Internationale Presse

01. Juli 2016

Brasiliens Zerreißprobe

Internationale Presse

Die großen Medien haben den Sturz der Staatspräsidentin propagiert

Bananenrepublik, „House of Cards“ und Gold­medaillengewinner für Korruption. Nicht nur die nationalen, sondern vor allem auch die internationalen Medien gingen in den vergangenen Monaten mit dem einstigen Aufstiegsstar Brasilien hart ins Gericht. Die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas steckt in ihrer schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Dazu hält der bislang größte Korruptions­skandal um den staatlich kontrollierten Ölkonzern Petrobras die Öffentlichkeit in Atem.

Fast täglich kommen neue Unterschlagungs-, Bestechungs- und Korruptionsvorwürfe ans Licht, in die Regierungsparteien und Opposi­tion gleichermaßen verwickelt sind. Die Regierung der linksgerichteten Staats­präsidentin Dilma Rousseff versuchte, ein bereits sinkendes Schiff zu steuern. Als das Abgeordnetenhaus am 17. April mit großer Mehrheit für ein Amts­ent­hebungsverfahren von Rousseff stimmte, jubelten die großen Medien.

„Tchau Querida („Tschüss meine Liebe“) titelte sarkastisch das oppositionelle Massenblatt O Globo (17. ­April). Die Folha de São Paulo hatte einen Online-Countdown auf ihrer Seite platziert (15.April??), der die Minuten bis zur Amtsenthebung zählte und damit mehr an ein Fußballspiel als an eine politische Richtungsentscheidung erinnerte. Als nach 43 Stunden Beratungen die Abstimmung entschieden war, frohlockte das Blatt und titelte „Feierstimmung an der Copacabana“ (17. April). In einem Blog wurden Fotos der Regierungsgegner veröffentlicht, wie sie Fahnen der Arbeiterpartei PT und Puppen in der Gestalt von Dilma Rousseff verbrennen. Die Demonstrationen der Unterstützer für die Präsidentin, die ebenfalls zu Zehntausenden auf die Straße gingen, waren den Berichterstattern nur kleinere Meldungen wert.

Brasilien ist nicht nur politisch ein tief gespaltenes Land, das im Chaos zu versinken droht. Die großen nationalen Medien, allen voran die mächtige Globo-Gruppe, hatten noch nie den Ruf, besonders objektiv zu berichten. In den vergangenen Monaten peitschten sie die Stimmung für einen Sturz der Staatschefin offen an. Ihre Botschaft war so simpel wie schlagkräftig: „Rousseff muss weg“.

Dilma Rousseff war die erste Frau im höchsten Staatsamt Brasiliens und wurde 2013 in der Forbes-Liste als zweitmächtigste Frau weltweit nach Bundeskanzlerin Angela Merkel gefeiert. In wenigen Wochen wollte sie die Olympischen Spiele eröffnen und der Welt­öffentlichkeit ein modernes Brasilien präsentieren. Stattdessen wurde die 68-Jährige 180 Tage suspendiert. Jetzt ist ein Amtsenthebungsverfahren anhängig. Unterstützer und Gegner der gestürzten Präsidentin begegnen sich mit unverhohlenem Hass.

Auch persönliche Angriffe gehörten dazu. So wurde Rousseff in einem Beitrag des Magazins Istoé als cholerische und unberechenbare Chefin beschrieben, die ihre Mitarbeiter terrorisiere und zu gewaltigen Wutausbrüchen neige (2. April); eine namentliche Quelle wurde nicht genannt. Brasiliens größte Zeitschrift Veja zog nach und porträtierte mit wohlwollenden Worten die neue First Lady Marcella Temer, 43 Jahre jünger als ihr Ehemann und ehemaliges Model. „Schön, sittsam und Hausfrau“ lautete die Überschrift (16. April), unmittelbar vor der Abstimmung im Kongress.

Ein Fernsehkanal regiert das Land

Internationale Medien zweifelten vor allem die verfassungsmäßig fragwürdigen Umstände der Amtsent­hebung an. Denn im Gegensatz zu den meisten Kongressabgeordneten konnte Rousseff bislang keine Verwicklung in den milliardenschweren Petrobras-Korruptionsskandal nachge­wiesen werden. Deshalb mussten Haushaltstricks als Begründung für ihren Sturz herhalten.

