Buchkritik

24. Apr. 2023

Buchkritik China: Maos lange Schatten

Eine Autorin und fünf Autoren widmen sich den internationalen Dimensionen des (Wieder-)Aufstiegs des Reichs der Mitte und entdecken so manches, das bislang unterbelichtet geblieben war.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Über die oft als Völkermord bezeichneten chinesischen Staatsverbrechen an der muslimischen Minderheit der Uiguren gibt es mittlerweile zahlreiche Bücher. Mathias Bölingers „Der Hightech-Gulag“ fügt dem bereits Bekannten, wenngleich quasi Unvorstellbaren, noch einige wichtige Aspekte hinzu.

Der Sinologe und langjährige China-Korrespondent hat für sein Buch nicht nur Zehntausende geleakte Dokumene mit Millionen Datenzeilen gelesen und analysiert – es gelingt ihm überdies, skrupulös recherchierte Einzelschicksale in einen größeren Zusammenhang einzubetten.

Denn natürlich stellt sich die Definitionsfrage: Ist das mittlerweile weit fortgeschrittene Unterfangen, die Uiguren als eigenständige Ethnie zu dezimieren oder gar auszulöschen, sind Massenverhaftungen, brutalste ideologisch-kulturelle Umerziehungsmaßnahmen, Vergewaltigungen, Sterilisierungen und forcierte Eheschließungen zwischen Han-Chinesen und Uiguren als Genozid zu bezeichnen?

Mathias Bölinger bezieht sich auf die Völkermordkategorien, welche die Vereinten Nationen 1948 festgelegt haben, und kommt zu folgendem Resümee: „Ein Völkermord muss nicht zwangsläufig durch gezielte Massentötungen verübt werden. Wenn die anderen Tatbestände in derselben Absicht und mit demselben Ergebnis verübt werden, kann auch das einen Genozid darstellen.“ Dieser freilich hat eine Vorgeschichte. Bereits unter der Qing-Dynastie waren im Jahre 1757 im Norden der heutigen Provinz Xinjiang innerhalb weniger Monate alle Männer und Jungen ermordet worden, derer die kaiserlichen Truppen hatten habhaft werden können; Frauen und Kinder wurden versklavt.

Die offizielle Geschichtsschreibung schweigt darüber ebenso wie über eine frappierende Kontinuität: „In Xinjiang standen die Kommunisten vor einem Problem. Bis zur Machtergreifung 1949 hatten sie vom Selbstbestimmungsrecht der Völker gesprochen. Nun erhoben sie Anspruch auf das gesamte Gebiet des Qing-­Reiches. Kein noch so überzeugt vorgebrachter Anti-Imperialismus konnte sie dazu bringen, ihr koloniales Erbe auszuschlagen.“

Bölinger arbeitet präzise heraus, welcher Staat damals als Vorbild diente, um mit progressiv-antikolonialistischer Rhetorik das vormalige Imperium zu bewahren – Lenins und Stalins Sowjetunion, wo man ja ebenfalls nicht auf all die Länder und Regionen verzichten wollte, die einst unter dem Zar erobert worden waren. Auch heute, so der Autor, seien sich China und Russland einig in ihren Geschichtsklitterungen, ihrem ungebrochenen Großmachtdenken und einer gewalttätigen Homogenisierungsstrategie. So wie für Putin die Ukraine „russische Erde“ ist, so stellt für Pekings Regime die bisherige muslimische Mehrheitsbevölkerung von Xin­jiang eine bedrohliche Minderheit dar, die unbedingt zu „verschmelzen“, ergo auszulöschen sei.

Das vernehmliche Schweigen muslimischer Länder zu Pekings Massenverbrechen an ihren Glaubensgenossen wird plausibel als Vermählung von Heuchelei mit Wirtschaftspolitik gedeutet – ebenso wie das devote Verhalten deutscher Unternehmen wie Volkswagen und BASF, die im fernen China plötzlich überhaupt keine Probleme mehr damit haben, „politischen Vorgaben“ zu folgen. Dabei sei offensichtlich, dass etwa das VW-Werk in Xin­jiang kaum Profit mache, sondern eher ein symbolischer Unterwürfigkeitspreis sei, der für den weiteren Zugang zum chinesischen Markt zu zahlen sei.

