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01. Nov. 2005

Balkanische Eiertänze

In die Lösung der Kosovo-Frage kommt endlich Bewegung

Die „Normalisierung“ des Balkans – und die Chance seiner Länder, irgendwann der EU beizutreten – hängt entscheidend davon ab, welchen Endstatus das heutige Protektorat Kosovo erhalten wird. Bisher waren die serbischen und kosovo-albanischen politischen Fronten in dieser Frage verhärtet. Doch das ändert sich gerade: Der Westen hat mit seinen „vier Neins“ klare Parameter für eine mögliche Lösung geschaffen.

Mit dem im Oktober vorgelegten Kosovo-Bericht des UN-Sondergesandten Kai Eide können nun die ersten Verhandlungen über den endgültigen Status des Kosovos aufgenommen werden. Endlich beginnen Serben, Kosovaren und der Westen, sich ernsthaft mit der Zukunft des Balkans auseinander zu setzen. Es gibt kein besseres Mittel zur aktuellen Standortbestimmung der gesamten Region.

Ohne Zweifel ist die große Leistung im „westlichen Balkan“ – um den Neologismus zu verwenden, der das frühere Jugoslawien und Albanien umfasst – die Beendigung des massenhaften Blutvergießens. Das Massaker von 1995 an fast 8000 unbewaffneten Männern und Jungen in Srebrenica veranlasste den beschämten Westen – der ein halbes Jahrhundert lang fromm verkündet hatte: „Nie wieder Ausschwitz!“ – zum Einschreiten. Die Intervention war erfolgreich. Die strafrechtliche Verfolgung des dortigen Völkermords und der Kriegsverbrechen wurde dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien (ICTY) in Den Haag übertragen. Eine Million Flüchtlinge konnten ihre Häuser in Bosnien-Herzegowina wieder in Besitz nehmen. Offizielle Vertreter der Republika Srpska, dem serbischen „Gebilde“ in Bosnien-Herzegowina, räumten schließlich vergangenes Jahr ein, dass die Verbrechen in Srebrenica von Serben verübt wurden, und der serbische Präsident Boris TadiT nahm an der Gedenkfeier zum zehnten Jahrestag des Massakers am 11. Juli teil.

Die mazedonischen Slawen und die albanischen Gemeinden, die kaum integriert sind, haben trotzdem ihre Auseinandersetzungen seit der Vermittlung des Ohrid-Abkommens 2001 durch den Westen auf Polemik beschränkt. Obwohl die politischen Parteien in Albanien, die aus einem Geflecht von verfeindeten Sippen und Patronaten bestehen, wenig Anzeichen zeigen für die Entstehung von größeren institutionalisierten und weniger personalisierten Parteien, kam es seit der Anarchie der späten neunziger Jahre nicht mehr zu wesentlichen bewaffneten Konflikten. Auch haben sich die Pogrome gegen die serbische Bevölkerung im Kosovo, die im Frühling 2004 ausbrachen, dieses Jahr nicht wiederholt.

Dennoch sind die Versuche der Balkan-Staaten, über die bloße Abwesenheit von Krieg hinaus einen „Normalzustand“ zu erreichen, mangelhaft – ohne Einschränkungen wird diese Glückseligkeit erst erreicht sein, wenn sie alle in den sicheren Hafen der Europäischen Union mit dem dazugehörigen Wohlstand einlaufen.

Im März 2004 hinterließ der plötzliche Gewaltausbruch von 50 000 albanischen Randalierern im Kosovo 20 Tote und mehr als 800 Verletzte, 32 entweihte serbische Kirchen und Klöster sowie etwa 4500 aus ihren Häusern vertriebene Serben, Roma und andere Minderheiten. Kurz darauf legte der norwegische Diplomat Kai Eide UN-Generalsekretär Kofi Annan eine Analyse der Ereignisse vor, die der UN-Mission im Kosovo (UNMIK) und, als logische Konsequenz, der Kontaktgruppe (Vereinigte Staaten, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Russland) durch ihre Untätigkeit eine Mitschuld vorwarf.

