Gefährliche Freunde
Die Mearsheimer/Walt-Debatte und Amerikas Rolle im Nahen Osten
Kaum eine These hat in den USA seit 1945 so hohe Wellen geschlagen wie die von John Mearsheimer und Stephen Walt zur „Israel-Lobby“. Doch ihrem zentralen Argument, wonach die USA anstelle der einseitigen Parteinahme für Israel wieder ihre überparteiliche Maklerposition im Nahen Osten einnehmen müssen, lässt sich kaum widersprechen.
Schon seit langem sind die USA und Israel nicht mehr die liberalen Demokratien und zivilisatorischen Vorbilder, die sie einstmals verkörperten. In Israel ist seit einiger Zeit ein massiver Werte- und Politikwandel zu beobachten, der von Likud-Regierungen vorangetrieben und nach 1989/90 durch die Immigration jüdischer Aussiedler aus dem ehemaligen Sowjetimperium nochmals erweitert und vertieft wurde. In den USA hat sich seit dem Regierungsantritt von Präsident Bush und vor allem im Zuge des Krieges gegen den Terror ebenfalls ein national-patriotischer Zeitgeist etabliert, der, noch dazu religiös aufgeladen, auch die gemeinsame Wellenlänge in den amerikanisch-israelischen Beziehungen zunehmend antiliberal prägt. Von diesen Entwicklungen kann und darf die Israel-Lobby in den USA nicht ausgenommen werden, wie die neue Studie der renommierten amerikanischen Politikwissenschaftler John Mearsheimer aus Chicago und Stephen Walt aus Harvard eindrucksvoll belegt.
Zu brisant
Schon im März 2006 veröffentlichten Mearsheimer und Walt einen Essay über den Einfluss der Israel-Lobby auf die amerikanische Außenpolitik, der, ursprünglich vom Atlantic Monthly in Auftrag gegeben, dann aber als zu brisant abgelehnt, im London Review of Books erschien. Das Kernargument der beiden lautet: Für die „Nibelungentreue“ der USA gegenüber Israel sei die Israel-Lobby verantwortlich, denn sie habe den Kongress im Würgegriff, starken Einfluss im Weißen Haus, manipuliere die öffentliche Meinung, habe auch den Irak-Krieg von Präsident Bush unterstützt und dränge jetzt zum Angriff auf die iranischen Nuklearanlagen. Damit nötige die Lobby den USA eine Nahost-Politik auf, die den nationalen Interessen der USA widerspreche.
Ist dies Ausdruck von Antisemitismus – oder notwendiger Tabubruch? Jedenfalls hat keine politikwissenschaftliche These seit dem Zweiten Weltkrieg so hohe Wellen geschlagen, mit Ausnahme von George F. Kennans Überlegungen zur Eindämmung der Sowjetunion 1947 und Samuel Huntingtons Diktum vom „Zusammenprall der Kulturen“ (1993).
Zunächst einmal verstehen Mearsheimer und Walt unter „Israel-Lobby“ keinen einheitlichen Block, sondern einen lockeren Verbund verschiedener Organisationen und Personen, deren mächtigster Arm das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) ist. Beide Autoren stellen weder die Legitimität der israelischen Lobby noch Israels Existenzrecht in Frage, wohl aber das gängige Klischee von Israel als einem wertvollen und verlässlichen strategischen Partner. Vielmehr sei, wie eindrucksvoll belegt wird, Israel nach dem Ende des Kalten Krieges zur Belastung für Amerika geworden: „Die bedingungslose Unterstützung Israels untergräbt Amerikas Beziehungen zu anderen Verbündeten, weckt Zweifel an der Klugheit und Moral Amerikas, beflügelt eine Generation antiamerikanischer Extremisten und verkompliziert die US-Bemühungen im Umgang mit einer brisanten, aber wichtigen Region.“
Der Behauptung, Israel und die USA seien vereint durch eine gemeinsame terroristische Bedrohung, entgegnen beide, dass hier Ursache und Wirkung verwechselt würden: „Die USA haben ein Terrorismusproblem, weil sie eng mit Israel verbündet sind, und nicht umgekehrt.“
Auch der Mythos eines Landes, das „großzügige und praktische Unterstützung verdiene, weil es schwach und von Feinden umgeben ist, die es zerstören wollen, und eine moralisch bessere Regierungsform besitzt“, wird zertrümmert. Vielmehr höhle Israel die eigene Demokratie aus, drangsaliere die Palästinenser, verweigere ihnen einen Staat, der diese Bezeichnung verdient, raube Privatbesitz und errichte illegale Siedlungen, sodass von gemeinsamen demokratischen Werten zwischen den USA und Israel keine Rede sein könne. Auch das Bild von Israel als wehrlosem David sei eine Chimäre, in Wirklichkeit sei Israel als einzige Nuklearmacht der militärische Goliath im Nahen Osten.