„Präsidentin Rousseff hat eine große Niederlage in einem ­feindlichen und von Korruption verseuchten Kongress erlitten“, hieß es im Guar­dian (17. April). Michael Reid, ehemaliger Herausgeber des Economist, beobachtete, dass viele Brasilianer internationale Medien als Informationsquelle über ihr Land benutzen, weil diese nicht parteiisch berichten. Er wehrt sich allerdings dagegen, von einem Putsch oder Staatsstreich zu sprechen, wie es die Regierungsanhänger machen. „Ein Impeachment-Verfahren ist in der Verfassung verankert. Wir finden allerdings, dass seine Anwendung keine gute Idee war“, meinte Reid am 28. April auf BBC.

Vor allem Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, ehemaliger Gewerkschafter und Volkstribun, sieht sich als Opfer der konservativen Medien. „Die ausländische Presse erteilt der brasilianischen eine Lektion in Moral“, sagte er bei einer Veranstaltung am 25. April. „Wir wollen nicht, dass sie Dilma oder die PT verteidigen, sondern nur, dass sie wahrheitsgemäß berichten.“

Mit dem TV-Giganten Globo hat sich Lula da Silva schon viele juristische Auseinandersetzungen geliefert. „Es kann nicht sein, dass ein Fernsehkanal das Land regiert“, rief er bei einer Demonstra­tion am 12. April in São Paulo heiser ins Mikrofon. Mit 122 Fernsehstationen, mehr als 80 Radiosendern, 15 Zeitschriften und vier Tageszeitungen ist die Globo-Gruppe der größte Medienkonzern Brasiliens, sein TV-Netz das zweitgrößte der Welt. Es ist fast unmöglich, Globo zu entkommen: Der Sender läuft beständig in Restaurants, Warteräumen von Arztpraxen oder Banken.

Wissenschaftler der Universität von Rio de Janeiro (UERJ) untersuchen regelmäßig, wie oft die Regierung in den größten Medien negativ dargestellt wird (http://www.manchetometro.com.br/). Ihr Ergebnis: Besonders in den Wochen vor der Kongressabstimmung zur Amtsenthebung (4. bis 17. April) findet sich in den beiden größten Zeitungen Folha de São Paulo und Estado de São Paulo kein einziger Bericht, in dem die Arbeit der Regierung positiv oder neutral dargestellt wird. In der Hauptnachrichtensendung von Globo machten die Medienanalysten immerhin etwa 10 Prozent neutrale Berichterstattung aus.

Der amerikanische Jurist und Journalist ­Glenn Greenwald, der 2013 die ersten Dokumente des Whistle­blowers Edward Snowden veröffentlichte, zeigt sich schockiert, dass laut Reporter ohne Grenzen Brasilien von Platz 58 auf Platz 104 der Pressefreiheit abgerutscht ist und damit noch hinter El Salvador und Liberia liegt. „Die Medien haben kaum verhohlen den Sturz von Rousseff propagiert“, sagt Greenwald, der mittlerweile in Brasilien lebt.

„Es ist wie in einem Krieg“

Nach dem Amtsantritt der Übergangsregierung unter dem 75-jährigen Michel Temer von der rechtsliberalen PMDB war viel von einem Neuanfang zu lesen. Die Blockade im Kongress und die qualvolle Hängepartie sollten überwunden sein, das Land könne endlich wieder nach vorne schauen, hieß es. Dabei wollten die Regierungskritiker nicht Temer an der Staatsspitze, er wurde vielmehr als das kleinere Übel gesehen. Seine Sympathiewerte sind auch nach knapp einem Monat im Amt nicht gestiegen und dümpeln bei 11 Prozent laut einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts CNT/MDA (2. bis 5. Juni). Mit der gleichen niedrigen Zustimmungsrate schied Rousseff aus dem Amt.

„Es ist wie in einem Krieg“, sagte Temer der Folha de São Paulo ernüchtert über den ersten Monat im Amt (11. Juni). Der Antritt seiner Regierung verlief holpriger als erwartet. Drei Minister verließen wegen Korruptionsermittlungen das Kabinett, darunter auch sein Minister für Transparenz, Fabiano Silveira. Temer musste nach einem Sturm der Kritik mehrere Entscheidungen öffentlich revidieren. In seinem Kabinett sind weder Frauen noch Afro­brasilianer vertreten, dafür aber milliardenschwere Unternehmer und ultrakonservative Evangelikale.