Die internationale Gemeinschaft verschob rechtzeitig ihre früheren Forderungen, die Provisorische Selbstverwaltung der Kosovaren (PISG) müsse alle von den Vereinten Nationen definierten politischen und institutionellen Standards erst erfüllen, um überhaupt Gespräche über den künftigen Status des Kosovos zu beginnen – nach dem Grundsatz „Standards vor Status“ – und bevor die UN-Verwaltung mehr Kompetenzen auf die PISG übertragen könne. Unter dem etwas lockereren Motto „Standards und Status“ wurde außerdem im Spätsommer 2004 ein Fortschrittsbericht über das Kosovo in Auftrag gegeben, der, das ist zu hoffen, zu wirklichen Verhandlungen über den endgültigen Status noch vor Ablauf dieses Jahres führen wird.

Die Politik im Hinblick auf den endgültigen Status des Kosovos begann sich zu verändern. Der Westen kam zu dem Schluss, dass die Gespräche eher früher als später beginnen sollten. Der Kreml scheint nun bereit zu sein, sein Veto im UN-Sicherheitsrat gegen das Kosovo für konkrete Gegenleistungen anderswo in der Welt einzutauschen. Serbiens Ministerpräsident Vojislav Koštunica hat zwar seine Position nicht aufgegeben, das Kosovo solle einen Status „mehr als Autonomie, aber weniger als Unabhängigkeit“ von Serbien erhalten; aber er hat zumindest seine Weigerung, überhaupt einen Kriegsverbrecher vor das Tribunal nach Den Haag zu senden, abgeschwächt, indem er zwölf Angeklagte überzeugte, sich dem Haager Tribunal zu stellen. Ramush Haradinaj, ein Ex-Kommandeur der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK), der durch die Wahlen im Oktober 2004 Premierminister des Kosovos wurde, hat während seiner dreimonatigen Amtszeit wider Erwarten einen pragmatischen und tatkräftigen Führungsstil im Kosovo eingeführt, bevor er zurücktrat, um sich im März 2005 vor dem Haager Tribunal zu verantworten.

Die Endphase hat noch nicht begonnen, aber es zeichnet sich Bewegung ab. Dieses Jahr setzte der Westen mit seinen „vier Neins“ klare Parameter für den Endstatus: keine Rückkehr zu serbischer Herrschaft, keine sofortige Vollsouveränität für das Kosovo, keine Aufteilung des Kosovos sowie kein Zusammenschluss, beispielsweise zwischen dem Kosovo und Albanien. Der Status, den der Westen akzeptieren würde, ist eine Version von bedingter Unabhängigkeit unter der Aufsicht internationaler Beobachter, die wichtige Machtbefugnisse in der Verteidigung und der Justiz kontrollieren und den Schutz der serbischen Minderheit über Jahre hinweg gewährleisten. 

Die serbische Perspektive

Zwei Jahrhunderte lang haben sich die Serben selbst als das dynamischste aller Balkan-Völker und als natürliche Anführer in der Region gesehen. Zahlenmäßig übertreffen sie die anderen Slawen in Südosteuropa. Im Mittelalter regierten sie über ein Großreich, in der jüngeren Vergangenheit waren sie die ersten Slawen, die sich von dem zerfallenden Osmanischen Reich lossagten. 1830 erlangten sie ihre Autonomie und 1878 schließlich ihre Souveränität. Ihr leidenschaftlicher Nationalismus, gepaart mit den panslawischen Empfindungen der weniger zahlreichen Kroaten in den Wilsonschen Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs, führten zur Entstehung des ersten Jugoslawiens, das von dem Serbenkönig Alexander dominiert wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der kroatische Marschall Josip Broz Tito im zweiten Jugoslawien die Serben gegenüber den anderen konstituierenden Nationalitäten im Gleichgewicht gehalten. Nach Titos Tod und nachdem sein Kommunismus des „dritten Weges“ als politische Legitimation verblasst war, entdeckte der damalige Präsident Slobodan MiloševiT die Magie des Serbentums wieder. 1987, auf dem Amselfeld im Kosovo – die Landschaft der epischen Niederlage der Serben gegen die osmanischen Türken im 14. Jahrhundert – donnerte MiloševiT: „Niemand wird dieses Volk je wieder schlagen!“ Es war der perfekte Appell an die tiefverwurzelte serbische Opferrolle, die lange mit dem serbischen Überlegenheitskomplex koexistiert hatte.

