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01. März 2007

Der Wiedervereiniger

Er stellte die Weichen: Hans-Dietrich Genscher zum 80. Geburtstag

Hans-Dietrich Genscher hat in 16 Jahren Amtszeit die Bonner Republik entscheidend geprägt. Und er hat früher und treffsicherer als andere Politiker die wegweisenden Signale gesetzt, die ihn dann zum Architekten der deutschen Wiedervereinigung machten. Am 21. März wird er 80 Jahre alt. Eine Würdigung seines politischen Wirkens.

Seit Außenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau 1919 den Versailler Vertrag entgegennehmen musste, haben insgesamt 27 deutsche Außenminister eine durchschnittliche Amtszeit von rund drei Jahren im Dienst ihres Landes hinter sich gebracht. Nur einer von ihnen hat diese Zeitspanne signifikant überschritten: Hans-Dietrich Genscher.

16 Jahre lang, zwischen 1974 und 1992, hat er als Bundesminister es Auswärtigen an der Seite der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl so maßgeblich die Außenpolitik der Bundesrepublik geprägt, dass er allgegenwärtig zu sein schien. Die Anekdote von den zwei Passagiermaschinen, die sich über dem Atlantik begegnen, und in beiden sitzt Hans-Dietrich Genscher, gehört seither zum tradierten Balladenschatz der Bonner Republik.

Das Auswärtige Amt hat er schon vor 15 Jahren verlassen. In dieser zeitgeschichtlichen Distanz kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass Hans-Dietrich Genscher für die Außenpolitik der Bundesrepublik denselben Rang einnimmt, den Gustav Stresemann für die der Weimarer Republik innehatte: Beide repräsentierten ein liberal-demokratisches, weltoffenes und kooperatives Deutschland.

In der Zeit des Kalten Krieges personifizierte dieser Liberale die beiden zentralen politischen Axiome: den Ausbau der westdeutschen Demokratie im Rahmen westeuropäischer Integration in transatlantischer Bindung und den Willen zur Wiederherstellung der Einheit der deutschen Nation. Herkunft und Biographie Genschers mögen diese Überzeugungen geprägt haben: 1927 in Halle an der Saale geboren, durchlebte er die Zeit des Nationalsozialismus, zuletzt als Angehöriger der Wehrmacht. Seine Generation, die „skeptische“, wie Helmut Schelsky die Alterskohorte der Flakhelfer später nannte, wurde durch die Erfahrung des katastrophalen Weltkriegs entscheidend geformt. Die ideologische Indoktrination der hitlerschen Tyrannei ließ ihn kalt, auch weil sein Elternhaus dagegen immun war. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs entwickelte der junge Genscher einen liberalen und zugleich illusionslosen Pragmatismus, in dem der Freiheitsbegriff eine zentrale Rolle spielte: „Ich habe ... immer wieder an jenen November 1945 zurückdenken müssen, an dem ich eine Versammlung der Liberal-Demokratischen Partei in meiner Heimatstadt besucht habe. Dort trat ein Redner auf, der sagte: ‚Der Liberalismus ist die umfassende Alternative zu jeder Form der Unfreiheit‘.“

Bereits 1946 trat der 19-Jährige in die LDP ein. Vor der kommunistischen Unterdrückung in der SBZ flüchtete Genscher 1952 in den Westen, nach Bremen, wo er sich sofort der FDP anschloss. Dort wurde man rasch auf den intelligenten, redegewandten jungen Anwalt -aufmerksam. 1965 wurde er zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt. Bald wurde die nordrhein-westfälische FDP seine Heimat, Reinhold Maier, Thomas Dehler und Willy Weyer seine politischen Mentoren.

1969 übernahm Genscher in der sozialliberalen Koalition Brandt/Scheel das Amt des Innenministers. In diese Zeit fallen seine zentralen politischen Erfahrungen: Terrorismus, Energiekrise, globaler Nord-Süd-Gegensatz und die neue Ostpolitik von FDP und SPD.

