schmale Gratwanderung des „Ja, aber“ reflektiert diese Einstellung, die die Amerikaner nach dem 11. September 2001 und wohl auch beim Irak-Krieg immer weniger goutieren. Verliert auch deshalb Kerrys Wahlkampf an Kontur und Kraft?
Viele Amerikaner befürchten, dass – wie 1993 bis 2001 Bill Clinton vorexerziert hat – auch Kerry eine Außenpolitik der selbstquälerischen Unentschiedenheit mit zweifelhaften Ergebnissen betreiben könnte – gerade nach dem 11. September 2001 und mit Blick auf Irak für viele Amerikaner ein Alptraum. Aber aus liberal-demokratischer wie auch aus europäischer Sicht wird diese Haltung als kluge Zurückhaltung gelobt. Angesichts der brisanten heutigen weltpolitischen Situation ist eine zögerliche außenpolitische Einstellung Kerrys für viele Amerikaner vielleicht noch verheerender als Bushs geradlinige Arroganz.
Kerrys Stärke liegt vor allem in seinem kooperativen und geschmeidigen außenpolitischen Stil. Er umwirbt Amerikas liberale Internationalisten wie auch die verstimmten Verbündeten damit, die USA auch als Führungsmacht stärker in den Rahmen gemeinschaftlicher Politik und vor allem mit mehr Verständnis für die globalen und regionalen Gemeinschaftsorganisationen zu führen – nicht demütig, aber bescheiden. Kerry spielt zwar geschickt auf der Klaviatur der europäischen Beschwerden gegenüber dem Amerika George W. Bushs, aber es scheint, dass er damit die eigene Bevölkerung noch zu wenig beeindrucken kann. Deutsche und Europäer sollten sich mit Blick auf den 2. November nicht in falsche Hoffnungen flüchten. Viele transatlantische Verstimmungen reichen bis in die Clinton-Jahre zurück. Sie sind weniger Ausdruck einer spezifischen außenpolitischen Konstellation während der Bush-Regierung, als vielmehr die zwangsläufige Folge des historisch unvergleichlichen Machtanstiegs der USA zur letzten und einzigen Weltmacht. Im unipolaren Zeitalter und unter den Bedingungen der Globalisierung können offensichtlich nur die USA Stabilität garantieren, Dynamik erzwingen und sich zugleich zum eigenen Vorteil größtmögliche Handlungsfreiheit sichern. Diese neue Machtasymmetrie mit Blick auf die Schlüsselfragen von Krieg und Frieden war und ist für Europäer und für den Rest der Welt nur dann erträglich bzw. hinnehmbar, wenn man in Washington geschmeidige Diplomatie betreibt.
Präsident Bush nimmt man nicht nur übel, was er tut, sondern vor allem wie. Seine mangelnde Rücksichtnahme ist jedoch mehr als undiplomatischer Stil, sondern verändert auch zunehmend substanziell die Politik, wenn er konsequent keine Rücksicht nimmt, keine Anpassung an neue weltpolitische Realitäten betreibt, sondern umgekehrt die rücksichtslose Anpassung der Staatenwelt an die USA fordert und sich, wie im Irak-Krieg, über alle Bedenken hinwegsetzt. Dasselbe gilt auch für Bushs Unverständnis gegenüber den neuen globalen Fragen, seiner Kritik gegenüber dem Haager Gerichtshof und der Umweltpolitik.
