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01. Sep 2003

Brüchige Fundamente

Eine Zwischenbilanz rot-grüner Außenpolitik

Zu Beginn ihrer zweiten Amtsperiode befand sich die rot-grüne Bundesregierung in einer außenpolitisch überaus prekären Situation; die Beziehungen zu dem Bündnispartner USA gerieten in eine tiefe Krise. Drängender denn je stellt sich seither die Frage nach den Fundamenten deutscher Außenpolitik. Manuela Glaab stellt einen Sammelband vor, der „vier Jahre und hundert Tage rot-grüner Außenpolitik“ analysiert und zu einem insgesamt überaus kritischen Urteil kommt.

Angetreten mit einem primär innenpolitisch ausgerichteten Regierungsprogramm, sah sich die rot-grüne Koalition angesichts des eskalierenden Kosovo-Konflikts noch vor ihrem offiziellen Amtsantritt mit außenpolitischem Entscheidungsbedarf großer Tragweite konfrontiert. Die Zustimmung zu Kampfeinsätzen der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebiets im Rahmen der NATO-Intervention im Herbst 1998, bei gleichzeitigen Bemühungen um eine politische Lösung des Konflikts mit der Bundesrepublik Jugoslawien, wird jedoch allgemein als erfolgreicher Beweis der Verlässlichkeit und Verantwortung deutscher Außenpolitik gewertet.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stellte sich die Bundesregierung eindeutig auf die Seite der USA. Sie löste dies ein durch die Beteiligung am Kampf gegen den internationalen Terrorismus und der Zerschlagung des Taliban-Regimes in Afghanistan. Den konstitutiven Beschluss des Bundestags über den Einsatz der Bundeswehr – erstmals wurden dort mit den KSK-Spezialkräften auch deutsche Bodentruppen gestellt – hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der Vertrauensfrage verknüpft, um eine eigene Mehrheit hierfür zu sichern. Auch die von Berlin koordinierte Afghanistan-Konferenz unter UN-Vorsitz auf dem Petersberg sowie ein substanzieller Beitrag zur Internationalen Friedenstruppe für Kabul (ISAF) zählen zur deutschen Unterstützungsleistung. Dennoch befand sich die Bundesregierung zu Beginn ihrer zweiten Amtsperiode erneut in einer außenpolitisch überaus prekären Situation, nachdem Schröder den Irak-Konflikt zum Wahlkampfthema gemacht hatte. Die Festlegung gegen jede Teilnahme Deutschlands an einem Krieg gegen Irak sowie die Zustimmungsverweigerung zu militärischen Zwangsmaßnahmen gegen das Regime von Saddam Hussein führten die Beziehungen mit dem Bündnispartner USA in eine tiefe Krise.

Drängend stellt sich seither die Frage nach den Fundamenten deutscher Außenpolitik. Antworten hierauf liefert ein von Hanns W. Maull et al. herausgegebener Reader, der zwölf aktuelle Beiträge von namhaften Experten und Nachwuchswissenschaftlern versammelt. Maull, dessen Zivilmachtskonzept die Debatte um die außenpolitische Standortbestimmung des vereinten Deutschlands in den neunziger Jahren maßgeblich mitbestimmte, stellt schon in seinem Editorial klar, dass die Analysen zu „vier Jahren und hundert Tagen rot-grüner Außenpolitik“ eine kritische Bilanz ergeben. Zwar habe die Koalition durchaus Erfolge vorzuweisen, vor allem wenn sie auf bewährte Stärken deutscher Außenpolitik – etwa den im multilateralen Krisenmanagement erprobten diplomatischen Apparat – setzte. Als eine Art Kardinalfehler erscheint jedoch die (zeitweilige) Vernachlässigung der wichtigsten Verbündeten, Frankreichs und der Vereinigten Staaten. Nicht die verfolgten Zielsetzungen, sondern Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung hätten schließlich zu einem „Scherbenhaufen“ (Hans-Ulrich Klose) geführt.

Das Themenspektrum des Bandes deckt die relevanten Handlungsfelder deutscher Außenpolitik ab, die Komposition des Inhaltsverzeichnisses liest sich dabei wie eine Prioritätenliste. Obenan stehen die schlechten Beziehungen zu den USA sowie die Sicherheitspolitik. Wie sich während des Bundestagswahlkampfs 2002 und darüber hinaus das Verhältnis zu den USA dramatisch abkühlte, zeichnet der pointierte Beitrag von Nikolas Busse nach. Ein Beitrag zur rot-grünen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen von ESVP und NATO (Marco Overhaus) zeigt darüber hinaus grundlegende Divergenzen im Funktionsverständnis der europäischen Sicherheitsinstitutionen auf. Anders als die USA setze die Bundesregierung nicht primär auf deren militärische Interventionsfähigkeit, sondern räume kooperativer Sicherheit und ziviler Konfliktbearbeitung weiterhin Vorrang ein. Dass sich der militärische Aktionsrahmen in den zurückliegenden Jahren dennoch deutlich gewandelt hat, lässt sich anhand der Analyse der Auslandseinsätze der Bundeswehr (Martin Wagener) ablesen. Die Erweiterung von Logistik und Fähigkeit, die Bereitschaft zu Kampfeinsätzen und der Übernahme von Führungsaufgaben stehen für die Normalisierung des Streitkräfteeinsatzes und den Export von Sicherheit mit militärischen Mitteln.

