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01. Sep 2002

Neues Selbstverständnis

Aus größerer politischer Verantwortung ist konkrete deutsche Politik geworden

Das außenpolitische Selbstverständnis Deutschlands ist gekennzeichnet durch ein sensibles Spannungsverhältnis zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung. Manuela Glaab stellt das jüngste Buch der Berliner Politikwissenschaftlerin Helga Haftendorn vor, das die historischen Entwicklungslinien und Grundkonstanten der deutschen Außenpolitik nachzeichnet.

Das seit Anfang der neunziger Jahre immer wieder erhobene Postulat einer gewachsenen internationalen Verantwortung des vereinten Deutschlands ist zu konkreter Politik geworden. Augenfälliger Beleg hierfür sind die Auslandseinsätze deutscher Soldaten in Kosovo, in Mazedonien und nicht zuletzt in Afghanistan. Wenige Wochen nach dem 11. September 2001 und nur wenige Tage nach dem erstmals festgestellten Bündnisfall laut Artikel 5 des NATO-Vertrags bekräftigte Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag, dass sich die Bundesrepublik nicht länger auf „sekundäre Hilfsleistungen“ humanitärer, logistischer oder finanzieller Art beschränken könne. Diese „Etappe deutscher Nachkriegspolitik“ sei vielmehr „unwiederbringlich vorbei“.

Zählt die Beteiligung an militärischen Aktionen demnach fortan zur Ultima Ratio deutscher Außenpolitik, so wird gleichzeitig an tradierten Prämissen festgehalten. Wie Außenminister Joschka Fischer im Frühjahr dieses Jahres im Rahmen der „Weimarer Reden“ nochmals unterstrich: „Eine kluge Selbstbeschränkung, eine klare Absage an jede Form von außenpolitischer Renationalisierung und vor allem der entschiedene Einsatz für die Vollendung der europäischen Integration müssen weiter unsere Konstanten bleiben.“

Charakteristisch für das außenpolitische Selbstverständnis Deutschlands ist offenbar auch weiterhin jenes sensible Spannungsverhältnis zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung, das Helga Haftendorn zum Titel ihrer großen Studie über die deutsche Außenpolitik wählte. Gerade in Zeiten, da sich die externen Bedingungsfaktoren rapide verändern, lohnt sich die Vergewisserung über die historischen Entwicklungslinien und die außenpolitischen Grundkonstanten der Bundesrepublik. Die emeritierte Professorin am Berliner Otto-Suhr-Institut und profunde Kennerin der Materie leistet in dem umfangreichen Band aber weit mehr als nur eine chronologische Rückschau von 1949 bis in das Jahr 2000. Systematisch arbeitet sie die spezifischen Wechselwirkungen in dem internationalen System heraus, das jahrzehntelang bestimmt wurde von der weltpolitischen Konstellation der Bipolarität und dem daran angepassten Handeln der außenpolitischen Akteure. Wie es gelang, dass sich das geteilte, sowohl durch seine verhängnisvolle Geschichte als auch durch den Ost-West-Konflikt eingebundene Deutschland wieder zu einem geachteten Mitglied der Völkergemeinschaft entwickeln und schließlich auch wiedervereinigen konnte, ist die Leitfrage der Autorin.

Im Zentrum ihres in zehn Hauptkapitel untergliederten Buches steht die westdeutsche Außenpolitik, ohne jedoch den anderen deutschen Staat aus dem Blick zu verlieren. Die Studie konzentriert sich auf die Hauptaktionsfelder im euroatlantischen Raum: Sicherheit, deutsche Frage, europäische Integration und außenwirtschaftliche Entwicklung. Darüber hinaus findet die Außenpolitik der DDR in einem eigenen Kapitel Berücksichtigung. Kern des Untersuchungsmaterials bilden Originaldokumente und Dokumenteneditionen zur deutschen Außenpolitik.

