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05. Mai 2014

Ein Land vor dem Kollaps

Die Proteste in Venezuela führen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen

Seit Monaten halten gewaltsame Proteste Venezuela in Atem. Die Opposition macht gegen die Misswirtschaft, die schlechte Sicherheitslage und fehlende Rechtsstaatlichkeit mobil. Noch sitzt die Maduro-Regierung fest im Sattel. Doch die Machtverhältnisse können sich schnell ändern. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Militär zu.

Studenten halten Schilder mit den Buchstaben SOS in die Höhe. Es ist ein Signal an die Polizei, die mit Tränengasbomben wahllos auf die friedlichen Demonstranten in der Universitätsstadt Mérida schießt. Bekleidet mit weißen T-Shirts haben sie sich zum Protestmarsch gegen die sozialistische Regierung Nicolás Maduros versammelt. Sie demonstrieren für Rechtsstaatlichkeit und gegen die sich ständig verschlechternde Sicherheitslage in ihrem Land. Die Studenten haben aus Möbeln und Zäunen Straßensperren errichtet. So wollen sie sich vor den Motorradbanden schützen, die wild um sich schießend die Stadt unsicher machten. „Wir sind im Krieg“, sagt ein Einwohner aus Mérida. „Wir können uns nur noch auf uns selbst verlassen.“

Es sind Szenen wie diese, die seit mehr als zwei Monaten die Berichte über Venezuela bestimmen: Gewalt­exzesse und brutale Übergriffe auf Demonstranten, die inzwischen 39 Menschen das Leben gekostet haben; mehr als 600 Personen wurden verletzt. Die Antwort von Präsident Maduro auf die Gewalt ist immer die gleiche. Er geißelt die Demonstranten als „Putschisten, Oligarchen und Faschisten“, die den Sturz einer demokratisch gewählten Regierung herbeiführen wollen. „Das war das letzte Mal, dass Faschisten nach Caracas reingelassen wurden. Ob Regen oder Sonne, Faschisten werden Caracas nicht betreten“, wütete er in einer seiner Fernsehansprachen. Die Gründe für die Ausschreitungen liegen für den Staatschef auf der Hand: Sabo­teure sind für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich und die Opposi­tion für die Gewalt.

Nicolás Maduro hat vor einem Jahr das Erbe des verstorbenen Hugo Chávez angetreten. Seitdem driftet das Land auseinander. Die Gesellschaft ist polarisiert wie nie zuvor. „Unter Maduro wird immer deutlicher, dass Venezuela aufgehört hat, eine Demokratie zu sein“, sagt der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow, der jetzt Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch ist. Die Unabhängigkeit der Justiz und aller anderen Institutionen sei ausgehebelt.

Venezuela habe sich nach und nach zu einem Polizeistaat entwickelt, betont auch der Lateinamerika-Analyst Diego Moya Ocampos von der Unternehmensberatung IHS. Das sei ein großer Unterschied zu Hugo Chávez, der immerhin noch den demokratischen Schein wahren wollte. „Je deutlicher der Verlust von politischer Autorität wird, umso mehr wächst die Macht der Militärs“, sagt Moya Ocampos und betont, dass die Hälfte des Kabinetts und Regierungsapparats schon heute mit Militärs besetzt ist. „Deshalb ist auch die Antwort auf die friedlichen Proteste so brutal.“ Die Streitkräfte spielten in allen Sektoren, auch in der Wirtschaft, eine immer größere Rolle, warnt er.

Konnte Chávez, der selbst ernannte Führer der bolivarischen Revolu­tion, mit Charisma und Populismus die Wirtschaftsprobleme zumindest teilweise überdecken, steht Venezuela unter Maduro am Abgrund. Besonders bedrohlich ist die Sicherheitslage. Im vergangenen Jahr wurden 25 000 Menschen ermordet, so viele wie sonst nirgends in Lateinamerika. Eine korrupte Polizei und Straflosigkeit haben zu diesem Exzess geführt. Außerdem treiben sich verschärfende Versorgungsengpässe die Menschen auf die Barrikaden. Ein Drittel der Grundnahrungsmittel sind Mangelware, und die Inflation kletterte auf horrende 56 Prozent.

