Aufstand der Ausgehungerten
Preisexplosionen, Versorgungskrisen, Hungeraufstände: Was wir tun können
Schon heute sind in vielen Entwicklungsländern Ausschreitungen infolge explodierender Nahrungsmittelpreise zu beobachten. Für die Zukunft ist verstärkt damit zu rechnen, dass die Preise kurzfristig und unvermittelt Rekordhöhen erreichen. Steigt damit das Sicherheitsrisiko? Und wie lässt sich die Gewalteskalation im Vorfeld abfangen?
Es war im Frühjahr 2008, als zunächst die Nahrungsmittelpreise explodierten und anschließend die Gewalt eskalierte. Bei Ausschreitungen in Kamerun, im Jemen, in Haiti und Bangladesch waren rund 60 Tote zu beklagen, 2000 Menschen wurden verhaftet; in Haiti führten die Unruhen sogar zum Sturz der Regierung.
Zwar war es nicht allein eine Versorgungskrise, die zur Eskalation der Konflikte führte. So machte die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) für 37 Länder im Rahmen ihres regelmäßigen Monitorings zur Nahrungssituation im Frühjahr 2008 eine Versorgungskrise aus. Nur in vier Staaten aber fanden auch Unruhen statt – Haiti, Bangladesch, Elfenbeinküste, Mauretanien –, und in der Mehrzahl der Fälle kam es in Ländern zu Ausschreitungen, die gerade nicht als versorgungsgefährdet klassifiziert wurden: Argentinien, Ägypten, Peru, Senegal, Burkina Faso, Mosambik, Jemen, Indien, Indonesien, Pakistan, Kamerun sowie Trinidad und Tobago.
Doch wenngleich Versorgungskrisen nicht zwangsläufig zu politischen Konflikten führen, bleibt das Thema der Nahrungsmittelversorgung von zentraler Bedeutung. Dabei stellen sich drei Fragen, die nach Ansicht der FAO zu beantworten sind: Wie lässt sich die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln erhöhen, wie kann die Nutzbarkeit von Nahrungsmitteln verbessert und wie kann schließlich der Zugang zu Nahrungsgütern erleichtert werden?
Die physische Verfügbarkeit von Nahrung wird vor allem durch klimabedingte Großwetterereignisse wie Überschwemmungen, aber auch durch innere politische Konflikte eingeschränkt, die Produktionskapazitäten, Lager und Transportwege zerstören. Die Nutzbarkeit bezieht sich auf die Einbindung der Nahrungsmittelversorgung in die Gesundheitspolitik eines Landes: Gesundheitsbelastungen und das Gesundheitssystem bestimmen, ob es trotz ausreichend verfügbarer Nahrungsmittel zu einer mangelhaften Versorgung kommt. Eine hohe Infektionsrate mit Krankheiten wie Aids und Malaria oder eine schlechte Trinkwasserversorgung begrenzen die Nutzbarkeit von Nahrung als Lebensgrundlage. Der Zugang zu Nahrungsmitteln schließlich ist vor allem vom Preis- bzw. Einkommensniveau abhängig. Aber auch soziokulturelle Faktoren sind relevant, etwa wenn Frauen und Kinder schlechter mit Nahrung versorgt werden. Die Preisexplosion im Frühjahr 2008 beschränkte den Zugang zu Nahrungsmitteln und ist Hauptauslöser für die Versorgungskrisen dieser Phase.
Wenn der Preis explodiert
Gerade in Sachen Zugang zu Nahrungsmitteln ist künftig vermehrt mit Problemen zu rechnen, da die Preise sektorimmanent und aufgrund veränderter Rahmenbedingungen immer mal wieder unvermittelt Rekordhöhen erreichen dürften: Lange Produktionsphasen und schlechte oder teure Lagerungsmöglichkeiten von Nahrungsmitteln machen Preisschwankungen nach oben bei Agrarrohstoffen wahrscheinlich. Bereits ein geringer Rückgang des Angebots kann sehr hohe „Preispeaks“ verursachen, da zusätzliche Angebotsmengen erst mit zeitlicher Verzögerung auf den Markt gebracht und damit Preise wieder gedämpft werden können. Diese Anfälligkeit steigt, wenn nur geringe Reservebestände an Nahrungsmitteln vorliegen.
Waren die Agrarmärkte bis Anfang der neunziger Jahre noch durch hohe Überschüsse gekennzeichnet, so sind die Weltreserven seitdem kontinuierlich gesunken. Die Lagerkapazität von Weizen etwa lag in den achtziger Jahren noch bei 130 Tagen, während sie bis 2008 auf nur noch 38 Versorgungstage sank. Ein wesentlicher Grund für diesen Rückgang sind tiefgreifende Reformen der Agrarpolitiken in vielen großen Agrarländern (EU, USA). Diese führten weg von der historischen Überproduktion mit entsprechenden Lagerbeständen und wurden vor allem durch Vorgaben der Welthandelsorganisation angestoßen.