Deutschland, Europa, die Welt

Die erste Phase seines Wirkens als Außenminister von 1974 bis 1982 an der Seite von Bundeskanzler Helmut Schmidt stand im Zeichen neuer weltpolitischer Herausforderungen, europapolitischer Stagnation und deutschlandpolitischer Enttäuschungen, die er mit Schmidt zu überwinden suchte. Dabei entwickelte Genscher eine eindrucksvolle Trias von Deutschland-, Europa- und Weltpolitik, wie sein alljährliches Plädoyer zur deutschen Einheit vor den UN, die berühmte Genscher-Colombo-Initiative für mehr europäische Integration und seine weltpolitischen Bemühungen zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes dokumentieren. Unter der Führung Genschers ergriff Deutschland eine Reihe wichtiger Initiativen in den Vereinten Nationen. Sein Vorschlag eines internationalen Systems zur Berichterstattung über Rüstung wurde 1992 verwirklicht. Genscher warnte schon frühzeitig vor internationalem Terrorismus; er veranlasste Initiativen zur Vermeidung von Flüchtlingsströmen und zur Verhütung internationaler Konflikte.

Vor allem lancierte Hans-Dietrich Genscher 1977 maßgeblich die Initiative zur Unabhängigkeit von Namibia. Im Rahmen der UN-Kontaktgruppe forcierte er die Sicherheitsratsresolution 435, die zur Unabhängigkeit Namibias führte. Unter der außenpolitischen Führung Genschers leistete Deutschland wichtige nichtmilitärische Beiträge zu den Friedensoperationen der UN. 1987/88 wirkte er maßgeblich an der Resolution 598 zur Beendigung des Krieges zwischen Iran und Irak mit. Genscher sprach nicht nur vor den UN bewusst von Weltinnenpolitik, um die Staatenwelt für die neuen globalen Fragen zu sensibilisieren. Er unterstützte auch nachhaltig viele UN-Maßnahmen zur Lösung weltweiter Probleme.

In Europa war es der KSZE-Prozess, der für Genschers Vision einer friedlichen und demokratischen Entwicklung in Gesamteuropa stand. Realistische Entspannung im Sinne der Harmel-Philosophie bedeutete für ihn angemessene militärische Sicherheit und couragierte Maßnahmen zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. In diesem Sinne wurde Genscher, in Abwandlung des Wortes des ehemaligen DDR-Außenministers Winzer, ein demokratischer Revolutionär auf Filzlatschen – im Geist verbunden mit der Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs.

Der Kern des „Genscherismus“

Mit zwei wichtigen Entscheidungen ebnete Genscher das Terrain für die deutsche Wiedervereinigung: In Davos preschte er 1987 weit voraus, als er den Westen aufforderte, Michail Gorbatschow „beim Wort zu nehmen“. Genscher verstand die Politik Gorbatschows nicht als Propagandamanöver, sondern als Chance für die Ost-West-Entspannung: „Sitzen wir nicht mit verschränkten Armen da und warten, was uns Gorbatschow bringt! Versuchen wir vielmehr, die Entwicklung von unserer Seite aus zu beeinflussen, voranzutreiben und zu gestalten!“

Im Mai 1989 hielt er weiter Kurs gegen Widerstände in der Regierung Kohl, in der Regierung Bush sen. und in der Regierung Thatcher, als er die NATO von der geplanten Modernisierung der Mittelstreckenraketen abbrachte. In langen Gesprächen mit US-Außenminister James Baker gelang es ihm, den Amtskollegen von dem ursprünglich geplanten Vorhaben abzubringen. Man stelle sich vor, eine Bundesregierung hätte im Sommer 1989 dafür plädiert, das westliche -Nukleararsenal zu modernisieren! Oder, in Genschers Worten: „Die politische Lage hatte sich derart verändert, dass eine Modernisierung anachronistisch gewirkt hätte. Schon jetzt passte die Modernisierung von Lance nicht mehr in die politische Landschaft.“

Das Wort vom „Genscherismus“, als Ausdruck des Misstrauens von konservativen Kreisen in Washington Anfang der achtziger Jahre in Umlauf gebracht, war also in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zum couragierten, wegweisenden Gütezeichen bundesdeutscher Außenpolitik geworden. Genscher hatte ebenso wenig wie alle anderen Politiker einen Plan zur Wiedervereinigung, aber er hatte früher und treffsicherer die wegweisenden Signale gesetzt, die ihn schon vor dem Fall der Mauer zum Architekten der deutschen Wiedervereinigung prädestinierten, weil er das gesamteuropäische Terrain politisch bestellt hatte. Als die Mauer am 9. November 1989 fiel, gestaltete er die Wiedervereinigungsdiplomatie zum krönenden Höhepunkt seines politischen Wirkens: „Ich hatte mir oft gewünscht, an der Deutschen Einheit mitwirken zu können. Nun waren die Träume von gestern Wirklichkeit geworden. Das erfüllte mich mit großer Dankbarkeit.“

