IP

30. Apr. 2011

Belohnung für Fehlverhalten?

Deutschland ist nicht verpflichtet, europäischer Zahlmeister zu sein

Deutschland profitiert zwar vom Euro, ist aber nicht der Hauptnutznießer, wie von Adam S. Posen behauptet. Andere Staaten haben im Vergleich sogar größere Vorteile, vor allem wegen der durch die Währungsunion deutlich gesunkenen Zinssätze. Transferzahlungen an unseriös wirtschaftende EU-Staaten setzen falsche Anreize und schwächen Europa.

In der Debatte um die Weiterentwicklung der Euro-Zone wurde in den vergangenen Monaten immer wieder ein stärkeres Engagement Deutschlands zur Überwindung der Finanzkrise in Europa gefordert. Deutschland – so der Tenor der Protagonisten dieser Überlegungen – sei der Hauptnutznießer der europäischen Integration im Allgemeinen und der monetären Integration im Besonderen. Deshalb liege es im Interesse Deutschlands, Transfers in die überschuldeten Staaten der Euro-Zone zu leisten. Adam S. Posen, Ökonom am Washingtoner „Peterson Institute for International Economics“, hat sich in der letzten Ausgabe der IP in diesem Sinne geäußert und einen Umbau der Währungsunion hin zu einem europäischen Finanzausgleich gefordert.

Aber trifft die Einschätzung, Deutschland sei der größte Gewinner der Einführung des Euro, zu? Sind die daraus abgeleiteten Forderungen legitim? Und stärken oder schwächen Transfers mittel- und langfristig den europäischen Integrationsprozess?

Ausgangspunkt der Diskussion ist die Frage, wem die Einführung der Gemeinschaftswährung welchen Nutzen gebracht hat. Posen behauptet, für Deutschland habe sich „ein Währungsraum mit möglichst vielen Partnern als Segen erwiesen“. Gewiss hat die gemeinsame Währung viele wirtschaftliche Vorteile – für Deutschland und die übrigen Mitgliedsländer der Euro-Zone. Die Transaktionskosten sind in der Euro-Zone gesunken, was den Handel mit Waren und Dienstleistungen erleichterte. Keineswegs haben aber deutsche Unternehmen mehr von diesem Prozess profitiert als Unternehmen anderer Länder. Die Rahmenbedingungen waren und sind identisch, und dass Unternehmen in einigen anderen Ländern der Euro-Zone diese Gelegenheit weniger erfolgreich genutzt haben, ist gewiss nicht den hiesigen Unternehmen oder der deutschen Politik anzulasten. Am Rande sei bemerkt, dass auch innerhalb Deutschlands nicht alle Bundesländer in gleicher Weise den Binnenmarkt und die daraus resultierenden Exportchancen nutzen.

Zu wenig gewürdigt wird in der Diskussion – von Posen und anderen – allerdings ein zentraler Punkt. Vor der Währungsunion mussten insbesondere die heutigen Krisenländer, allen voran Griechenland, sehr hohe Zinssätze sowohl für die Finanzierung der Staatsverschuldung als auch bei der Finanzierung von privaten Investitionen zahlen. Die nominalen wie realen Zinssätze sind im Zuge des Integrationsprozesses auf das in Deutschland schon seit langem zu beobachtende Niveau gefallen. Posen erwähnt dies, unterlässt es aber, den Punkt angemessen zu würdigen.

Diese goldene Gelegenheit, die sich aus dem dramatischen Sinken der Zinssätze für die betroffenen Volkswirtschaften ergab, wurde jedoch weder von den Finanzministern noch den Unternehmen genutzt. Vor der Währungsunion war das niedrige Zinsniveau in Deutschland immer wieder als unangemessener Wettbewerbsvorteil der deutschen Wirtschaft kritisiert worden. Dies änderte sich mit der Währungsunion. Die Volkswirtschaften Griechenlands, Italiens und Portugals haben aber die sich bietenden Chancen nicht genutzt und weder die staatliche Verschuldung ab gebaut noch die privaten Investitionen gesteigert. Vielmehr wurden in einigen Ländern die niedrigeren Finanzierungskosten genutzt, um die Staatsausgaben zu erhöhen und den privaten Konsum auszuweiten.

Die Vorteile aus den gesunkenen Zinssätzen lassen sich klar beziffern. Im Vergleich zu 1994 sanken die Zinszahlungen auf die griechische Staatsschuld von 11,9 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung auf 4,2 Prozent im Jahr 2007, dem Jahr vor Ausbruch der Finanzkrisen in Amerika und Europa. Der griechische Staat konnte die Zinszahlungen durch die Mitgliedschaft in der Euro-Zone also um 7,7 Prozent des BIP verringern, was im Jahr 2007 einem Betrag von etwa 17,5 Milliarden Euro entsprach. In Italien war ein vergleichbar hoher Rückgang von 5,9 Prozent des BIP zu beobachten. In Deutschland hingegen war im gleichen Zeitraum nur eine unbedeutende Verminderung von 0,2 Prozent des BIP – von 2,6 auf 2,4 Prozent des BIP – zu verzeichnen. Frühere Hochzinsländer kamen also durch die Währungsunion in den Genuss niedriger Zinssätze sowohl für den Staat als auch für den Unternehmenssektor. In Hinblick auf die Finanzierung von Staatsschulden und Investitionen sind die Hauptnutznießer also die heutigen Krisenländer, keineswegs aber Deutschland.