Auch die zunehmende energiepolitische Förderung nachwachsender Rohstoffe führt zu sinkenden Überschüssen, da Agrarrohstoffe vermehrt in der Energieerzeugung eingesetzt werden. Die daraus resultierende Verknappung drückt sich in einem Preisauftrieb für Agrarrohstoffe aus, der auf bis zu 75 Prozent geschätzt wird.1 Das Bevölkerungswachstum gerade in Asien und Afrika steigert die absolute Nachfrage nach Nahrungsmitteln. Das Wirtschaftswachstum führt zu einer Verschiebung hin zu Luxusprodukten wie Milch und Rindfleisch, was wiederum die Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln wie Getreide als Tierfutter erhöht.
Langfristig steht zu erwarten, dass das landwirtschaftliche Angebot nicht mehr so stark wachsen wird wie in der Vergangenheit. Veränderte Klimabedingungen können die Wasser- und Bodenverfügbarkeit und -qualität senken und die Stressanfälligkeit von Pflanzen erhöhen. Auch kurzfristige Angebotseinbrüche durch Großwetterereignisse wie Dürren und Überschwemmungen werden durch den Klimawandel wahrscheinlicher. Zudem erhöht der Klimawandel Ernteverluste durch Erkrankungen von Pflanzen etwa durch die Einwanderung neuer Erreger. Die FAO identifiziert bereits heute solche klimatischen Ereignisse als Hauptgrund für Versorgungskrisen.2
Nun führen Preissteigerungen nicht automatisch zu nationalen Versorgungskrisen. Das geschieht nur dann, wenn es den betroffenen Ländern nicht gelingt, einen Ausgleich zu schaffen – über eigene Nahrungsmittelreserven oder über Importe und Nahrungsmittelhilfen. Doch verfügen gerade Entwicklungsländer aufgrund ihrer ohnehin schwachen Agrarproduktion oft kaum über entsprechende Reserven, und die Möglichkeiten, durch Importe einen Ausgleich zu schaffen, werden angesichts der ohnehin geringen Wirtschaftskraft dieser Länder gerade durch Preispeaks naturgemäß eingeschränkt. Auch Nahrungsmittelhilfen stehen in Zeiten hoher Preise nur in geringem Maße zur Verfügung. Entweder signalisieren Preispeaks ja gerade, dass nur wenig Reserven verfügbar sind, oder aber der Verzicht auf hohe Exporteinnahmen erscheint aus Sicht der Geberländer nicht vertretbar.3
Gerade bei der Preisexplosion 2008, die weltweit zu einem Anstieg der Zahl unterernährter Menschen um 40 Millionen auf fast eine Milliarde führte, standen externe Ausgleichsoptionen nur in geringem Maße zur Verfügung. Die Nahrungsmittelausgaben für Importe explodierten vor allem in Afrika – etwa um mehr als 30 Prozent, wie im Senegal und in Ägypten.4 Zwar versuchte man, die steigenden Versorgungslücken durch Nahrungsmittelhilfen zu decken. Für einige Länder wie Äthiopien oder Mauretanien konnte damit auch die Versorgung gesichert werden. Doch in der Regel reichten Nahrungsmittelhilfen gerade in den betroffenen afrikanischen Ländern nicht zur Versorgung aus (z.B. Kenia, Simbabwe, Somalia). Aber auch in Haiti, Nordkorea sowie in Afghanistan blieben massive Versorgungslücken: So fehlten in Afghanistan fast zwei Millionen Tonnen Getreide zur Grundversorgung.5
Neue Landnahme
Ein weiteres Phänomen, das sich auf die Versorgungssicherheit auswirken dürfte, sind die Investitionen vieler Länder in ausländische Landflächen („land grabbing“). Da es sich dabei um eine vergleichsweise junge Erscheinung handelt, sind ihre Auswirkungen derzeit empirisch noch nicht nachweisbar. In den vergangenen Jahren ist die Zahl nachgewiesener Landkäufe und -pachten kontinuierlich gestiegen. So verdoppelte sich im Jahr 2008 die Zahl der Anträge für Landtransaktionen gegenüber dem Stand von 2007. Während China und Südkorea Landflächen vor allem in Asien und Afrika erwerben und die Golf-Staaten eher in Nachbarregionen investieren, haben die Investitionen der EU und der USA keinen bestimmten geografischen Fokus. Diese Investitionen können sowohl Folge von Versorgungsrisiken sein als auch gerade ihre Ursache, je nach Land und konkreter Ausgestaltung.