Beachtlich, wie der Autor auf knapp 250 Seiten dieses Pano­rama entfaltet, ohne im Material zu ertrinken oder in Schlagwortproduktion abzugleiten. Sein Buch sei deshalb nicht zuletzt auch den inzwischen so zahlreichen postkolonialen Seminaren hiesiger Universitäten dringend empfohlen; auch da gäbe es wohl so manche blinde Flecken zu ­reflektieren.



Blutige Saat

Jahrzehntelang hatten westliche Intellektuelle den Maoismus ihrer studentischen Jugendjahre zu einer Art Marotte verklärt, die sich im Nachhinein belächeln ließe. Die britische Sinologin Julia Lovell, Jahrgang 1975, beschreibt indessen in ihrem voluminösen Buch „Maoismus. Eine Weltgeschichte“ eine damalige geostrategische und ideologische Gemengelage, die keineswegs zum Schmunzeln ist. Dabei geht die Autorin, die lange in China gelebt und geforscht hat, auf das totalitäre Innenleben des Maoismus und dessen Millionen Opfer nur am Rande ein – dazu existieren bereits unzählige Studien von Rang. Was sie erstmals in den Blick nimmt, ist der expansive Charakter jener Ideologie, die nach Maos Willen weltweit machtpolitische Wurzeln schlagen sollte. Was ab Ende der sechziger Jahre in Berkeley, an deutschen, italienischen und französischen Universitäten (letztere auch im Bann des kurzzeitig zum Maoismus konvertierten Jean-Paul Sartre) geschah, mag trotz aller damaligen Brachialrhetorik heute in der Tat kurios klingen – und war in den meisten Fällen tatsächlich eher intellektueller Verstiegenheit denn Pekinger Einflussnahme zuzurechnen.

Ganz anders in Vietnam und Kambodscha, im Indonesien der Sukarno-Jahre, in Indien und Nepal oder im südamerikanischen Peru der achtziger Jahre. Dort ging die maoistische Sozialisation des einstigen Hochschulprofessors Abimael Guzmán in einer blutigen Saat auf, die Zehntausenden vor allem peruanischer Bauern das Leben kostete – exekutiert von fanatisch-­sendungsbewussten Guerilleros oder als Opfer des staatlichen Gegenterrors. „Der Maoismus des ,Leuchtenden Pfads‘ war von einer Religiosität, die es in China, vielleicht mit Ausnahme der fiebrigsten Hochphasen des Mao-Kultes, nicht gegeben haben dürfte.“ In anderen Teilen der Welt hatte der Maoismus noch direkter gewirkt – als Pekinger Strategie, nicht nur mit Ideologie, sondern auch mit Waffen Fakten und Abhängigkeiten zu schaffen. Das geschah samt und sonders unter dem Banner eines vermeintlichen „Antikolonialismus“, der in den zuvor von Franzosen, Briten und Niederländern ausgebeuteten Ländern auf fruchtbaren Boden fiel. Es spricht für Julia Lovells ebenso faktenreiches wie spannend geschriebenes Buch, dass sie diese westlichen Verantwortlichkeiten keineswegs leugnet.

Ohnehin aber scheint in vielen gegenwärtigen Debatten der Kolonialismus lediglich in seiner okzidentalen Gestalt präsent – Stichwort „Vietnam“. Dagegen zeigt die Autorin auf, wie unter Maos Einfluss „Onkel Hos“ Nordvietnam zu einer rigiden Parteidiktatur geworden war und China auch nach der französischen Niederlage von 1954 in Diên Biên Phú der alles dominierende „Große Bruder“ blieb. Eine Art anders-­kolonialistisches Abhängigkeitsverhältnis, wie es in Kambodscha bis zum heutigen Tag fortdauert.