Richtig ist vielmehr, dass Griechenland, Italien und andere Ökonomien diese Vorteile nicht angemessen genutzt haben. Dies ist aber fraglos nicht Deutschland und anderen Ländern der Euro-Zone anzukreiden. Die niedrigeren Finanzierungskosten hätten sowohl für einen Abbau der Staatsschulden als auch für eine Innovationsoffensive der Privatwirtschaft genutzt werden können. Stattdessen wurden – insbesondere in Griechenland – die sich eröffnenden Spielräume zur Schaffung zahlreicher neuer Stellen im öffentlichen Dienst und zur Fortsetzung einer nicht nachhaltigen Fiskalpolitik genutzt. Diese politischen Fehlentscheidungen in Athen und in anderen Krisenländern sind nicht geeignet, die Forderung nach der Einführung eines europäischen Finanzausgleichs zu legitimieren.

Schon die Ausblendung der durch die Währungsunion für die heutigen Krisenländer stark gesunkenen Finanzierungskosten schwächt die Argumentation von Adam S. Posen und anderen Befürwortern eines europäischen Finanzausgleichs. Auch seine Einschätzung, Deutschland habe einen großen Nutzen aus der so genannten Seigniorage – auch als Münzgewinn bezeichnet –, hält einer Überprüfung nicht stand. Notenbanken erzielen einen ökonomischen Nutzen aus der Verwendung der von ihnen ausgegebenen Währung in anderen Wirtschaftsräumen. Dies gilt für den Dollar wie für den Euro. Allerdings muss die Verwendung der D-Mark verglichen werden mit der heutigen Nutzung des Euro. Richtig ist, dass der Euro heute weltweit – und auch außerhalb der Euro-Zone – stärkere Verwendung gefunden hat als früher die D-Mark. Falsch ist, dass der deutsche Staat heute einen größeren wirtschaftlichen Nutzen davon hat als zu Zeiten der D-Mark. Damals war die Deutsche Bundesbank der einzige Nutznießer, heute wird dieser Seigniorage-Vorteil durch die Verwendung der gemeinsamen Währung mit allen Mitgliedsländern der Euro-Zone geteilt. Mit anderen Worten: Während Italien und Frankreich vor der Einführung des Euro keinen nennenswerten Seigniorage-Vorteil verzeichnen konnten, profitieren sie heute unmittelbar. Erneut ist es also unangemessen, Deutschland als Gewinner der Einführung des Euro zu bezeichnen.

Adam Posen und andere Beobachter verweisen darauf, dass die Transaktionskosten durch die Einführung des Euro gesunken sind. Dies war und ist ein wichtiges, plausibles Argument für die Währungsunion. Unternehmen profitieren von dem Wegfall des Wechselkursrisikos und müssen für künftige Exporterträge nicht mittels kostspieliger Wechselkurssicherungsgeschäfte Vorsorge treffen. Aber diesen Vorteil genießen nicht nur deutsche Unternehmen, sondern natürlich alle Firmen in der Euro-Zone. Vermutlich haben deutsche Firmen sogar nur unterdurchschnittlich profitiert, da viele von ihnen in der Vergangenheit Exporte in D-Mark fakturieren konnten und damit kein Wechselkursrisiko zu tragen hatten. Diese Option gab es für Unternehmen aus Weichwährungsländern entweder gar nicht oder in sehr viel geringerem Umfang. Heute gelingt die Fakturierung in Euro – wie Posen richtig bemerkt – in zunehmendem Maße, aber erneut profitieren hiervon nicht nur deutsche Unternehmen.

Gefahren einer Transferunion

Adam Posen ist nicht der einzige, der den Einstieg in eine Transferunion in Europa fordert. Ein vielstimmiger Chor singt das Lied vom Zahlmeister Deutschland, der andere europäische Staaten retten müsse. Zwei zentrale Fragen müssen aber von den Protagonisten beantwortet werden. Erstens: Stärken oder schwächen diese Vorschläge die Integration Europas mittel- und langfristig? Und zweitens: Können die Geberländer nennenswerte Transfers überhaupt stemmen?

