Balladen und Geschichten
Peter Hacks und Robert Gernhardt haben es vorgemacht: die Wiederbelebung
des erzählenden Gedichts als Ausdruck von Geschichtsbewusstsein
Es gibt keinen Ruhm, dem nicht eine wirkliche Leistung entspricht, und so gibt es auch kein Vergessen, das nicht Gründe in der Sache hätte. Deshalb ist es immer etwas misslich, für die Wiederentdeckung eines angeblich zu Unrecht Vergessenen zu plädieren – aber vielleicht liegt unser Fall ein wenig anders, weniger verstaubt. Ich weiß nicht mehr, von wem ich den Namen Carl Loewe zum ersten Mal hörte. Nur dass ich, als ich kürzlich unter den Billigangeboten eines Plattenladens stöberte, mir spontan die CD des Baritons Theo Adam kaufte, eine DDR-Einspielung, auf der Loewes Lieder, zusammen mit einigen des fast gleichaltrigen Franz Schubert, zu hören sind. Zwei von Loewes Balladen haben es mir seitdem besonders angetan: „Prinz Eugen“ und „Heinrich der Vogler“. Das sind nun gewiss keine Gebilde der absoluten Poesie, und doch kunstvoll wie wenige. Von dem tapferen Ferdinand Freiligrath, dem Freund von Marx, der lange im Londoner Exil lebte, stammt das erste, von Johann Nepomuk Vogl das zweite. Es sind verklärte Augenblicke unserer Geschichte, die sie schildern: den Sieg des savoyisch-österreichischen Prinzen über die Türken bei Belgrad und die Krönung des Sachsen zum König der Deutschen, der in der Erinnerung bald mit der liebenswürdigen Vorstellung eines mit den Söhnen auf Vogelfang gehenden Vaters umkleidet wurde.
Das war es nun, was das 19. Jahrhundert liebte: Nationalgeschichte im romantischen Schimmer, in dramatischen Momenten; heiter, zierlich und verwinkelt wie unsere alten Städte. Lächeln wir – aber bedenken wir auch: Dies romantisch-historische Bild der Nation war europäische Norm. Walter Scotts „Ivanhoe“ und Victor Hugos „Glöckner von Notre Dame“ brachten Ähnliches auf dem Gebiet des Romans. Aber um auf Carl Loewe zurückzukommen, dem die Balladen ihr Überleben ja vor allem verdanken: So ganz aus dem musikalischen Leben ist er nun doch nicht verschwunden. Man findet Aufnahmen seiner Lieder von Hermann Prey, von Dietrich Fischer-Dieskau, neuerdings auch von Thomas Quasthoff – und immer sind Prinz Eugen und König Heinrich dabei. Loewe, von Brahms und Richard Wagner hochgeschätzt, ist kein fallierter Wert an der Aufmerksamkeitsbörse, sondern ein überraschend stabiler.
Aber nun stoßen wir auf ein zweites Problem. Seltsamer Widerspruch zwischen dem literarischen und dem musikalischen Kanon: Die historischen Balladen wurden aus den lyrischen Anthologien verdrängt. Wir müssen uns heute mühsam eine Ästhetik des mit langem Atem erzählenden Gedichts erst wieder ausdenken, wie wir in der Ästhetik der bildenden Kunst die Figur aufs Neue rechtfertigen müssen. Und diese Forderung ist keineswegs „restaurativ“, sie kommt uns entgegen aus dem Werk von Peter Hacks, der der historischen Ballade mit den geistvollsten Mustern wieder zu Ansehen verholfen hat, oder aus den kunstkritischen Arbeiten des Romanciers Martin Mosebach. Und was war es, das zum Schluss den kürzlich verstorbenen Robert Gernhardt bewegte, wenn nicht eine Revision des lyrischen Kanons zugunsten des erzählenden oder witzigen, jedenfalls „gegenständlichen“ Gedichts? Wer also Freiligrath oder Vogl sucht, greife zu einer eigenen Balladen-Anthologie, vielleicht zu dem schönen, von Otfried Preußler – ja, dem Hotzenplotz-Autor! – und Heinrich Pleticha herausgegebenen „Großen Balladenbuch“. Was die Balladen bringen, kann auch dem geschulten Historiker eine stilistische Lehre sein. Er findet große Zusammenhänge des Geschehens in der maximalen Verdichtung eines Augenblicks; eine reich getönte Palette von der strahlendsten bis zur tief verschatteten, ja schauervollen Ansicht. Waren nicht diese Gedichte und die moderne Geschichtsschreibung Kinder eines Zeitalters, eines Geistes? Fontanes Ballade über den Tod Wallensteins, in der das Ereignis nicht geschildert, nur im Geist des Lesers vorweggenommene Konsequenz wird; Agnes Miegels Nibelungen, ganz auf Kriemhild als Motor des Verhängnisses konzentriert, und natürlich der Rückertsche Barbarossa, der Stauferkaiser, der immer noch im Berg wartet, gehören zu den Höhepunkten. Aber auch weniger bekannte findet man wie die von Hermann Kurz über den „Bundschuh“ – den deutschen Bauernkrieg also, mit seinen Forderungen nach Gerechtigkeit, die so bald in Chaos, Plünderungen und Willkürakte mündeten, bei deren Niederschlagung aber niemand ein Gefühl des Triumphes haben wird.