Hier hatte, erleichtert durch die desaströse US-amerikanische Außenpolitik der sechziger und frühen siebziger Jahre, Mao den Ruf eines starken Befreiers aufbauen und Einfluss auf die kambodschanische Innenpolitik nehmen können: von der erfolgreichen Manipulierung des schwachen Königs Sihanouk bis zur Unterstützung der Völkermörder von Pol Pots „Roten Khmer“. Diese Politik überlebte sogar Maos Tod 1976, sodass der seit 1979 in Kambodscha diktatorisch regierende Genosse Hun Sen heute als einer der treuesten Vasallen Chinas gilt. Auch Robert Mugabes Simbabwe war damals in die Pekinger Einflusszone geraten – ebenso wie Nepal, in dem heute die Partei der ehemaligen maoistischen Rebellen die stärkste ist. Selbst in der föderativen indischen Demokratie konnten in einzelnen Landesteilen, mitverursacht durch schreiendes soziales Elend, maoistische Gruppen reüssieren, von denen einige – schräge ­Ironie der Geschichte – inzwischen mit staatskapitalistischen chinesischen Auslands­unternehmen verbandelt sind.



Händler des Todes

Gleich vier Autoren – die renommierten Investigativjournalisten Christoph Giesen, Philipp Grüll, Frederik Obermaier und Bastian Obermayer – haben über die vergangenen Jahre hinweg anhand eines konkreten Falles jenen chinesischen ­Auslandsaktivitäten nachgespürt, die eben keinesfalls (wie Peking nicht müde wird zu behaupten) rein wirtschaftlicher Natur sind, sondern sehr wohl militärisch-geostrategisch, ja sogar terroristisch. Ihr Buch „Die Jagd auf das chinesische Phantom“ ist trotz des etwas marktschreierischen Titels (und so mancher auf Dramatik getrimmten Passage) keineswegs schrille Übertreibung, sondern nicht weniger als ein Menetekel für den Westen. Erzählt wird von der Suche nach dem chinesischen Waffenhändler Karl Lee, der – darin vergleichbar mit Osama Bin Laden – bereits seit den George-W.-Bush-Jahren ganz oben auf den Fahndungslisten von CIA, FBI und anderen westlichen Geheimdiensten steht.

„Karl Lee handelt mit dem Tod“, heißt es im Buch. „Er liefert entscheidende Bauteile für Massenvernichtungswaffen. Seit er elektronische Mess- und Steuerungsgeräte an das Regime in Teheran verkauft, werden die iranischen Raketen Jahr für Jahr leistungsfähiger, präziser und tödlicher. Sie bedrohen Israel und kommen immer häufiger zum Einsatz: im Jemen, in Saudi-Arabien, im Irak oder auch gegen die Vereinigten Arabischen Emirate. Karl Lee ist mitverantwortlich für den Tod vieler Menschen, und was noch wichtiger ist: Er könnte damit in naher Zukunft mitverantwortlich für den Tod Hunderter, Tausender, Hunderttausender weiterer Menschen sein.“ Jener Lee nämlich lieferte und liefert unter Umgehung der UN-Sanktionen dem Iran auch jene Materialien, die im Einzelnen harmlos erscheinen mögen, in ihrer Gesamtheit jedoch unverzichtbar sind zum Bau von Atombomben: Grafit, Kohlefasern, Aluminiumteile, Elektroden.

1972 im äußersten Norden Chinas nahe der russischen Grenze geboren, ist dieser „Händler des Todes“ wohl kaum von (spät-)maoistischer Energie getrieben, eher schon von unbändiger Gewinnsucht. Das Journalistenquartett hat nicht nur ein Firmennetzwerk auf dem chinesischen Festland entdeckt, sondern auch in den dubiosen „Panama Papers“ Spuren von Lees Imperium gefunden. Auch wenn dann bei der äußerst riskanten Recherche vor Ort in der chinesischen Hafenmetropole Dalian angeblich niemand Karl Lee kennt: Das Gesetz der Omertá schützt keinen windigen Vorort­händler, sondern einen veritablen Global Player.