Die erste Frage ist leicht zu beantworten: Transferzahlungen sind ein gefährliches Instrument; sie erschweren  Integrationsprozesse eher als sie zu erleichtern. Dies gilt insbesondere dann, wenn Transferzahlungen nicht zur Unterstützung von bestimmten objektiv benachteiligten Regionen gewährt werden, sondern Misswirtschaft ex post belohnen. In der EU gibt es seit langem zahlreiche Programme zur Förderung weniger entwickelter Gebiete. Doch bei der heutigen Debatte geht es nicht um die Förderung des Baus einer Eisenbahnstrecke oder einer anderen Infrastrukturmaßnahme, sondern um Transfers zur teilweisen Entschuldung eines ganzen Landes. Aus ordnungspolitischer Perspektive besteht kein Zweifel daran, dass derartige finanzielle Hilfen unangemessene Anreize setzen würden. Transfers an Griechenland oder Italien würden vermutlich Nachahmereffekte hervorrufen, und sie würden die Staaten, die eine nachhaltige, seriöse Fiskalpolitik betreiben, für deren Politik bestrafen.

Adam Posen beantwortet diese ordnungspolitische Frage anders. Er meint, es würde sich „langfristig rächen“, den „angeblichen Sündern“ eine „übermäßige Konformität mit ökonomischen Leitsätzen“ aufzuzwingen. Aber warum rächt es sich langfristig, wenn sich die Mitglieder einer Gemeinschaft Regeln geben und die Einhaltung dieser Regeln für alle verbindlich ist? Die übermäßige Verschuldung vieler Staaten in der Euro-Zone (und darüber hinaus) ist eine zentrale Herausforderung für die Staaten der OECD. Diese durch den demografischen Wandel verschärfte Problematik wird nicht zu bewältigen sein, wenn die Länder der Euro-Zone Fehlverhalten durch Transferzahlungen belohnen. Zu einem nachhaltigen fiskalpolitischen Anreizsystem gehört vielmehr die Möglichkeit des fiskalpolitischen Scheiterns, im Extremfall auch eine Umschuldung. Übernehmen andere Staaten das Risiko des Scheiterns, wird der Anreiz für nachhaltige Fiskalpolitik reduziert.

Abgesehen von diesen ordnungspolitischen Fragen stellt sich das Problem, dass die potenziellen Geberländer selbst schon hoch verschuldet sind. Die deutsche Staatsverschuldung wird Ende des Jahres 2012 auf 82 Prozent des BIP steigen. Sie ist damit nicht mehr weit von der häufig als problematisch betrachteten Schwelle von 90 Prozent entfernt. Würde Deutschland einen nennenswerten Beitrag zur Entschuldung der beiden am höchsten verschuldeten Staaten Griechenland und Italien leisten, wäre Deutschland bald selbst überschuldet.

Politisch haben die Vorschläge zur Einführung einer Transferunion deshalb eine besondere Brisanz, weil sie die Bemühungen der deutschen Politik zur Konsolidierung der eigenen Staatsfinanzen konterkarieren. Das grundgesetzlich verankerte Verbot, in großem Umfang neue Schulden zu machen, bleibt von eventuellen Transferzahlungen natürlich unberührt. Sollte die Bundesregierung einem europäischen Finanzausgleich zustimmen, wären diese Mittel auf Kosten anderer Etatposten im Bundeshaushalt einzusparen. Es bedarf nur wenig Phantasie, sich die dann zu erwartende innenpolitische Diskussion vorzustellen.

Die Forderung nach Transfers verkennt zudem die relativ schlechte Vermögensposition deutscher Haushalte. Offenbar meinen viele Beobachter außerhalb Deutschlands, die Menschen zwischen Rhein und Oder seien noch immer wohlhabender als die meisten europäischen Nachbarn. Das war in der Vergangenheit gewiss der Fall, aber heute sieht es schon anders aus. Beim Vergleich mit der so genannten Nettovermögensposition italienischer und französischer Haushalte schneiden die Deutschen schlechter ab. Ende 2008 verfügte der durchschnittliche italienische Haushalt nach Daten der OECD über ein Nettovermögen, das dem 8,2-Fachen des Jahreseinkommens entsprach. In Frankreich liegt durchschnittlich das 7,5-Fache Vermögen vor, in Deutschland nur das 6,2-Fache. Selbst unter Berücksichtigung der etwas höheren Haushaltseinkommen sieht es für die Deutschen schlechter aus – wahrscheinlich auch deshalb, weil die hiesige Finanzverwaltung effizienter als andernorts operiert.

Per Saldo gibt es keine plausible Begründung für die von Adam Posen geforderten Transfers. Deutschland profitiert vom Binnenmarkt, ist aber nicht der Hauptnutznießer der Euro-Zone. Ordnungspolitisch würden Hilfen für unseriös wirtschaftende Staaten die falschen Anreize setzen und Europa im globalen Wettbewerb schwächen, nicht stärken. Richtig ist die Einschätzung, dass Gesellschaften sich immer fragen werden, ob der Verbleib in einem Integrationsprojekt höhere Kosten verursacht als der Austritt. Gerade weil der europäische Integrationsprozess so wichtig und im Grunde „alternativlos“ ist, muss die schlecht legitimierte Einführung von Transferzahlungen und die daraus resultierende mögliche Überforderung der größten und (gegenwärtig) dynamischsten Volkswirtschaft verhindert werden.

PD Dr. HERIBERT DIETER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, April 2011, S. 117-121

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