Die beiden deutschen Staaten sieht Haftendorn als strukturell abhängige Systeme, die in ihrer Außenpolitik große Anpassungsleistungen auch zu Lasten innenpolitischer Auseinandersetzungen erbringen mussten. Nur wenn sich die äußeren Bedingungen veränderten, wandelte sich demzufolge auch die Außenpolitik Bonns und Ost-Berlins. Trotz einer vergleichbaren geostrategischen Lage verlief die Entwicklung jedoch höchst unterschiedlich: Während die DDR ebenso wie ihre „sozialistischen Bruderstaaten“ in einseitiger Abhängigkeit von der Sowjetunion verharrte, konnte die Bundesrepublik als „Vorposten der Freiheit“ bald außenpolitisches Gewicht gewinnen. Schon in der Konstitutionsphase folgte Konrad Adenauer dem Grundprinzip „Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht“. Wiedergutmachung, Aussöhnung mit Frankreich und multilaterale Kooperation waren Kernbestandteile seiner Strategie der Westintegration. Die Weichenstellungen in der Europa-Politik waren auch gekennzeichnet vom Prioritätenkonflikt zwischen transatlantischer und europäischer Orientierung, der Haftendorn zufolge den Handlungsspielraum der Bundesrepublik weiter einschränkte. Sicherheitspolitisch – dies machte bereits die 1966 im Rückzug Frankreichs gipfelnde NATO-Krise deutlich – war das Atlantische Bündnis mit den USA als Führungsmacht alternativlos. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit blieben stets zentrale Prämissen der Bonner Außenpolitik.

Mit der weltpolitischen Détente Ende der sechziger Jahre erfolgte auch eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik. Nachdem die sozialliberale Koalition mit ihrer Deutschland- und Ostpolitik die Abkehr von Adenauers Politik der Nichtanerkennung der DDR vollzogen hatte, erweiterte sich der internationale Handlungsspielraum der Bundesrepublik erheblich. Sie konnte nicht nur einen Modus Vivendi für den Status quo in Europa erreichen, sondern fortan auch Einfluss im Rahmen des KSZE-Prozesses sowie der UN nehmen. Versuche einer Gleichgewichtspolitik, wie sie Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Europäischen Währungssystem (EWS) verfolgt habe, besaßen nach Haftendorn jedoch nur auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik Erfolgschancen. Im Bereich der Sicherheitspolitik hingegen seien entsprechende Initiativen wenig aussichtsreich gewesen. So rückte das deutsche Interesse an einer Aufrechterhaltung der europäischen Entspannung zusehends in den Schatten der „neuen Eiszeit“ zwischen den Supermächten. Zur Raketenstationierung nach dem NATO-Doppelbeschluss sei der Bundesrepublik trotz heftiger innenpolitischer Kontroversen (die maßgeblich zum Sturz der Regierung Schmidt beitrugen) keine Alternative geblieben.

Unter der Regierung von Helmut Kohl wurde, wie die Autorin weiterhin überzeugend darlegt, die „Methode Adenauer“ neu akzentuiert nach dem Prinzip „Selbstbehauptung durch Selbstbeschränkung“. So wurden auf dem Gebiet der Europa-Politik Integrationsfortschritte traditionell im Tandem mit Frankreich erzielt; zurückhaltend im Auftreten habe Deutschland doch eigene Vorstellungen auf dem Weg zur EU umsetzen können. Markantestes Beispiel ist zweifelsohne die Wirtschafts- und Währungsunion, durch die Frankreich einem Übergewicht des D-Mark-Raums entgegenwirken wollte. Europäische Zentralbank und Stabilitätspakt tragen dennoch „deutsche Handschrift“. Ähnlich wie der erste Bonner Bundeskanzler habe auch Kohl auf das bewährte Prinzip der „Männerfreundschaften“ und Akte symbolischer Politik gesetzt, die zur Vertrauensbildung beitrugen.