Aber Genscher dachte über den Tag hinaus: Er erkannte frühzeitig, dass der europäische Kontinent durch die Erweiterung der NATO und der EU nach Osten gefestigt werden müsse, warnte aber davor, Russland von den europäischen Sicherheitsstrukturen auszuschließen.

Auf der weltpolitischen Bühne des Kalten Krieges gab es jahrzehntelang nur noch einen Politiker, der wie Genscher Kontinuität verkörperte: seinen lebenslangen Widersacher, den knurrigen sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko. Ihm gegenüber deutsche Interessen durchzusetzen, erforderte eine klar konzipierte Politik, die aber der gesamtwestlichen Strategie nicht widersprechen durfte. Nicht illusorische Forderungen, sondern pragmatische Vertrauensbildung gegenüber der -Sowjetunion war notwendig, auch um das kategorische „Njet“ Gromykos geschickt zu unterlaufen. So gelang es Genscher im KSZE-Prozess, Gromyko vom Prinzip des „peaceful change“, der friedlichen Grenzveränderung, zu überzeugen.

Damit konnte er fast unbemerkt die deutsche Frage und den europäischen Wandel offen halten. Ohne seine Initiativen wäre der Korb III (Menschenrechte) der KSZE-Schlussakte von Helsinki kaum Wirklichkeit geworden. Er setzte auf die politische Sprengkraft der Menschenrechte, auf ihre Bedeutung für die antikommunistischen Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und Osteuropa. Dank der beharrlichen Unterstützung von Politikern wie ihm konnten die antikommunistischen Freiheitsbewegungen die sowjetische „Politik der Stärke“ aushebeln und die Breschnew-Doktrin unterlaufen.

Doch musste Genscher auch in Washington alle Überredungskünste aufbringen, um vor allem Henry Kissinger vom Wert der KSZE zu überzeugen. Genscher war in Washington kein unkritischer Partner. Deshalb gestalteten sich seine Verhandlungen mit fünf Präsidenten und sieben Außenministern nicht immer einfach. Präsident Reagans SDI-Initiative sah er kritisch; den NATO-Doppelbeschluss hingegen unterstützte er rückhaltlos. Als die SPD ihrem Kanzler Helmut Schmidt die Unterstützung dafür versagte, musste Hans-Dietrich Genscher als Außenminister, Vizekanzler und FDP-Parteichef die vielleicht riskanteste Entscheidung seines Lebens fällen: Unter schweren Anfeindungen, auch aus den eigenen Reihen, führte er mit Otto Graf Lambsdorff den Koalitionswechsel der FDP herbei und setzte 1982 an der Seite des Christdemokraten Helmut Kohl die Regierungsgeschäfte als Außenminister fort. Nicht Opportunismus, sondern rückhaltlose Prinzipientreue machten ihn und seine FDP zum verlässlichen Partner einer realistischen Entspannungspolitik, wie sein Eintreten für den NATO-Doppelbeschluss dokumentierte.

Dank seiner diplomatischen Umsichtigkeit avancierte die Bundesrepublik in den achtziger Jahren zur europäischen Entspannungsvormacht und zum Garanten eines transatlantisch verankerten Europa, das durch mehr außenpolitische Gemeinsamkeit Einfluss in der Welt gewann. Genschers Verweis auf eine „klein gewordene Welt“ begründete sein Eintreten für Ausgleich und Frieden. Erste realpolitische Umrisse einer gemeinsamen Außenpolitik der EU wurden in der Deklaration von Venedig für eine gemeinsame europäische Nahost-Politik erkennbar, die entscheidend auf Genschers Initiative hin verfasst wurde.