Im Jahr 2000 wurde Vojislav Koštunica als MiloseviTs Nachfolger zum Präsidenten gewählt, 2004 zum Nachfolger des ermordeten Ministerpräsidenten Zoran DjindjiT gewählt. Er stützte sich mit seiner Minderheitenregierung auf die Duldung von MiloševiTs Sozialisten, während DjindjiTs Demokratische Partei (DS) in die Opposition ging. Im Gegensatz zu DjindjiT schien Koštunica bis vor kurzem keine Europa-Vision zu haben. Es  hatte den Anschein, als sei er immun gegen die gesamte Dynamik, eine EU-Mitgliedschaft durch Reformen und Modernisierung zu erreichen. Im paralysierten Serbien nach DjindjiT schien diese Art von Einfluss auf politische und ökonomische Reformen nicht zu funktionieren.

Eine europäische Vision

Dieses Jahr aber begann Koštunica zu realisieren, dass seine Passivität zu einer Infiltration und Radikalisierung seiner DSS-Partei durch Ultranationalisten geführt hatte – so wie die Wählerunterstützung für die DSS untergraben wurde von Vojislaw Šešeljs Radikalen. Die wichtige „Sonntagsfrage“ gibt den Radikalen mit 32 Prozent einen Vorsprung vor der zweitplazierten DS mit 23 Prozent. Zusätzlich droht die G-17 Plus, eine kleine technokratische Partei der Ökonomen, aus seiner Koalitionsregierung auszusteigen und damit verhängnisvolle Neuwahlen zu erzwingen, falls Koštunica weiter die internationale Hilfe für Serbien blockierte, indem er die Auslieferung von serbischen Angeklagten nach Den Haag behinderte. Dieser Druck konnte letztlich den Premier überzeugen, mit der Übergabe der Angeklagten zu beginnen.

Dadurch gewann Koštunica im April auch die Zustimmung der EU, mit einer lang angelegten „Machbarkeitsstudie“ über ein Stabilisations- und Assoziationsabkommen für Serbien und Montenegro fortzufahren –  den ersten Schritt in Richtung EU-Beitritt. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn verband öffentlich die Zustimmung zu dieser Studie mit den bevorstehenden Status-Gesprächen über das Kosovo. Auch der EU-Hochkommissar für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, vertrat diese Auffassung in einem Interview mit der IP im April 2005. Koštunica erklärte sogleich: „Wir sehen die EU als unser gemeinsames Zuhause an.“ Westeuropäer betonen nun gegenüber serbischen Vertretern, dass ihr Land über die Kultiviertheit und das erfahrene Personal verfüge, um in Richtung einer Mitgliedschaft voranzuschreiten, wenn sie den politischen Willen hätten, die demokratischen und marktwirtschaftlichen Anforderungen zu erfüllen. Und ein führender EU-Vertreter deutete in vertraulichen Gesprächen mit Belgrad an, dass er nun darauf drängen würde, Serbien auf dieselbe Überholspur zur Mitgliedschaft zu bringen wie Kroatien – unter der Bedingung, dass die meistgesuchten der als serbische Kriegsverbrecher Verdächtigten (die wichtigsten politischen und militärischen bosnisch-serbischen Führer zur Zeit des Massakers in Srebrenica, Radovan KaradeiT und General Ratko MladiT) in nächster Zeit dem Haager Gerichtshof ausgeliefert würden.

Anzeichen, dass die serbische Veränderung tiefgreifender ist als es sogar noch vor wenigen Monaten möglich schien, können zum einen in dem veränderten Verhalten der serbisch-orthodoxen Kirche gegenüber den Angeklagten gesehen werden, deren Geistliche sie gewöhnlich als Helden priesen, und zum anderen in dem Auftauchen eines Videos, auf dem Hinrichtungen von unbewaffneten bosniakischen, d.h. muslimischen Gefangenen aus Srebrenica durch uniformierte serbische paramilitärische Polizeikräfte zu sehen sind.