Der Vorwurf an die Lobby, sie habe sich von einer liberalen Community zu einem rechtskonservativen Instrument gewandelt, wird von den Autoren eindrucksvoll begründet. Besonders seit dem 11. September 2001 sei eine neue Verbindung zwischen Neokonservativen, jüdischen Konservativen und christlichen Zionisten zementiert worden, wie der ehemalige republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, Tom „The Hammer“ DeLay vor der AIPAC dokumentiert: „Ich bin durch Judäa und Samaria gereist und habe auf den Golan-Höhen gestanden. Besetztes Land habe ich nicht gesehen. Ich habe Israel gesehen.“ Für diese Loyalität bedankte sich Benjamin Netanjahu entsprechend: „Danken wir Gott für die christlichen Zionisten. Die Zukunft der Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Staaten hängt vielleicht weniger von den amerikanischen Juden als von den amerikanischen Christen ab.“
Dieses neue rechtslastige Bündnis erscheint den Autoren auch deshalb gefährlich, weil es im „islamistischen Faschismus“ die zentrale Gefahr für den Westen wittere und deshalb den plumpen und gefährlichen Einmarsch in den Irak begrüßt habe. Mearsheimer und Walt hingegen hatten, unterstützt von großen Teilen der amerikanisch-jüdischen Gemeinde wie dem liberal-kosmopolitischen Professor Tony Judt, und auch von der großen religiösen Gruppierung Reform Judaism, den Krieg stets vehement abgelehnt.
Auch weisen die Autoren differenziert nach, dass die Israel-Lobby in Medien, Wissenschaft und Politikberatung alles dafür unternehme, israelkritische Äußerungen im Keim zu ersticken – auf Kosten der Freiheit von Meinung, Forschung und Lehre. Die Beispiele, die sie dafür vorlegen, sind bedrückend: Öffentliche Äußerungen zugunsten der Palästinenser und Araber werden an Hochschulen mittlerweile unter dem Einfluss der Israel-Lobby systematisch verfolgt, Berufungen und Stellungnahmen von israelkritischen Hochschullehrern werden öffentlich angeprangert.
In Israel selbst hingegen herrscht in Medien und Hochschulen eine vibrierende Meinungsvielfalt, die sich wohltuend von der Situation in den USA (und auch von der in Deutschland) unterscheidet.
Wenn in diesen Tagen das Ansehen des Kongresses in den Augen der Amerikaner einen historischen Tiefpunkt erreicht hat, dann mag dies auch mit dem umstrittenen Einfluss der Israel-Lobby zu tun haben: Abgeordnete werden mit Wahlkampfgeldern gelockt, Kritiker abgestraft und in ihrem Wahlkreis durch die Unterstützung israelfreundlicher Kandidaten unter Druck gesetzt, sodass letztlich jeder Senator oder Abgeordnete, der das AIPAC verärgert, politischen Selbstmord riskiert. Expräsident Jimmy Carter erklärt dazu, er sehe „gegenwärtig keine Aussichten dafür, dass irgendein Mitglied des US-Kongresses sagen würde, wir sollten eine ausgewogene Position zwischen Israel und den Palästinensern einnehmen“. Freimütige Diskussion über Israel und die amerikanische Nahost-Politik findet im Kongress faktisch nicht mehr statt – mit tragischen Folgen für die USA und den Nahen Osten.