Aber auch unter Kerry ist mit einer veränderten amerikanischen Position zum Kyoto-Protokoll kaum zu rechnen. Er versucht einen möglichst schmerzfreien Spagat: Einerseits schürt er die Erwartung, unter ihm werde es eine Rückkehr zu der diplomatischen Geschmeidigkeit der Clinton-Präsidentschaft geben. Das würde keine substantielle Veränderung der Politik bedeuten, aber den barschen Ton und rücksichtslosen Unilateralismus in Washington beenden. Auch in der Welt der Diplomatie macht der Ton die Musik: Durch einen respektvolleren und freundlicheren Umgang mit einander können auch handfeste politische Fortschritte entstehen. Aber reicht das aus, um internationales Ansehen zurück zu gewinnen? Andererseits sucht Kerry die amerikanischen Wähler, die im Zeichen von Terror und Irak-Krieg erstaunlich fest hinter Präsident Bush stehen, von seinem außenpolitischen Kurs zu überzeugen. Dieser Zwang zur Ambivalenz von Kerrys außenpolitischer Rhetorik ist und bleibt Stärke und Schwäche zugleich. Eine kompromisslose klare außenpolitische Alternative zu Bush ist im Land unpopulär, aber volle Zustimmung zu Bush macht ebenso wenig Sinn. Deshalb bleibt Kerry ambivalent und keiner weiß genau wofür er außenpolitisch steht. Erst nach dem 2. November wird sich zeigen, ob er nach einer Wahlkampfstrategie der Halbheiten eine eindeutige klar konturierte, ja alternative Außenpolitik zu Bush betreiben würde. So bleibt es im Spätsommer 2004 um die Wahlchancen des Kandidaten Kerry weder wirklich gut, noch richtig schlecht bestellt. Er liegt laut Umfragen Kopf an Kopf mit Präsident Bush. Die große Unwägbarkeit liegt – wie schon 2000 – in der Kandidatur des Verbraucheraktivisten Ralph Nader auf der Linken, der Kerry entscheidende Wählerstimmen rauben könnte.12
Auch im Wahlkampf präsentieren sich die USA politisch gespaltener denn je: Man rechnet mit lediglich 10% Wechselwählern, die übrigen rechnen sich zu gleichen Teilen eindeutig einem der beiden großen Lager zu. Die entscheidende Trennlinie zwischen republikanischen und demokratischen Wählern ist dabei nicht mehr so sehr das Einkommen, die Rasse oder die geographische Region, sondern die Religion: Amerikaner, die mindestens einmal die Woche in die Kirche gehen, wählen mehrheitlich republikanisch. Diese Polarisierung hat sich in den letzten zehn Jahren immer mehr verstärkt.13 Die schlechte Nachricht für Kerry und für die Demokraten insgesamt ist, dass die christliche Rechte über eine effiziente Mobilisierungsmaschinerie verfügt. Das könnte bei einer gespaltenen Wählerschaft und einer notorisch niedrigen Wahlbeteiligung entscheidend sein. Darüber hinaus zeichnet sich seit den 1980er Jahren eine stetige Hinwendung zum Konservatismus in der amerikanischen Bevölkerung ab. Nicht nur die religiöse Rechte, sondern die diversen konservativen Verbände, Verlage, Medien und Institutionen verzeichnen überproportional großen Zulauf und Erfolg. Auch wird die Republikanische Partei, insbesondere im Repräsentantenhaus, immer konservativer. Moderate Abgeordnete sind seit der Gingrich-Revolution 1994 selten geworden.14
Dieser Ruck nach rechts, durch den 11. September 2001 zusätzlich beschleunigt und militarisiert, beeinflusst die aktuellen Wahlkampfthemen von John Kerry negativ. Kerrys Kritik an der wachsenden Arbeitslosigkeit und an der zunehmenden internationalen Isolierung Amerikas im Zuge des Irak-Krieges greift bisher wenig. Kerrys Vorwurf, Bush habe das Land in die internationale Isolation geführt, wirkt ein wenig hilflos. Seit die letzte amerikanische Resolution zum Irak im UN-Sicherheitsrat mit 15:0 Stimmen angenommen worden ist und im Irak Amerikas Wunschkandidat Ghazi al-Yawar das Präsidentenamt bekleidet und internationales Ansehen genießt, ist die vermeintliche Isolation der USA zumindest weniger augenfällig. Auch die Bilder eines freundlichen und harmonisch gestimmten Präsidenten Bush auf den Gipfeln und Auslandsbesuchen werden innenpolitisch von den Republikanern genutzt, um Bush in der Rolle des versöhnlichen Staatsmanns und erfolgreichen Weltenlenkers zu präsentieren.
Hölzern und humorlos
Folglich ist Präsident Bush erstaunlicherweise bisher nicht in das Umfragetief gefallen, auf das die alten Europäer so sehnsüchtig zu warten scheinen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es John Kerry bislang an zündenden Ideen fehlt. Ihm fehlt ein bahnbrechendes Konzept zur Krankenversicherung, ein bewegendes Bekenntnis zu effektivem Multilateralismus, ein wegweisender Vorschlag für Amerikas Vermittlerrolle im israelisch-palästinensischen Konflikt, ein rhetorischer Paukenschlag, der das zivilisatorische Vorbild und den Führungsanspruch der USA wieder thematisiert. Bislang hat er nicht einmal ein überzeugendes Etikett für sein Programm gefunden – wie es sowohl der „New Democrat“ Clinton als auch Bush mit seinem inzwischen abgelegten „compassionate conservatism“ vermochten. Doch es fehlt noch mehr: Kerry wirkt zu distanziert, zu diszipliniert. Er ist kein Kommunikator, er wirkt vielfach hölzern, emotionslos. Es fehlt ihm an Charme und Humor – ein wichtiger Unterschied zum letzten „Ostküstenaristokraten“ im Weißen Haus, John F. Kennedy. Das könnte entscheidend sein, denn Bush ist der erheblich jovialere, volksnähere Kandidat. Wird deshalb der blutleere und kraftlos erscheinende Kerry im November erfolglos bleiben?