Wie genau Brasilien den Weg aus der Krise schaffen will, ist ungewiss. Mehr als elf Millionen Menschen sind derzeit arbeitslos. Für dieses Jahr wird ein weiterer Rückgang der Wirtschaft um 3,8 Prozent erwartet.

Der Interimspräsident tat zunächst das Unumgängliche und setzte den Rotstift an. Allerdings stellte er alle von Lula und Rousseff initiierten Sozialprogramme zur Disposition. Innerhalb von zehn Jahren wurde mit Hilfe dieser Initiativen die Armut um mehr als 60 Prozent verringert. Der neue Finanzminister und ehemalige Zentralbankchef unter Lula, Henrique Meireilles, soll die Bevölkerung auf die harten Einschnitte vorbereiten. „Brasilien durchlebt die schwerste Krise seiner Geschichte“, sagte der international hoch geschätzte Finanz­experte am 8. Juni. Es scheint sicher, dass die Steuern deutlich erhöht werden. Als Gesundheitsminister Ricardo Barros von der Fortschrittspartei PP verkündete, es könne die in der Verfassung garantierte Gesundheitsversorgung nicht länger geben, riefen ­Gewerkschaften und Sozialverbände zu Protesten auf. Guilherme Boulos, Führer der Landlosenbewegung MST, schrieb in der Folha de São ­Paulo (19. Mai): „In sieben Tagen wurde Brasilien um 30 Jahre zurückgeworfen.“

„Ich werde nicht zurücktreten“

Vor 24 Jahren wurde gegen den damaligen Staatspräsidenten Fernando Collor de Mello schon einmal ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt; am Ende trat er zurück. Rousseff wehrt sich entschieden dagegen. „Ich werde bis zur letzten Minute kämpfen“, kündigte die ehemalige Guerillera an. Während ihrer Suspendierung darf sie weiter im Präsidentenpalast wohnen. Der von Oscar Niemeyer geschaffene Palácio de Alvorada erinnert inzwischen an einen Bunker, wo sich Rousseff mit ihren Getreuen verschanzt hat. Hier triff sich ihr Juristenteam, um an der Verteidigungsstrategie zu feilen. Nach Angaben des Obersten Gerichts könnte die Abstimmung über eine endgültige Amtsenthebung schon Anfang August sein – noch vor Beginn der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Damit sollen Massenproteste vor den Augen der Weltöffentlichkeit vermieden werden.

In den Präsidentenpalast lädt die ansonsten im Umgang mit Journalisten eher zurückhaltende Rousseff jetzt auch zu Interviews. Ihre Gegner, die sie als „Parasiten“ bezeichnet, würden sie zum Rückzug zwingen wollen, das sei ein Coup mit Hilfe des Obersten Gerichtshofs, sagte sie der New York Times (7. Juni). Rousseff plant Auftritte im ganzen Land, will ihre Anhänger mobilisieren und im Ausland Unterstützer gewinnen. „Ich bin diesen Parasiten wirklich ein Dorn im Auge, und ich werde nicht aufhören, sie zu stören“, kündigte sie in dem NYT-­Interview entschlossen an.

Nach Jahren der Entfremdung wurde Ex-Präsident Lula in den vergangenen Wochen wieder zu ihrem engsten Vertrauten. Der feurige Arbeiterführer, der Brasilien acht Jahre lang regiert hat, will damit auch sein Lebenswerk retten. „Ich bin 70 Jahre alt, fühle mich besser als mit 50 und vitaler als mit 30“, rief er am 10. Juni Zehntausenden Anhängern auf der Avenida Paulista in São Paulo zu. „Wenn die mich weiter provozieren, besteht die ernsthafte Gefahr, dass ich 2018 wieder antrete.“ Für seine politischen Widersacher ist das immer noch eine Drohung. ­

Michel Temer kündigte an, er werde 2018 nicht für die Präsidentschaft kandidieren. Damit kann er seine unpopulären Kürzungen ohne Rücksicht durchsetzen. Zu erwähnen vergaß der Interimspräsident allerdings, dass er eigentlich für acht Jahre wegen der Annahme illegaler Spenden gesperrt ist. Er darf gar nicht antreten.

Susann Kreutzmann ist Journalistin, lebt in São Paulo und berichtet über Südamerika u.a. für den österreichischen Standard und die Deutsche Welle.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 130-133

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