Während der „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit konnte die Bundesrepublik hiervon profitieren. Zugleich wurde noch einmal deutlich, wie eng der Handlungsspielraum in der deutschen Frage war. Erst die Überwindung des Ost-West-Konflikts eröffnete auch die Chance zur Überwindung der deutschen Teilung. Die aktive Unterstützung der USA und das Einlenken Michail Gorbatschows in der Frage der Bündnismitgliedschaft waren entscheidende Erfolgsbedingungen auf dem Weg zum „Zwei-plus-Vier“-Vertrag, mit dem die „Souveränitätslücke“ deutscher Außenpolitik endgültig geschlossen wurde.

Ihrem selbst formulierten Anspruch, eine „Strukturgeschichte“ deutscher Außenpolitik schreiben zu wollen, die Entwicklungsmuster wie auch die spezifische Interaktion zwischen Akteur und System erklärt, ist Haftendorn zweifelsohne gerecht geworden. Dass sie hierbei interne Bedingungsfaktoren keineswegs übersieht, zeigt die aktuelle Trendbeobachtung: „Die Innenpolitik ist in die Außenpolitik zurückgekehrt“. Nach dem Wegfall äußerer Restriktionen komme gesellschaftlichen Anforderungen im vereinten Deutschland gewachsene Bedeutung zu. Wenn Bundeskanzler Schröder den Akzent – zumal in der Europa-Politik – stärker auf Gesten der  Selbstbehauptung lege, dann trage er dem Rechnung. Zweifelsohne behielten aber auch die Vorgängerregierungen die öffentliche Meinung stets im Blick. Es waren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gerade die großen außenpolitischen Weichenstellungen, die zu tief greifenden innenpolitischen Kontroversen führten, die mitunter wahlentscheidendes Gewicht besaßen; genannt seien hier nur die Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung, die Ostverträge und die NATO-Nachrüstung.

Nach 1990 vergrößerte sich der außenpolitische Handlungsspielraum Deutschlands grundlegend. Dennoch vollzog sich, Haftendorn zufolge, im ersten Jahrzehnt nach der Vereinigung nur ein gradueller Wandel der auf Kontinuität bedachten deutschen Außenpolitik. Die heftigen Gegenreaktionen nach der vorzeitigen Anerkennung Kroatiens und Sloweniens im Jahr 1991 hätten dazu geführt, dass Deutschland die mulilaterale Ausrichtung seiner Außenpolitik eher noch stärker betont habe. Als wichtige Veränderung wertet sie die deutsche Beteiligung an militärischen Einsätzen außerhalb des NATO-Bündnisgebiets, selbst ohne UN-Mandat. Weniger der fehlenden Mandatierung als der gewandelten Begründung misst sie besondere Relevanz bei: War die historische Belastung Deutschlands 1991 noch Argument für die Nichtbeteiligung deutscher Soldaten am Golf-Krieg, wurde die historische Verantwortung für die Wahrung der Menschenrechte als Motiv der Beteiligung an den Einsätzen auf dem Balkan geltend gemacht.

Dennoch mangele es an einer eindeutigen Rollendefinition des vereinten Deutschlands. Kennzeichnend sei vielmehr ein schwieriger Balanceakt zwischen Dominanzbefürchtungen der Partner und der notwendigen Verantwortungsübernahme für Sicherheit und Stabilität in Europa. Seiner Rolle als „Mitführungsmacht“ könne Deutschland jedoch nur gerecht werden, wenn es am Kurs kooperativer Politik in Europa festhalte. Nach dem 11. September, den Haftendorn nicht mehr berücksichtigen konnte, lässt sich begründet annehmen, dass der „europäische Imperativ“ (Werner Link) noch an Bedeutung gewonnen hat. Angesichts der vorherrschenden Tendenz amerikanischer Alleingänge und des damit einhergehenden Bedeutungsverlusts der NATO erscheint eine Balancierung der transatlantischen Beziehungen durch eine Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) notwendiger denn je. Inwieweit Deutschland hierbei mit seinen europäischen Partnern eine tragende Rolle übernehmen kann, wird maßgeblich davon abhängen, wie sich sein Mitspracheanspruch zu seiner Leistungsfähigkeit verhält.

Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945–2000, Stuttgart/ München: Deutsche Verlags-Anstalt 2001, 536 S., 29,80 EUR.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2002, S. 53 - 55.

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