Nehmen wir noch Detlev von Liliencrons tieftrauriges „Wer weiß wo“ hinzu, handelnd von der Schlacht bei Kolin, einer der schlimmsten Niederlagen Friedrichs des Großen in den Schlesischen Kriegen, und wir haben ein Fähnlein der sieben Aufrechten, einen Kanon der deutschen Geschichte im Kleinen, von den utopischsten Hoffnungen bis zu den bittersten Enttäuschungen, vom halben Mythos der Nibelungen bis zum fast modernen Kriminalfall der Wallenstein-Ermordung, auf vielleicht 20 Druckseiten. Aber wie vieler, kaum erfüllbarer Voraussetzungen bedürfte es, um ihn wirksam zu machen! Gerechtigkeit für unsere Geschichte wäre die erste. Die Stoffe, die sie birgt, sind die denkbar faszinierendsten; andere Nationen hätten sie längst in Filmen adaptiert. Eine zweite Voraussetzung wäre die unbefangene Einstellung auch zum militärischen Genius, sei er nun ein so tief problematischer wie Wallenstein oder ein im Staatsmännischen so glückhaft veranlagter wie Prinz Eugen, wahrlich eine europäische Figur. Pazifismus, so verständlich er angesichts der amerikanischen Erwartungen derzeit auch sein mag, kann nicht auf ewig die Maßgabe historischen Bewusstseins bilden.
Wird die patriotische Welle, die durch die Bundesrepublik gezogen ist, beim Erscheinen dieser Kolumne schon wieder abgeebbt sein, verdrängt von den dringenderen Sorgen oder vom Urlaub? Man kann solche Begeisterungsmomente nicht einkochen und später verzehren wie Marmelade. Vielleicht handelte es sich auch trotz des Fahnenmeeres gar nicht um Patriotismus, sondern um das soziologisch noch kaum gedeutete Phänomen einer undämonischen Masse, die einfach ein Unterscheidungszeichen brauchte. Aber eines kann man den Balladen entnehmen: Es gibt keinen deutschen Patriotismus, der nur im Hurra sein Ziel fände. Ein wenig Schmerz über das Versäumte und das Fehlgeschlagene darf dabei sein, und er ist es, bei den Dichtungen, auf die wir hinweisen wollten. Wäre da nicht das Problem der letzten Strophe von Freiligraths herrlichem und am Ende sogar witzigen Gedicht: „Eugen, der edle Ritter!’ / Hei, das klang wie Ungewitter / Weit ins Türkenlager hin“ – welcher Deutsch- oder Musiklehrer wird es wagen können, diese Ballade, selbst mit gut vorbereiteter didaktischer Entschärfung, auf den Lehrplan zu setzen?
Dr. LORENZ JÄGER, geb. 1951, Diplom-Soziologe und Germanist, unterrichtet an japanischen und amerikanischen Universitäten und ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zuletzt erschien von ihm „Adorno. Eine politische Biographie“ (2003).
Internationale Politik 8, August 2006, S. 98-99