In Amerika werden Wahlen selten vom Herausforderer gewonnen, sondern vielmehr vom Amtsinhaber verloren. Daher ist nach wie vor ein Wahlsieg Kerrys nicht völlig ausgeschlossen. Bush hat das Land tief gespalten. Aber im Zeichen von Krieg und Kampf erwarten Amerikaner konsequentes und starkes Handeln, und Bush weiß die Angst der Bevölkerung vor weiteren Terroranschlägen in politisches Kapital umzumünzen. Der Kandidat Bush war 2000 angetreten, eine überparteiliche Politik der Versöhnung zu betreiben und hat außenpolitisch mit dem Isolationismus geflirtet. Als Präsident aber polarisierte er innenpolitisch und führte seitdem zwei Kriege, einen gegen die Grundsätze des Völkerrechts und den erklärten Willen der internationalen Gemeinschaft und unter problematischen politischen und völkerrechtlichen Prämissen.
Aber vor zu viel Kerry-Optimismus sei gewarnt: Die verständliche Abneigung gegen Bush droht vielen, nicht nur in Europa, den nüchternen und kritischen Blick auf Kerry zu verstellen. Er ist nicht Europas Erlöser in Washington. Ungeachtet des Wahlausgangs muss Europa auch nach dem 2. November mit einer robusten, interessenorientierten und militärisch geprägten Außenpolitik der USA rechnen. In diesem Sinne könnte sich ein Präsident Kerry für die Regierenden in Europa als unangenehme Überraschung erweisen. Denn wo Bush ein vergleichsweise bequemes Feindbild abgibt, wäre der kultivierte, politisch geschmeidige Mann aus Massachusetts in der Sache und in seinen Ansprüchen an Europa genau so hart, aber nicht so leicht zu dämonisieren. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der entstehenden Unipolarität hat sich der strategische Fokus der USA von Europa wegbewegt und anderen Krisenherden und strategischen Herausforderungen zugewandt. Der 11. September hat als Katalysator diese Entwicklung beschleunigt. Die USA werden auch unter einem Präsidenten Kerry einen globalen Kampf gegen den Terrorismus führen.
Die Zusammenarbeit könnte sich allerdings entscheidend verbessern, weil in Stil und Auftreten ein Präsident Kerry Europa und den Rest der Welt mit dem sanften Hegemon wieder versöhnen könnte. Doch müssen Europäer stärker als bisher akzeptieren, dass sich die amerikanische Gesellschaft in den vergangenen Jahren konservativ entwickelt. Der „American Exceptionalism“ hat eine lange Tradition, aber der spezifisch amerikanische Konservatismus der letzten Jahre, der sich durch eine Mischung aus „Übertraditionalismus und klassischem Liberalismus“15 auszeichnet, verdrängt alte, lieb gewonnene liberale Wertvorstellungen, auch in der Außenpolitik. Misstrauen gegenüber dem Staat, Patriotismus und Bevorzugung von Freiheit gegenüber Gleichheit werden dabei ins Extrem gesteigert, andere konservative Ideale wie Skepsis gegenüber Fortschritt, Glaube an Traditionen und Hierarchien und Eliten eher vernachlässigt. Hinzu kommt eine für das säkulare Europa geradezu gespenstische Religiosität. Dies ist die neue kulturelle Melange, die den amerikanischen Liberalismus nach 1945 zusehends verdrängt und heute der amerikanischen Gesellschaft eine konservativere Prägung verleiht. Konnten die Interessengegensätze im transatlantischen Verhältnis bislang durch gemeinsame Werte austariert werden, so steigt jetzt auch auf der Werteebene das Unverständnis auf beiden Seiten drastisch an. Dahinter steckt auch viel machtpolitische Frustration der Europäer, wie auch entsprechende Arroganz in Washington.
Ins Bett küssen
Als Fazit läst sich festhalten: Falls John Kerry zum Präsidenten gewählt werden sollte, scheint eine Rückkehr in die gute alte Zeit transatlantischer Beziehungen ausgeschlossen – zuviel hat sich unter Präsident Bush strukturell und stimmungsmäßig verändert.