Venezuela steht am Rande eines Bürgerkriegs. Welchen Weg das südamerikanische Land in den kommenden Monaten gehen wird, ist nicht klar. Derzeit sind nach Expertenmeinung die Demonstrationen noch nicht mächtig genug, um die Regierung ins Wanken zu bringen. Wenn sie allerdings von den bürgerlichen Stadtvierteln in die Peripherie überschwappen, könnte dies zu einer Spaltung der Regierungspartei und zu einer militärischen Intervention führen, warnt der Analyst Moya Ocampos.

Ruf nach Vermittlung von außen

Die Machtverhältnisse können sich schnell ändern. Ein Staatsstreich ist aber weder im Interesse der Mehrheit der Demonstranten noch der Nachbarländer. Dennoch könnte das Land ökonomisch und sozial auseinanderbrechen, mit verheerenden Folgen für ganz Lateinamerika. Deshalb wird der Ruf nach Vermittlung immer lauter.

Doch bislang hat Präsident Maduro alle Vermittlungsversuche abgeblockt. „Die Venezolaner müssen ihre Probleme selbst lösen“, betont der 51-Jährige stets. Auch zu einem Dialog mit der Opposition war er lange nicht bereit. Druck machte die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR), die ihre Außenminister auf Vermittlungsmission nach Caracas geschickt hat. Während Argentinien und Bolivien traditionell auf offene Unterstützung für Maduro drängen, verhält sich Brasi­lien eher abwartend.

„Das Interesse von Staatspräsidentin Dilma Rousseff an Außenpolitik ist geringer geworden“, erklärt der Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel von der Wirtschaftsuniversität Getúlio Vargas in São Paulo. Im Oktober stellt sich die Präsidentin zur Wiederwahl und hat ihre Prioritäten deshalb auf die Innenpolitik verlagert. Überhaupt könne Brasilien nicht mehr die Rolle eines neutralen Mediators einnehmen, wie noch 2002 bei dem Militärputsch gegen Chávez, denn dafür habe sich Ex-Präsident Lula da Silva zu sehr in Maduros Wahlkampf engagiert. „Brasilien verhält sich in Bezug auf den Konflikt passiv, obwohl das Land eine große Verantwortung hat“, betont Stuenkel. Da das Außenministerium Itamaraty unter Rousseff an Bedeutung verliere, zeigt er sich eher skeptisch über die Einflussmöglichkeiten der südamerikanischen UNASUR.

Noch scheint die sozialistische Regierung in Caracas fest im Sattel zu sitzen, auch wenn es Zweifel an Maduros Autorität gibt. Als in Caracas Geheimdienstmitarbeiter auf Demonstranten schossen, erklärte der Präsident, er habe das nicht befohlen. Internationale Beobachter werten dies als Zeichen dafür, dass er die Kontrolle über seinen Machtapparat immer mehr verliert.

Es gibt interne Widersacher gegen den Kurs von Präsident Maduro, aber noch verfügen sie nicht über die entsprechenden Allianzen und ausreichend Unterstützung des Militärs. Zu den Rivalen gehört zum Beispiel Parlamentspräsident Diosdado Cabello. Seit dem Tod des „ewigen Comandante“ vor gut einem Jahr liefern sich Maduro und Cabello einen erbitterten Machtkampf. Seine guten Kontakte zum Militär hat Cabello dabei stets im Auge – 2002 während der Entführung von Chávez durch das Militär war er für einen Tag Staatspräsident. Ob er den Schritt zu einer offenen Konfrontation wagt, ist noch nicht abzusehen.

Zersplitterte Opposition

Hugo Chávez hatte den Machtapparat auf seine Bedürfnisse zugeschnitten. 1999 legte er eine Verfassungsreform vor, die dem Präsidenten umfassende Kompetenzen einräumte und zugleich die Legislative schwächte. Seinem von ihm selbst ausgesuchten Nachfolger Maduro fehlt es aber an Ausstrahlung und politischem Instinkt. Dessen donnernde Reden sind gespickt mit verbaler Kraftmeierei und Verschwörungstheorien, die selbst Chávisten zweifeln lassen. Mal präsentiert sich Maduro als Feldherr, der keinen Widerspruch duldet. Dann wieder gibt er sich volksnah im Trainingsanzug und versucht, mit Worten und Gesten seinen Übervater nachzuahmen. Eine politische Strategie hat er jedenfalls noch nicht vorgelegt.