Für Investorländer bieten sie eine Versorgungsabsicherung der eigenen Bevölkerung, für die Zielländer von Landinvestitionen jedoch können sie die heimische Versorgung einschränken, wenn die eigene Nahrungsmittelproduktion verdrängt und der ländlichen Bevölkerung die Einkommensgrundlage entzogen wird. Zudem kann eine intensive Landbewirtschaftung von vormals ungenutzten Flächen zu Umwelt- und Wasserbelastungen führen, was wiederum die Produktionskapazität verschlechtert. Allerdings sind auch positive Effekte möglich, etwa eine Verbesserung der Produktivität durch Technologiezufluss.
Von der Krise zum Konflikt?
Während also der Prozess, durch den eine Preisexplosion zu einer Versorgungskrise führt, gut untersucht und laufend beobachtet wird, gilt das nicht für versorgungsbedingte Unruhen. Immerhin, die wenigen vorliegenden Studien identifizieren drei relevante Einflussfaktoren: den Versorgungszustand, das Bevölkerungswachstum und die generelle politische Regierungsfähigkeit.6 Bei diesen Faktoren zeigt sich für alle zwölf Staaten, in denen es auch ohne Versorgungskrise 2008 zu Unruhen kam, eine deutliche Verschlechterung.
Der Versorgungszustand eines Landes spielt vor allem als relative Größe eine Rolle bei der Konflikteskalation. Es kann zu Konflikten in Ländern kommen, für die sich der Versorgungszustand verschlechtert hat, auch wenn laut FAO keine akute Versorgungskrise zu verzeichnen ist. Laut „Food Security Assessment Report“ ergaben sich von 2007 bis 2009 in der Gruppe der Konfliktländer ohne diagnostizierte Versorgungskrise bei den afrikanischen Staaten die größten Veränderungen. Hier stieg die Versorgungslücke um bis zu 300 Prozent – etwa in Burkina Faso, dem Senegal oder Kamerun.
Das Bevölkerungswachstum steigert die sozialen Spannungen, die sich aus verteuerten Lebensmitteln ergeben, vor allem dann, wenn gleichzeitig eine hohe Einkommensungleichheit in einem Land vorliegt. Nach der IWF-„World Economic Outlook Database“ lag das jährliche Bevölkerungswachstum bei den Konfliktländern ohne akute Versorgungskrise vor allem im Jemen und in den afrikanischen Staaten mit bis zu drei Prozent überdurchschnittlich hoch. Die Einkommensungleichheit war nach den Weltentwicklungsindikatoren der Weltbank insbesondere in den Unruheländern Peru und Argentinien in den Jahren unmittelbar vor 2008 besonders groß.
Und schließlich hängt es von der generellen politischen Regierungsfähigkeit ab, wie einzelne Länder mit aufkommenden Spannungen fertig werden. Schwache Governance-Strukturen steigern die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Konflikt-ausbruch kommt und erhöhen auch das Ausmaß der Gewalt. Gemessen am Korruptionsindex von Transparency International und am Governance Effectiveness Index der Weltbank zeigt sich für alle betroffenen Länder eine schwache Governance-Qualität.
Versorgung und Stabilisierung
Wenn wir die Faktoren benennen, die dazu führen, ob Preispeaks sich zu einer Versorgungskrise auswachsen oder auch unabhängig von einer faktischen Versorgungskrise zu Ausschreitungen führen, wissen wir, wo wir mit den Lösungsversuchen ansetzen müssen. In der ersten Stufe – vom Preispeak zur Versorgungskrise – greifen eher versorgungsbezogene Maßnahmen. In der zweiten Stufe, in der es zum Konfliktausbruch kommen kann, sind umfassendere Maßnahmen zur politischen Stabilisierung nötig.
Zu den extern ansetzenden versorgungsbezogenen Maßnahmen zählt die Möglichkeit, Nahrung zu importieren. Voraussetzung hierfür ist, dass weltweit genug Reserven zur Verfügung stehen. Zudem dürfen keine Handelsbeschränkungen der exportierenden Länder vorliegen. Gerade wegen der Preissprünge 2008 beschränkten viele auch der großen Agrarexporteure ihre Ausfuhren (Argentinien, Indien). Diese Politik jagt einen ohnehin steigenden Preis weiter hoch und blockiert die Möglichkeit für gefährdete Länder noch stärker, sich über Importe zu versorgen. Die WTO gestattet solche Maßnahmen in Versorgungskrisen. Allerdings fehlen dafür bislang definierte Auslöseschwellen sowie eine zeitliche Befristung. Solche Regeln standen bereits auf der Doha-Verhandlungsagenda und sollten nun dringend beschlossen werden.