Die Rolle Europas mit Blick auf die kriegerische Entwicklung auf dem Balkan 1990/91 ist bis heute umstritten. Hat Europa angesichts der menschenverachtenden Politik Slobodan Milosevics angemessen und rechtzeitig reagiert? Wohl kaum. Die Entscheidung der Regierung Kohl/Genscher, übrigens getragen von allen Parteien des Bundestags und eingebettet in die Strategie der EU, nämlich Slowenien und Kroatien anzuerkennen, erscheint auch im Rückblick prinzipiell richtig. Fraglich bleibt jedoch, ob diese völkerrechtliche Anerkennung nicht hätte abgestützt werden müssen mit der klaren Bereitschaft, die Unabhängigkeit beider Staaten durch militärischen Beistand nachdrücklich zu bekräftigen. Die Maxime Genschers, Außenpolitik nur mit nichtmilitärischen Mitteln durchzusetzen, zeigt, dass der „Genscherismus“ sich nur in Friedenszeiten voll entfalten konnte. Angesichts der kriegerischen Entschlossenheit der Serben wurde der friedliche Grundtenor zur Achillesferse der deutschen und europäischen Außenpolitik. Zusammen mit Bundeskanzler Kohl hatte Genscher die Folgen seiner Anerkennungspolitik nicht konsequent durchdacht. Die Serben ließen sich durch die Anerkennung allein nicht von ihren Eroberungsfeldzügen abhalten. Nur eine gemeinsame Anerkennung und damit verbundene militärische Garantien aller EG-Staaten hätten schon im Sommer 1990 abschreckende Wirkung gehabt. Stattdessen hatten die Europäer sich entschieden, die Wunden der Patienten Slowenien und Kroatien mit Heftpflaster zu verarzten.

Genschers ausgleichendes Naturell machte ihn zum erfolgreichen Vermittler innerhalb und außerhalb Europas. Er agierte allerdings in der Welt auch deshalb so erfolgreich, weil seine Außenpolitik zu Hause überzeugte. Er hatte ein besonderes Gespür für die wirkungsvolle innenpolitische Darstellung. Die spezifischen Bedingungen des Drei-Parteien-Systems nutzte er dabei klug für die Rolle der FDP: Diese kleine Partei bestimmte deshalb für sehr lange Zeit die Außenpolitik, weil Genscher durch eine kluge Mischung von Medienpräsenz, umsich-tiger Argumentation und Bürgernähe politisch auf seine Landsleute vertrauenswürdig wirkte. Sein unprätentiöses Auftreten macht ihn bis heute zur -politischen Ausnahmeerscheinung, wobei der harte machtpolitische Kern seines Wirkens oft übersehen wird: Die optimal organisierte Trias von Außenminister, Vizekanzler und Parteivorsitz wusste er souverän zu nutzen.

Souveränität war sein Markenzeichen, bis zum Ende seiner langen Amtszeit. Genscher selbst entschied über den Zeitpunkt seines Rücktritts – wer schafft das heute noch? Auf dem Höhepunkt seiner Karriere trat er 1992 zurück. Aus seinem übermächtigen Schatten konnte bis heute noch keiner seiner Nachfolger wirklich heraustreten. Genscher ist und bleibt ein politischer Solitär mit vielen Facetten; seiner Professionalität und Wirkungsmächtigkeit verdankt Europa viel von seiner heutigen Gestalt.

Hans-Peter Schwarz hat die Außenpolitik der alten Bundesrepublik bis zur Zeitenwende 1990 einmal als „silbernes Zeitalter“ bezeichnet. Hans-Dietrich Genscher hat diese Epoche maßgeblich geformt. Als Hallenser hatte er dabei immer das ganze Deutschland im Auge. Auch heute gilt seine Mahnung an die Adresse seiner deutschen Landsleute: „Töricht ist es, wenn von den Lasten der Einheit gesprochen wird. Die Sicherheit ist keine Last, sondern die Chance für eine bessere Zukunft. Aber es gibt andere Lasten: Im Osten die Erblasten von 40 Jahren Sozialismus, im Westen die Folgen eines jahrelangen, unbedenklichen ‚Weiter so‘, bei dem man über seine Verhältnisse gelebt hat.“ Das ganze Deutschland, in Ost und West, hat diesem Mann viel zu verdanken.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2007, S. 92 - 97.

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