Der führende Kopf der neuen Denkweise der orthodoxen Kirche ist der junge Bischof Grigorije aus Trebinje im östlichen Herzegowina: ein Mann, der den friedlichen Dialog mit anderen Religionen einleitete, regelmäßig Angriffe auf Moscheen in Bosnien-Herzegowina verurteilt und im vergangenen Frühjahr die Serben schockierte, als er alle Angeklagten öffentlich aufrief, nach Den Haag zu gehen. In der Folge waren auch von anderen Mitgliedern der orthodoxen Geistlichkeit in Serbien und Bosnien-Herzegowina ähnliche Äußerungen zu hören. Eine heftige interne Ausein-andersetzung über kirchliche Reformen dauert immer noch an. Widerstand gegen Grigorijs offenere Denkweise kommt von den Traditionalisten wie Bischof Artemije aus dem Kosovo, die befürchten, die Kirche verliere ihre Seele und werde „zu protestantisch“, und von der „roten Geistlichkeit“, die während der kommunistischen Zeit eingesetzt wurde. Der Ausgang dieses Konflikts wird großen Einfluss auf die öffentliche Meinung über den serbischen Hochmut, die europäische Identität und die Verantwortung für die Verbrechen haben, da die Kirche immer noch die Institution in Serbien ist, der am meisten vertraut wird.

Noch sensationeller für den durchschnittlichen Serben war ein im Juni aufgetauchtes, vormals geheim gehaltenes zweistündiges Video von 1995, das die Folter und Hinrichtung von sechs Bosniaken aus Srebrenica  – vier von ihnen waren jünger als 18 Jahre – durch uniformierte, paramilitärische Polizeikräfte des serbischen Innenministeriums, den so genannten „Skorpionen“, zeigt. 20 Kopien des Videos, das die Skorpione genüsslich selbst gefilmt hatten, wurden für die Ausbildung des serbischen Militärs verwendet. Teile des Videos wurden in Serbien ausgestrahlt. Koštunica und TadiT reagierten beide umgehend. TadiT erklärte, dies sei ein Beweis dafür, dass im Namen von Serben schreckliche Dinge getan wurden und die gesamte Nation mit dieser Wahrheit konfrontiert werden müsse. Innerhalb weniger Tage nach der Ausstrahlung wurden acht der „Skorpione“ des serbischen Innenministeriums, die auf dem Video zu sehen waren, von den Behörden des Landes verhaftet. Die Synode der serbisch-orthodoxen Kirche verurteilte „die kaltblütige Ermordung unbewaffneter, wehrloser Zivilisten“.

Natürlich garantieren die Gärungsprozesse in Serbien, die das Srebrenica-Video ausgelöst hat, nicht notwendigerweise eine Bereitschaft, jetzt auch Zugeständnisse bezüglich des weit komplexeren Kosovo-Status zu machen. Die klaren Niederlagen MiloševiTs in seinen dreieinhalb Expansionskriegen in den neunziger Jahren (Kroatien, Bosnien, Kosovo sowie der Krieg in Slowenien, der keiner war) und das darauf folgende Elend und der Zustrom serbischer Flüchtlinge ins serbische Kernland könnten das schlimmste nationalistische Virus in Schach gehalten haben. Eine kleine, westlich orientierte Elite in Belgrad könnte nun argumentieren, die Serben müssten ihre imperiale Denkweise ablegen, so wie es die Deutschen nach 1945 getan haben. Allerdings bleibt sie eine Minderheit.

Die kosovarisch-albanische Perspektive

Die kosovarische Psychologie ist weniger verschlungen, doch möglicherweise noch unentwirrbarer angesichts der späten Herausbildung des albanischen Nationalismus im 19. Jahrhundert, der späten Gründung des albanischen Staates 1912 sowie des Fortbestehens einer teils bewundernswerten, teils unheimlichen Clansolidarität auf politischer und krimineller Ebene. Anders als die Bosniaken gewannen die Kosovo-Albaner ihren Krieg mit kräftiger Unterstützung der NATO – zu rasch, um vor weiteren Gewalttaten hinreichend abgeschreckt worden zu sein.