Doch weshalb bleibt dann dieses toxische „Phantom“, in seiner Fähigkeit zur klandestinen Vernetzung dem „Vater der pakistanischen Atombombe“ Abdul Qadeer Khan nicht unähnlich, selbst für Geheimdienstprofis unauffindbar, sogar für den gewöhnlich so gut informierten Mossad? Der Verdacht, der im Laufe der Recherche bei Hintergrundgesprächen in Wa­shington und Jerusalem entsteht, ist schrecklich und doch nicht gänzlich unplausibel: Was, so die Autoren, wenn in den USA und selbst in Israel die wirtschaftliche Abhängigkeit von China bereits so groß ist, dass man das Riesenreich nicht durch die Verhaftung eines Geschäftsmanns düpieren will, der danach allzu viel ausplaudern könnte über seine Verbandlung mit dem Pekinger Partei- und Staatsapparat? Würde derlei dann an die Medienöffentlichkeit „durchgestochen“, gerieten westliche Regierungen möglicherweise unter einen Handlungszwang, der das internationale Gefüge noch stärker ins Rutschen bringen könnte.

Gab es also irgendwann einen stillen Deal, wonach Lee im übertragenen und vielleicht ja auch im wörtlichen Sinn von Peking aus der Schusslinie genommen wird und der Westen im Gegenzug Stillschweigen bewahrt?



Ganz realer Alptraum

Karl Lee sei in China vorläufig in Haft, hören die Reporter am Ende ihrer Suche, und ziehen daraus ein Resümee, das uns alle beunruhigen sollte: Einer wie Lee ist mühelos ersetzbar, während die immensen Möglichkeiten der Volksrepublik, proaktiv zu handeln und international Schaden anzurichten, bei uns im Westen oft noch nicht einmal gedanklich erfasst sind. Stattdessen regiert Gesundbeterei: China, so eine der häufigsten Selbstberuhigungsthesen, könne als gestandene Atommacht doch überhaupt kein Interesse daran haben, dem Iran als aggressiver Regionalmacht am Golf auch noch bei der atomaren Aufrüstung unter die Arme zu greifen. Doch warum eigentlich nicht? Die China- und Geheimdienstexperten, mit denen die Journalisten reden, sind sich in einem einig: Alles, was den Westen und speziell die USA schwächt und ihre Energien bindet, kann der Volksrepublik von Nutzen sein. Je mehr dabei der Iran in wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit gerät, umso besser – immerhin lassen sich auf diese Weise, salopp gesprochen, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Die derzeitige Nähe zwischen Präsident Xi Jinping und dem Kremlmachthaber Wladimir Putin zeigt, dass diese Strategie auch für Chinas Verhältnis zu Russland Gültigkeit hat – und zwar aus der von Peking seit jeher angestrebten Position der Stärke heraus. Dass eine thrillerartige Geschichte wie ein Schlaglicht internationale Konstellationen enthüllt, kommt üblicherweise nur in Romanen und Kinofilmen vor. In der Karl-Lee-Story indessen muss gar nichts erst per Drehbuch konstruiert werden, um jenen größeren Zusammenhang sichtbar zu machen: als ganz ­realen Albtraum.

 

Mathias Bölinger: Der Hightech-Gulag. Chinas Verbrechen gegen die Uiguren. Verlag C.H. Beck, München 2023, 256 S., 18,00 Euro

Julia Lovell: Maoismus. Eine Welt­geschichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 768 S., 42,00 Euro

Christoph Giesen, Philipp Grüll, Frederik Obermaier und Bastian Obermayer: Die Jagd auf das chinesische Phantom. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 272 S., 20,00 Euro

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 124-127

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Mehr von den Autoren

Marko Martin ist Schriftsteller in Berlin. Soeben erschien im Arco Verlag sein Essayband „‚Brauchen wir Ketzer?‘ Stimmen gegen die Macht“.

 

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