Auch Nahrungsmittelhilfen können Defizite auffangen, stehen aber oftmals antizyklisch zur Verfügung. Versuche, dieses durch Reformen im Rahmen der Food Aid Convention zu ändern, scheiterten bislang an den USA als zweitgrößtem Geberland. Langfristig entscheidend bleibt, dass die agrarbezogene Entwicklungshilfe nach langjährigem Tief endlich wieder steigt: Betrug ihr Anteil an der gesamten Entwicklungshilfe in den siebziger Jahren noch 15 Prozent, so sank er bis 2007 auf unter vier Prozent, was insgesamt rund drei Milliarden Dollar ausmacht. Aber nur eine kontinuierliche Agrarhilfe von jährlich 30 Milliarden Dollar kann laut FAO helfen, Versorgungsknappheiten nachhaltig zu vermeiden. Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise ist fraglich, ob es zu einem Anstieg der Verpflichtung der Geberländer kommen kann. Bei den zunehmenden ausländischen Direktinvestitionen in Landflächen könnten Schutzklauseln in den bilateralen Verträgen verhindern, dass in einer Versorgungskrise Agrarrohstoffe aus gefährdeten Ländern in die Investorenländer exportiert werden. Hierfür international rechtsverbindliche Standards zu entwickeln wird schwierig. Ein Schritt in diese Richtung könnten zumindest freiwillige Leitlinien für Investorländer sein – ähnlich denen der FAO zum Recht auf Nahrung.
Andere versorgungsbezogene Maßnahmen setzen intern und damit bei den gefährdeten Ländern selbst an. Ähnlich wie die Entwicklungshilfe gingen in vielen versorgungsgefährdeten Ländern auch die Haushaltsausgaben für den Agrarsektor zurück. Zudem verhindern agrarpolitische Maßnahmen wie die Subventionierung von Nahrungsmittelpreisen, dass die landwirtschaftliche Produktion wirklich gewinnbringend ist und entsprechend ausgebaut wird. Was Entwicklungsländer daher brauchen, sind produktionssteigernde Reformen. Nur bei ausreichender Nahrungsmittelproduktion können Lagerbestände aufgebaut werden, die auftretende Lücken decken können, ohne dass man auf teure Importe zurückgreifen muss. Auch hierfür kann die Agrarpolitik durch Erzeugerhilfen Anreize schaffen.
Zielländer für Auslandsinvestitionen in Landflächen sollten die Möglichkeiten zur Einkommens- und Versorgungssicherung nutzen, die bereits jetzt rechtlich möglich sind – etwa Entschädigungen für betroffene Bauern in Form neuer Landzuweisung. Diese steht und fällt allerdings mit der Dokumentation von Landeigentum, was in vielen Zielländern bereits daran scheitert, dass kein Katastersystem existiert. Eine weitere Option ist es, sicherzustellen, dass in Versorgungskrisen keine oder weniger Exporte in das Investorland abfließen. Dies entspräche der WTO-Möglichkeit für Exporteinschränkungen.
Und in der zweiten Stufe schließlich, der Stufe der Konflikteskalation, greifen Maßnahmen, die unabhängig von einer tatsächlichen Versorgungskrise ansetzen. Hierzu gehören ein prophylaktischer Ausbau des Agrarsektors inklusive Reservehaltung, eine Verringerung der Einkommensdisparitäten sowie last but not least stabile und effektive Governance-Strukturen.
Dr. BETTINA RUDLOFF ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen bei der SWP.
- 1Vgl. Elobio: Biofuel Policies for Dynamic Markets, Elobio Policy Paper 1, Petten, September 2008, S. 6, http://www.grascommuniceert.nl/work/elobio/www/files/elobioBrochure.pdf.
- 2FAO: Crop Prospects and Food Situation No. 5, Dezember 2008.
- 3FAO: Prognose, Food Outlook, Juni 2009.
- 4UN Comtrade Database.
- 5USDA: Food Security Assessment 2008–2009, S. 42.
- 6Per Pinstrup-Andersen und Satoru Shimokawa: Do Poverty and Poor Health and Nutrition Increase the Risk of Armed Conflict Onset?, Food Policy, 33 (2008) 6, S. 513–520. Joachim von Braun: Food and Financial Crises: Implications for Agriculture and the Poor, Brief for the CGIAR annual meeting, Maputo 2008, S. 6, http://www.ifpri.org/pubs/agm08/jvb/jvbagm2008.pdf.
Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 38 - 44.