In den späten neunziger Jahren ließ MiloševiT serbische Paramilitärs und Soldaten auf das Kosovo los, um albanische Dorf- und Stadtbewohner zu terrorisieren und zum Verlassen der Provinz zu bewegen. Im Frühjahr 1999, als bereits 300 000 Albaner von ethnischen Säuberungen durch Serben betroffen waren, reagierte der Westen militärisch. Während amerikanische Kampfflugzeuge über einen Zeitraum von elf Wochen Ziele im Kosovo und in Serbien unter Beschuss nahmen, antworteten serbische Kräfte im Kosovo auf asymmetrische Weise, indem sie 12 000 Zivilisten töteten und eine Gesamtzahl von 1,4 Millionen Menschen – oder etwa 60 Prozent der albanischen Bevölkerung – aus ihren Häusern im Kosovo vertrieben (von denen 860 000 im Ausland, vornehmlich in Albanien und Mazedonien, als Flüchtlinge registriert wurden und 580 000 als Vertriebene im Kosovo selbst galten).

MiloševiT gab schließlich auf. Die Regierung des Kosovos wurde der UNMIK anvertraut, die diese beispiellose Aufgabe nur langsam organisierte. Im institutionellen Vakuum ermordeten nationalistische albanische Mafiaorganisationen, so wie ihre serbischen Ebenbilder, ihre eigenen Landsleute, indem sie Informanten und Rivalen liquidierten, Grundbesitz wahllos enteigneten und unterhalb des Radars der KFOR-Friedenstruppen Schutzgeld von Restaurant- und Ladenbesitzern erpressten. Die ersten Verdächtigen, die von den ausländischen Verwaltern des Kosovos nach Den Haag ausgeliefert oder von internationalen Richtern im Kosovo verurteilt wurden, waren Albaner, die andere Albaner ermordet hatten – und keine Serben.

Inmitten derartiger Unsicherheit steckten die zurückkehrenden Flüchtlinge die Geldüberweisungen von Familienmitgliedern, die von den Älteren dazu bestimmt worden waren, im Ausland zu arbeiten, in den Bau von Eigenheimen, statt in den Handel zu investieren. Das leicht verdiente Geld, das die einströmenden Ausländer den Vermietern in Priština, den Importeuren italienischer Fliesen und den Zuhältern verschafften, vermittelte ein falsches Gefühl des Wohlstands, obwohl die Arbeitslosigkeit insgesamt 50 Prozent, bei den unter 25-Jährigen sogar 70 Prozent betrug und auch weiterhin beträgt.

Eine kosovarische Polizeibehörde wurde ins Leben gerufen, die, wann auch immer ihre internationale Führungsspitze schlau genug war, ihre albanischen (und zum Teil auch serbischen) Polizisten vor dem Druck der Mafia und Clans zu schützen, mit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung begann – zumindest in unpolitischen Fällen. Ein Kosovo-Schutzkorps wurde ebenfalls gegründet, um den Kern der alten Guerilla zu absorbieren. Dieses wurde von den Kosovaren als Keimzelle ihrer zukünftigen Armee angesehen und, so versicherten die internationalen Verwalter, sei ein Beitrag zur Katastrophenlinderung. Provisorische Bezirks- und zentrale Regierungsverwaltungen wurden geschaffen, um weniger wichtige Zuständigkeiten zu übernehmen, die die UNMIK nicht für sich reserviert hatte. UCK-Veteranenverbände behielten ihre Netzwerke und mobilisierten sie, als es im März 2004 in Mitrovica zu spontanen Gewaltausbrüchen gegen Serben kam. Im Zuge dieser Ausschreitungen griffen einige Randalierer erstmalig auch UNMIK-Fahrzeuge und -Gebäude an, während KFOR und UN-Polizisten – ebenfalls zum ersten Mal – mehrere lokale kosovo-albanische Rädelsführer erschossen. Der Rückhalt der ausländischen Retter in der Bevölkerung begann zu schwinden.