Sollte Präsident Bush wieder gewählt werden, dann müssen die Europäer sich warm anziehen. Seiner Arroganz der Macht mit imperialen Zügen lässt sich nur begrenzt mit einer Arroganz der Ohnmacht begegnen. Seine Wiederwahl würde er als Bestätigung seiner Außenpolitik interpretieren. Damit würde sich der neue unipolare Trend in der Weltpolitik weiter verstärken. Folglich wird die Entscheidung am 2. November nicht ohne Paradoxie sein: Wurde Präsident Bush senior 1991 trotz überzeugender Außenpolitik und nach einem erfolgreichen und gerechtfertigten Irak-Krieg abgewählt, so ist nicht auszuschließen, dass sein Sohn trotz einer hochproblematischen Außenpolitik, eines kontroversen und kostenintensiven Krieges und eines dramatischen Ansehensverlusts der USA in der Welt wiedergewählt wird.
Europa wird in jedem Fall seine diplomatischen Künste verfeinern müssen, wie Walter Russell Mead andeutet: „Wir können nicht zur Unterwerfung getreten werden, aber man kann uns leicht ins Bett küssen.“16 Klugheit und Verführung als Ausdruck von sanfter Macht sollten nicht unterschätzt werden, auch bei der Wiederbelebung alter Beziehungen im transatlantischen Verhältnis. Bisher zeichnete sich Europa nicht nur durch mangelnde Stärke aus, sondern auch durch fehlenden Charme und politische Geschmeidigkeit; beides wird, zugegebenermaßen, auch bei einem zukünftigen Präsidenten Bush wenig Eindruck machen, aber vielleicht mehr auf einen zukünftigen Präsidenten Kerry.
Deshalb wünscht der Rest der Welt heute, im Zeichen weltpolitischer Probleme von Globalisierung, Terrorismus, regionalen Krisen und nicht zuletzt angesichts neuer globaler Fragen eine entsprechend kluge Mischung von harten und weichen, kreativen und nichtmilitärischen Machtmitteln und entsprechend auch eine neue Melange von Uni- und Multilateralismus. Aber das wäre als Ergebnis der Präsidentschaftswahlen am 2. November 2004 zu schön, um wahr zu sein.
Anmerkungen
- Meinem Mitarbeiter Patrick Keller danke ich für wichtige Anregungen.
- Vgl. John F. Kerry, Making America Secure Again: Setting the Right Course for Foreign Policy, Rede vor dem Council on Foreign Relations in New York am 3.12.2003, zitiert nach: <www.cfr.org/pub6576/john_f_kerry/making_america_secure_again _setting_the_right_course_for_foreign_policy.php>.
- Vgl. Clinton: Irak-Krieg war richtig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.6.2004.
- William Kristol, Yes, Bush Will Win, in: The Weekly Standard, 14.6.2004.
- Kerry, a.a.O. (Anm. 2).
- Vgl. dazu den klugen Essay von Paul Berman, Terror and Liberalism, New York 2003.
- Dan Balz, Kerry Uses Iraq to Make Case, in: The Washington Post, 6.6.2004.
- Samuel R. Berger, Foreign Policy for a Democratic President, in: Foreign Affairs, Jg. 83, Nr. 3, Mai/Juni 2004, S. 47–63, hier: S. 63.
- Vgl. Sen. Joseph R. Biden, Jr., Fires Next Time, in: The New Republic, 18.6.2004.
- Berger, a.a.O. (Anm. 8), S. 59.
- Michael Mandelbaum, Foreign Policy as Social Work, in: Foreign Affairs, Jg. 75, Nr. 1, Januar/Februar 1996, S. 16–32.
- Eine gute Übersicht der verschiedenen Umfragen bietet <http://www.pollingreport.com/wh04gen.htm>.
- Vgl. David Von Drehle, Political Split Is Pervasive. Clash of Cultures Is Driven by Targeted Appeals and Reinforced by Geography, in: The Washington Post, 25.4.2004.
- Vgl. zur Entwicklung des amerikanischen Konservatismus die hervorragende Studie von John Micklethwait, Adrian Wooldridge, The Right Nation. Conservative Power in America, New York 2004.
- Micklethwait,Wooldridge, a.a.O., S. 341.
- Walter Russell Mead, Goodbye to Berlin?, in: The International Interest, Nr. 75, Frühjahr 2004, S. 19–38, hier: S. 20.
Internationale Politik 9, September 2004, S. 95‑103
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