Doch auch die Opposi­tion muss sich Vorwürfe gefallen lassen. Sie ist gespalten und hat sich bislang nicht auf einen einheitlichen Weg einigen können. „Die Opposition hat ihr Prestige verspielt, als sie offen zum Umsturz aufgerufen hat“, sagt Stuenkel. Ein Putsch würde das Land außenpolitisch isolieren und ökonomisch in den Abgrund stürzen. „Das ist allen klar“, betont er.

Auf der einen Seite der Opposition steht Henrique Capriles, der bei den Präsidentschaftswahlen 2013 knapp verlor. Er gilt als überlegt und pragmatisch, will den Dialog am Verhandlungstisch. Zum Anführer des radikalen Flügels stieg Leopoldo López auf. Der 42-jährige Harvard-Absolvent rief seine Anhänger zu Straßenprotesten auf; seit dem 18. Februar sitzt er in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Brandstiftung, Störung der öffentlichen Ordnung und Verschwörungspläne vor. Schon 2002 war López am Putsch gegen Hugo Chávez beteiligt und wurde vorübergehend festgenommen; danach stand er unter Beobachtung der Justiz. Wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder und Vetternwirtschaft durfte er bis zu diesem Jahr kein öffentliches Amt übernehmen.

Deshalb hatte er bei den Präsidentschaftswahlen im April vergangenen Jahres auch Capriles den Vortritt gelassen. Dieser kam auf 48,97 Prozent, während Maduro mit 50,75 Prozent zum Präsidenten gewählt wurde. López selbst sieht sich gern in der Märtyrerpose, mit hochgestrecktem Arm, die Hand zur Faust geballt. „Brüder und Schwestern, die Zukunft gehört uns. In diesem Moment der Dunkelheit ist es unsere Aufgabe, ein Fenster aufzustoßen“, schrieb er jüngst in einem Brief, den die spanische Zeitung El País veröffentlichte.

Nach der Festnahme von López stieg die Abgeordnete María Corina Machado zur neuen Führungsfigur auf. Machado hatte am 20. März auf der Ratsversammlung der Organisa­tion Amerikanischer Staaten (OAS) in Washington über die Situation in Venezuela sprechen können, weil ihr der Vertreter von Panama sein Rederecht übertragen hatte. Daraufhin wurde ihr das Abgeordnetenmandat entzogen, weil man ihr vorwarf, ein diplomatisches Amt einer ausländischen Regierung akzeptiert zu haben. Derzeit reist sie durch Lateinamerika, um für Unterstützung zu werben. „Die Gewalt in Venezuela ist brutal. Deshalb ist es so wichtig, den Venezolanern außerhalb des Landes eine Stimme zu geben“, sagt sie und verneint, dass die Opposition mit einem Staatsstreich die Regierung absetzen wolle. „Wir glauben nicht an diesen Mechanismus“, verspricht sie. Die Regierung selbst habe, als sie die Demokratie aushebelte, einen Putsch durchgeführt, erklärt die Abgeordnete.

Kampf gegen Rekordinflation

Auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Venezuela reagieren auch die Märkte hoch sensibel. Immer wieder gibt es Gerüchte, dass Venezuela Devisen fehlen und das Land kurz davor steht, seine Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen zu können. Ende März sorgte zudem die Abwertung der Landeswährung Bolívar um 89 Prozent für Aufsehen. Venezuela hatte den Devisenhandel freigegeben – Banken und Unternehmen können somit frei am Markt tauschen. Als Folge stürzte der Bolívar ab. Unternehmen können jedoch erstmals Devisen frei am Markt tauschen. Venezuela will so Importe fördern, um den Engpass an Nahrungsmitteln, Medizin und Konsumgütern zu überwinden.

Gleichzeitig hofft die Regierung, damit die Inflation von rund 56 Prozent in den Griff zu bekommen. Daran gibt es jedoch berechtigte Zweifel. Wahrscheinlicher erscheint, dass eine Teuerungsspirale für Konsumgüter einsetzt. Dann wird die Regierung gezwungen sein, ihre Preiskontrollen zu verschärfen. In der Folge wird weniger produziert werden, es entsteht ein Teufelskreis, der zu weiterer Mangelwirtschaft führt. Oppositionsführer Capriles bewertet deshalb die Maßnahme auch als „Megaabwertung der Landeswährung“, die vor allem die Armen treffen wird.