Nach diesen Randalen kamen die Alliierten eilig zu dem Schluss, dass die Klärung der Frage nach dem endgültigen Status des Kosovos beschleunigt werden müsse. Die militanten Kosovaren schlussfolgerten triumphierend, sie hätten bewiesen, dass die UNMIK ihr Spielball sei, waren dann jedoch überrascht, als nicht nur Brüssel, sondern auch Washington die Gewalt verurteilte. Ein europäischer Diplomat bemerkte trocken: „Ich glaube, das war eine sehr hilfreiche Lektion für Thaci und Rugova“, – eine Anspielung auf Hashim Thaci, den Führer der größten Partei, die aus den Netzwerken der UCK hervorgegangen ist, und Ex-Präsident Ibrahim Rugova.

In den regulären Parlamentswahlen ein halbes Jahr darauf schien die Abstimmung anfänglich nur den Stillstand zu bestätigen. Rugovas Demokratische Liga des Kosovos (LDK) verlor zwar an Stärke im Vergleich zu den Wahlen 2001, konnte jedoch eine Mehrheit von 45 Prozent verbuchen. Auf Platz zwei folgte mit 29 Prozent die vom ehemaligen UCK-Sprecher Thaci angeführte Demokratische Partei des Kosovos (PDK). Den dritten Platz belegte wieder Haradinajs kleine Allianz für die Zukunft des Kosovos (AAK) mit acht Prozent. Die neue, moderate, prowestliche Ora-Partei folgte mit sechs Prozent.

Darüber hinaus schienen die Wahlen ethnische Beziehungen zuzuspitzen und Bemühungen zu vereiteln, zu einem albanisch-serbischen Modus vivendi zu gelangen. Die 95 000 Serben, die in Nord-Mitrovica und in verstreuten Enklaven im Kosovo verblieben, nachdem die siegreichen Albaner die Hälfte der serbischen Bevölkerung während der zurückliegenden sechs Jahre zum Gehen genötigt hatten, neigten ohnehin dazu, ultranationalistisch zu sein. Bei dieser Abstimmung boykottierten selbst diejenigen ortsansässigen Serben die Wahl, die sich früher für reservierte Minderheitensitze in der Nationalversammlung des Kosovos hatten aufstellen lassen, sich nun aber für die von Serbien geforderten exklusiven „Parallelstrukturen“ Belgrads, d.h. kleine Renten, Kliniken und Schulen für Kosovo-Serben, entschieden.

Nach der Wahl zog es der distanzierte Rugova abermals vor, Präsident zu bleiben, statt sich als Ministerpräsident in das politische Chaos zu stürzen. Seine LDK sicherte sich eine parlamentarische Mehrheit durch eine Koalition mit der AAK und offerierte Haradinaj den aktiveren Posten des Regierungschefs. Diese Entscheidung kam überraschend, da zum einen erwartet wurde, dass Haradinaj bald darauf vor das Jugoslawien-Tribunal des Internationalen Gerichtshofs gestellt werden würde, und zum anderen sein eigener Bruder zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe wegen des 1999 verübten Mordes an Führern des bewaffneten Flügels der Rugova-Partei verurteilt worden war (in einem Verfahren, in dem wichtige Zeugen plötzlich verstarben).

Dennoch war Haradinaj in den Augen seiner internationalen Bewunderer etwas Neues auf der politischen Bühne. Nach dem Krieg hatte er sich Englisch beigebracht; er besuchte tagelange EU-Seminare, die sonst keinen Politiker kümmerten und glich Bildungslücken durch ein Jurastudium an der Universität Priština aus. Er war der Parteivorsitzende, der versuchte, seine Organisation aus dem Zusammenhang eines autokratischen, von oben herab geführten Patronats durch die umfangreiche Einbeziehung der Parteibasis zu lösen. Als Ministerpräsident verstand er die Bedeutung der Dezentralisierung, setzte sie energisch um und beanspruchte diese und andere Politikziele als „lokales Eigentum“, wie es ein EU-Diplomat ausdrückte.