Die Lobby schlägt zu
Die Einflussnahme der Israel-Lobby endet hier nicht, sondern reicht bis ins Weiße Haus, wie die aktuelle Performance aller Präsidentschaftskandidaten eindrucksvoll bestätigt. Ausnahmslos alle Anwärter äußern sich entschieden proisraelisch, um dem Schicksal zu entgehen, das Howard Dean beim Präsidentschaftswahlkampf 2004 widerfuhr: Er beging den Fehler, den USA eine unparteiische Rolle im arabisch-israelischen Kon-flikt zu empfehlen. Schon schlug die Lobby zu. Sie unterstützte Joseph Lieberman, der Dean Verrat an der israelischen Sache vorwarf.
Darüber hinaus beruht der Einfluss der Israel-Lobby auf das Weiße Haus auf der Tatsache, dass die Spenden jüdischer Geldgeber beispielsweise zwischen 20 und 50 Prozent der Gesamtspenden an die Demokratische Partei und deren Präsidentschaftskandidaten ausmachen. Auch verweisen manche Nahost-Initiativen amerikanischer Präsidenten auf übergebührlichen israelfreundlichen Einfluss, sodass arabische oder palästinensische Verhandlungspartner nicht selten den Eindruck erhalten, „mit zwei israelischen Gruppen verhandeln zu müssen, von denen eine die israelische Flagge zeigt und die andere die amerikanische“.
Mearsheimer und Walt zeigen auf beklemmende Weise, wie die IsraelLobby mit dem Antisemitismusvorwurf praktisch in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in den USA unliebsame Argumentationen zu verhindern versucht. Mit einem solchen Vorwurf werden, bei allem Verständnis für die tiefsitzende Furcht unter amerikanischen Juden, differenzierte Stellungnahmen fast unmöglich gemacht. Der Vorwurf kann zur moralischen Erpressung werden, wenn mutiges Vorpreschen durch Rufmord bedroht wird, wie es die Autoren selbst wiederholt erleben mussten.
Hierbei verstärken sich, folgt man Mearsheimer und Walt, die unschönen Strategien der Israel-Lobby gegenseitig. Denn wenn Politiker wissen, dass es riskant ist, die Politik Israels in Frage zu stellen, wird es für die Medien umso schwieriger, Stimmen zu finden, die bereit sind, der Lobby zu widersprechen. Damit wird der öffentliche Diskurs über Israel zunehmend einseitig.
Die Kritik von Mearsheimer und Walt wirkt überzeugend, aber die jüdische Lobby kann nicht für alle negativen Entwicklungen verantwortlich gemacht werden. Insbesondere die penetrante Selbstüberschätzung der Lobby hätten die Autoren nicht immer für bare Münze nehmen sollen. Auch ist das Gerangel um Einfluss in Washington vielfältiger, als die Studie vermuten lässt. Der jüdische Schwanz wedelt nicht beständig mit dem amerikanischen Hund. Engere Handlungsspielräume für die amerikanische Politik sind oft eher dadurch bedingt, dass Tel Aviv mauert.
Doch sind Mearsheimer und Walt als außenpolitische Realisten weder verrückte Außenseiter noch politisch korrekte Beckenrandschwimmer im Haifischbecken von Politik und Politikwissenschaft, sondern seriöse und weltweit geachtete Wissenschaftler. Ihre Thesen sind keine „Protokolle der Weisen“ aus Chicago und Harvard, sondern couragierte Stellungnahmen zu einem innen- und außenpolitischen Phänomen, das beunruhigen muss.
Deshalb wird dieses Buch heftige Kontroversen hervorrufen, die hoffentlich zu einem Überdenken der Aktivitäten der Israel-Lobby und der amerikanischen Nahost-Politik führen werden. Die USA müssen die einseitige Parteinahme für Israel aufgeben und ihre jahrzehntelange überparteiliche Maklerposition im Nahen Osten wieder einnehmen, lautet das zentrale Argument der Verfasser. Dieser realistischen Einsicht lässt sich kaum widersprechen.
Prof. Dr. CHRISTIAN HACKE, geb. 1943, lehrt Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Zuletzt erschien von ihm die aktualisierte Neuausgabe seines Buches „Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von J. F. Kennedy bis G. W. Bush“ (2005).
Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 118 - 121.