Dabei verfügt Venezuela über die weltweit größten Erdölreserven, rund 300 Milliarden Barrel lagern unter der Erde. Doch der 2002 verstaatlichte Ölkonzern Petróleos de Venezuela (PdVSA) arbeitet unproduktiv, Investitionen wurden vernachlässigt. Als Konsequenz sinkt die Produktion von Jahr zu Jahr. 2013 wurden 2,5 Millionen Barrel pro Tag produziert, 2012 waren es noch 3,3 Millionen Barrel. Das einstige Flaggschiff ist damit selbst zum Sanierungsfall geworden. Doch der venezolanische Haushalt hängt am Tropf von PdVSA: 60 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus der Erdölförderung und 95 Prozent der Exporte. Nicht angetastet wird dabei ein nationales Sakrileg: Der Benzinpreis wird bei umgerechnet 0,011 Euro pro Liter gehalten – so etwas gibt es sonst nirgendwo auf der Welt.

Mit einem Großteil der Erdöl­gewinne haben Chávez und sein Nachfolger Maduro die umfangreichen Sozialprojekte finanziert. Tatsächlich sank die Armutsrate von knapp 50 Prozent im Jahr 2002 auf 29 Prozent 2012. Diese Verbesserungen für breite Bevölkerungsschichten sind der Schlüssel für die Unterstützung der sozialistischen Regierung. Wohnungsbauprogramme, kostenlose Milch für Schulkinder, Verbesserungen im Gesundheitswesen, Kampf gegen Analphabetismus – die so genannten Missiones sind das Rückgrat der Regierung.

Auch die Opposition will diese milliardenschweren Projekte weiterführen, alles andere wäre politischer Selbstmord. Dennoch wird sich die Regierung bald die Frage stellen müssen, wie die Finanzierung dieser sozialpolitischen Wohltaten gesichert werden soll. Rund 40 Milliarden Dollar Schulden hat der Staatskonzern PdVSA inzwischen angehäuft. Jüngst bewertete die Rating-Agentur Standard & Poor’s die Anleihen des Konzerns mit B–, also als hoch spekulativ.

Gegen die ‚„Kubanisierung“

Katastrophale Folgen hätte ein Kollaps Venezuelas auch für Kuba. Die sozialistische Insel hängt am venezolanischen Öltropf. Täglich werden rund 115 000 Barrel Erdöl nach Kuba geliefert. Die Karibikinsel bezahlt mit dem „Export“ von medizinischen Fachkräften: Rund 29 000 Ärzte und Krankenschwestern arbeiten im ve­nezolanischen Gesundheitswesen. Grundlage dafür sind Regierungsverträge, die neben dem Tourismus die wichtigste Devisenquelle Kubas sind. Daneben sind auch kubanische Lehrer, zahlreiche Ingenieure bei der Erdölförderung, militärische Berater und Beamte in den Ministerien tätig. Ökonomen gehen von einem Einbruch der kubanischen Wirtschaft um mindestens 30 Prozent aus, wenn Venezuela als Erdöllieferant ausfällt. Die Unsicherheit in Kuba ist deshalb groß.

In Venezuela wiederum regt sich Widerstand gegen die kubanische Präsenz im Regierungsapparat und bei den Streitkräften. Immer wieder rief der radikale Flügel der Opposi­tion, die Voluntad Popular, zu Protestmärschen vor der kubanischen Botschaft auf, angeführt von der Abgeordneten María Corina Machado. „Wir sind gegen die ‚Kubanisierung‘ des venezolanischen Militärs“, rief sie vor Zehntausenden Anhängern. „Gebt den Streitkräften ihre Souveränität zurück.“ Auch Machado weiß genau, dass das Militär in Venezuela stets der entscheidende Machtfaktor ist.

Wie Chávez steht auch Maduro fest an der Seite Kubas. Die Verbundenheit ist allerdings mehr symbolischer Natur, da Kuba innerhalb der Linksregierungen in Lateinamerika an Einfluss verloren hat. Ende vergangenen Jahres reiste Maduro erstmals als Präsident nach Havanna und traf den ehemaligen Revolutionsführer Fidel Castro. Für Maduro war es auch eine Reise in die Vergangenheit: Mitte der achtziger Jahre hatte er auf Kuba studiert.

Susann Kreutzmann 
lebt als Journalistin in São Paulo und arbeitet u.a. für die Deutsche Welle.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 106-111

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