Internationale Bemühungen

Bislang ist weder Haradinaj noch irgendein anderer Politiker aus Priština von der Forderung einer sofortigen und vollständigen Unabhängigkeit des Kosovos abgerückt. Genauso wenig haben serbische Politiker die bewusst verschwommen gehaltene Formel „mehr als Autonomie, weniger als Unabhängigkeit“ (aber immer noch serbische Provinz) aufgegeben. Doch ist Diplomatie nichts anderes als die Kunst, Schwäche in Stärke umzuwandeln. Internationale Bemühungen zielen nun darauf ab, die Verwundbarkeiten aller Beteiligten in den Statusverhandlungen von dem Zustand einer Lähmung wegzuleiten hin zu einer „Win-win“-Situation für alle einstmaligen Verlierer. Eine Vorwärtsbewegung könnte die westlichen Regierungen ihren Steuerzahlern versichern lassen, im Kosovo kein Protektorat auf unbestimmte Zeit finanzieren zu müssen. Sie könnte auch Koštunicas politische Rutschpartie in Serbien minimieren und die Hoffnung erzeugen, dass die dynamischen Serben nach anderthalb Jahrzehnten der Isolierung und sturer Ablehnung der EU doch noch aufholen könnten – solange Belgrad bereit ist, den Preis zu bezahlen und Mladic und Karadžic nach Den Haag ausliefert. 

Der Ort, an dem die westliche Vorstellung einer eingeschränkten Souveränität für das Kosovo am schwierigsten zu verkaufen sein dürfte, wird aller Voraussicht nach nicht Belgrad sein, dessen Politiker die Möglichkeit wittern, die kosovarische Dezentralisierung als Verhandlungsmasse für eine De-facto-Teilung Nord-Mitrovicas (und möglicherweise auch einer doppelten serbischen Staatsbürgerschaft für Kosovo-Serben) zu verwenden. Die skeptischere Hauptstadt wird Priština sein, wo die politische Elite noch immer von ungebändigter Souveränität träumt und in einigen Fällen sogar von einem Großkosovo, das eines Tages das nördliche Mazedonien, das südliche Serbien und das albanische Kernland einschließen könnte. Auch könnte die Unabhängigkeit auf konditionaler Basis, die dem Kosovo eine Zukunft innerhalb Europas und die abschließende juristische Klärung widerstreitender Territorialansprüche in Aussicht stellt, helfen, eine der ärmsten Regionen Europas jenseits steriler Rekonstruktion zu verbesserter ökonomischer Entwicklung anzutreiben.

Dies ist natürlich eine minimalistische Variante der Dynamik, in welcher das Ziel des EU-Beitritts künftige Kandidaten aus Osteuropa dazu anspornte, sich schmerzhaften, aber unerlässlichen Reformen und der Schaffung neuer Institutionen zu unterziehen, um aus der Mitgliedschaft, die sie letztes Jahr erlangten, einen politischen und wirtschaftlichen Erfolg zu machen. Dieser Effekt könnte bei anfänglichem Gelingen in Serbien und Kosovo allein an nuancierten Veränderungen abgelesen werden. Doch ist diese Nuance entscheidend. Widerwillig hat Koštunica jetzt dem Wiedereintritt der Kosovo-Serben in gemeinsame politische Arbeitsgruppen und selbst in das Parlament zugestimmt. Einige kosovo-serbische Politiker sind bereits auf das Arbeitsgruppenmodell zurückgekommen. Das einzige serbische Mitglied des PISG-Kabinetts, Rückkehrminister Slavisa PetkoviT, hat bemängelt, dass Koštunicas Politik der harten Linie den Rückstrom serbischer Flüchtlinge in den Kosovo behindert habe; er hat nun die erste kosovo-serbische Partei gegründet, die andere Interessen als Belgrad definiert. Dies kann als der Beginn eines Akzeptanzprozesses einiger Kosovo-Serben verstanden werden, die anerkennen, dass ihre politische Zukunft eher im Kosovo als in Serbien liegt.

Um es allgemeiner auszudrücken: Es kann sein, dass genug Zeit vergangen ist, um alte Leidenschaften zur Abkühlung zu bringen. Der Mythos des Amselfelds hat einiges an Glanz verloren. Das Spiel der EU im Kosovo und Serbien mag nicht unbedingt schön verlaufen, doch ist es das einzige Spiel, das es gibt. Es könnte sogar funktionieren und dabei helfen, den restlichen West-Balkan ein Stück näher hin zum „Paradies der Normalität“ zu ziehen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2005, S. 82 - 89

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