Gleichwohl wird auch in diesem Zusammenhang kritisch auf Defizite der Bundeswehrreform verwiesen. Jenseits der tagesaktuellen Zuspitzungen, so die Analysen, ist das Auseinanderdriften der transatlantischen Bündnispartner auf divergierende Bedrohungsperspektiven und eine nachhaltige strategische Neuorientierung der USA zurückzuführen. Einen grundlegenden Wendepunkt signalisierte der erste Bericht zur Lage der Nation von Präsident George W. Bush vom 29. Januar 2002, mit der er den Kampf gegen die „Achse des Bösen“ und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ausrief. Die militärische Doktrin des Präventiv- und Präemptivkriegs setzt auf Ad-hoc-Koalitionen unter Führung der USA bzw. erfordert eine global agierende NATO. Innerhalb des Bündnisses formierten sich Widerstände gegen eine entsprechende Neuausrichtung der Allianz; die Blockaden Deutschlands, Frankreichs und Belgiens im Vorfeld des Irak-Krieges riskierten allerdings die Lähmung der NATO und gefährdeten zugleich Fortschritte auf dem Gebiet der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Weitere, regional fokussierte Artikel erweitern und vertiefen den Bilanzrahmen. Neben der EU-Politik (Sebastian Harnisch und Siegfried Schieder), mit einem eigenen Beitrag zur EU-Osterweiterung (Henning Tewes), finden auch die deutschen Friedensbemühungen im Nahen Osten (Maull), die Stabilisierungspolitik in Südosteuropa (Constantin Grund) sowie die Ostasien-Politik (Jörn-Carsten Gottwald) Berücksichtigung. Insgesamt haben Sparzwänge, Reformstau und innenpolitische Kalküle demnach den außenpolitischen Handlungsspielraum sichtlich verengt. Die Dominanz des Kanzleramts im außenpolitischen Prozess sei ungebrochen, außer in der Nahost-Politik sowie der EU-Verfassungsdiskussion, wo Außenminister Joschka Fischer wichtige Impulse setzen konnte. Auf dem Gebiet der EU sei unter der neuen Bundesregierung, trotz anfänglichen verbalen „Muskelspiels“, kein Kurswechsel erfolgt. Konzeptuelle Unterschiede zwischen den Koalitionären – angeführt vom Intergouvernementalisten Schröder und dem Integrationisten Fischer – seien in einem Lernprozess abgebaut worden.

Besonders interessant erscheint vor diesem Hintergrund – aber auch mit Blick auf das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten – der Beitrag von Christoph Neßhöver, der das Auf und Ab der deutsch-französischen Beziehungen während der letzten Jahre aufzeigt. Gemeinsame Initiativen auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie der Innen- und Justizpolitik deuteten zuletzt darauf hin, dass das deutsch-französische Tandem wieder Fahrt aufnimmt. Inwieweit es künftig, in einer erweiterten EU wieder seine Motorfunktion erfüllen kann, erscheint indes fraglich. Es bestehen nicht nur nationale Interessengegensätze fort. Der enge Schulterschluss Deutschlands und Frankreichs in der Irak-Krise hatte schließlich auch die Spaltung der Europäischen Union und der Beitrittskandidaten in das so genannte „alte“ und „neue“ Europa zur Folge.

Beiträge zur Außenwirtschaftspolitik (Florian Lüttiken und Bernhard Stahl), zur Entwicklungspolitik (Peter Molt) und zur Menschenrechtspolitik (Florian Pfeil) vervollständigen die Bestandsaufnahme. In den zuletzt behandelten Bereichen ließen sich durchaus programmatische Neuansätze in den Koalitionsvereinbarungen und Regierungserklärungen nachweisen, doch setzten Exportinteressen und die Einbindung in einen europäischen Minimalkonsens hier Grenzen. Kritisch wird in diesem Zusammenhang zudem auf die Neigung zur Neujustierung von Kompetenzen und zur Schaffung neuer Institutionen verwiesen, ohne aber „in der Substanz nachhaltige Impulse zur Problemlösung zu erreichen“.

Ohne Zweifel ist der Sammelband interessant und aufschlussreich für all diejenigen, die sich einen kompakten und kritischen Überblick über die deutsche Außenpolitik seit Antritt der rot-grünen Regierungskoalition verschaffen wollen. Die Fülle der behandelten Krisen und Konflikte führt dem Leser – auch wenn er manche Einschätzung kontrovers beurteilen mag – nicht nur eindrücklich vor Augen, wie brüchig die außenpolitischen Fundamente geworden sind, sondern auch, dass eine verlässliche Rollendefinition des wiedervereinten Deutschlands notwendig bleibt. Maull sieht die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik weiterhin dem Zivilmacht-Rollenkonzept verpflichtet, konzediert aber „Detailmodifikationen (...) im Lichte veränderter Umstände“. Wie weit diese letztlich reichen, belegt die Beteiligung an den Kampfhandlungen in Afghanistan; die wahltaktisch motivierte unilaterale Festlegung im Irak-Konflikt, auch gegen eine Zwangsmaßnahmen legitimierende Resolution der Vereinten Nationen, ist sogar als Abkehr hiervon zu werten. Generell kritisiert Maull das Auseinanderklaffen von „zivilmachts-konformem Anspruch auf politische Mitgestaltung“ einerseits und die – in unterschiedlichen Kontexten – nachweisbare unzureichende Ressourcenmobilisierung andererseits. Damit weist er auf ein Grundsatzproblem der internationalen Beziehungen hin: Multilaterale Institutionen werden zum „Opfer nationalstaatlicher Vermeidungsstrategien“, wenn sie mit komplexen Herausforderungen überlastet werden, ohne die dafür erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen zu erhalten.

Hanns W. Maull/Sebastian Harnisch/Constantin Grund (Hrsg.), Deutschland im Abseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998–2003, Baden-Baden: Nomos 2003, 193 S., 29,00 EUR.