Aufbruch im Umbruch
Was und wohin wollen und sollen die Deutschen mit Europa im 21. Jahrhundert? Neue Bücher zur Lage der Nation.
Beginnen wir mit der Problembeschreibung. Darin sind die Deutschen traditionell besonders gut, wie die Neuerscheinungen zur Lage des Landes zeigen: Dort werden sie aufgelistet, all die Probleme, vor denen Deutschland und Europa stehen – mit einer Ausnahme: dem Corona-Virus, das noch nicht in Europa angekommen war, als diese Bücher geschrieben wurden.
Wenn man nach einem Autor sucht, der Deutschland den Spiegel vorhält, kommt Gabor Steingart wie gerufen. Er pflegt diese Disziplin nicht nur täglich in seinem Newsletter „Steingarts Morning Briefing“. Der ehemalige Chefredakteur des Handelsblatts und frühere Leiter der Spiegel-Büros in Berlin und Washington hat mit „Deutschland – Der Abstieg eines Superstars“ bereits vor einigen Jahren einen Bestseller gelandet, der als Vorläufer seines neuen Buches gelten kann.
In „Die unbequeme Wahrheit“ beschreibt Steingart seine Heimat als ein Land mit zwei Wahrheiten: Die eine erzählt von einer florierenden Exportwirtschaft, einer üppig gefüllten Staatskasse und Deutschlands Vorreiterrolle beim Klimaschutz. Die andere Version handelt von fehlenden ökonomischen Impulsen, von prekären Lebensverhältnissen und einer tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaft. Eine große Gefahr sieht Steingart in der starken Emotionalisierung der Umweltbewegung, die den Klimaschutz auf Kosten der Vernunft durchsetzen wolle – für ihn ein Fehler von historischem Ausmaß.
So präzise Steingarts Problembeschreibung an vielen Stellen ist, so allgemein kommen seine Lösungsideen daher. Zum Beispiel schlägt er vor, den deutschen Sozialstaat neu zu denken. Sein Vorbild ist Norwegens Staatsfonds – der mittlerweile größte der Welt. Er fordert darüber hinaus einen „Marshallplan für Integration“, neue Wege der Partizipation, eine „Bildungsrepublik“ und, natürlich, ein „neues Narrativ“ für Deutschland.
2020 als Wendejahr
Den etwas weiteren Blick nach Europa und in die Welt wagt Sigmar Gabriel. Der ehemalige Außen-, Wirtschafts- und Umweltminister Deutschlands erkennt eine „große Transformation“ – in der internationalen Ordnung, in Wirtschaft und Technologie sowie in der gesellschaftlichen und kulturellen Globalisierung. Hinzu kommt ein Europa, das sich mit einer ganzen Reihe von inneren und äußeren Herausforderungen konfrontiert sieht – ein Europa auf der Suche nach einer neuen Rolle in der Welt des 21. Jahrhunderts.
Dabei betrachtet Gabriel 2020 als Wendejahr – und das bereits vor Beginn der Corona-Krise: Er weist nicht nur auf die sich abschwächende Weltwirtschaft hin, die seit der letzten großen Rezession von 2008 den längsten Aufschwung der Nachkriegszeit hinter sich hat. Gabriel sieht die Welt in eine „geopolitische Rezession“ eintreten. Das habe mit einem Mangel an globaler Führung als Folge wachsender amerikanischer Unberechenbarkeit zu tun und mit einem im Niedergang begriffenen Russland, das die Stabilität und den Zusammenhalt der USA und ihrer Verbündeten untergraben wolle. Und dann ist da noch ein immer mächtiger werdendes China, das eine wettbewerbsfähige autoritäre Alternative zur liberalen Weltordnung global zu verankern suche. Daraus schlussfolgert Gabriel, dass eine große globale Krise drohe, wenn wirtschaftliche Schwäche mit geopolitischen Krisen und Unsicherheiten zusammenträfe und diese sich wechselseitig verschärften.
Die Deutschen stehen in dieser Situation vor der Wahl zwischen Lethargie und Aufbruch. Gabriel beklagt eine „organisierte Verantwortungslosigkeit“. Deutschland müsse die Ärmel hochkrempeln, bis zum Jahr 2030 digitaler, grüner und gerechter werden und die soziale Marktwirtschaft erneuern. Er plädiert für Mut zum Staat und für Frieden als Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Russland will er dabei nicht verlieren.
Gabriel betont, dass eine neue Russland-Strategie immer eine europäische sein müsse und nie ein deutscher Alleingang sein dürfe. Dazu zählt für ihn – mit Verweis auf die Entspannungspolitik von Willy Brandt – auch militärische Stärke. Nur starke Partner könnten starke Verträge schließen. Und nur ein einiges, ein militärisch selbstbewusstes und verteidigungsbereites Europa werde als Verhandlungspartner von Moskau ernst genommen.
Gabriel wirbt dafür, im Ukraine-Konflikt die Sanktionen des Westens gegen Russland, die schrittweise aufgebaut wurden, auch wieder Schritt für Schritt abzubauen, wenn es zu Fortschritten in den Verhandlungen kommen sollte. Zu einer neuen europäischen Russland-Strategie würde es für Gabriel ebenso gehören, sich unabhängiger von russischem Erdgas zu machen, ohne zugleich die Liberalisierung des Gasmarkts aufzugeben. Als Instrument dazu empfiehlt er einen verstärkten Wettbewerb auf dem europäischen Gasmarkt.
Deutschlands Bereitschaft zur europäischen Solidarität ist für Gabriel dabei ebenso eine Selbstverständlichkeit wie das Verständnis für unterschiedliche Sichtweisen der Europäer. Um Europas „sensationelle“ Erzählung in die Zukunft verlängern zu können, ruft er dazu auf, zusammenzustehen. Europa brauche den Willen seiner Mitgliedstaaten zur Einigung.
Drei „Megabeben“
Bei dieser internationalen Gemengelage setzt auch Joschka Fischer an. Als einer der Amtsvorgänger von Gabriel im Auswärtigen Amt kreisen seine Gedanken ebenso um einen notwendigen Aufbruch Europas in einer Welt im Umbruch wie um die deutsche Verantwortung dabei. Auch er sieht die Konturen einer neuen Weltordnung entstehen: der Aufstieg Chinas, die Verlagerung der weltpolitischen Zentralachse weg vom Nordatlantik hin zum Pazifik und zu Ostasien; eine Weltmacht USA, die die Lasten der globalen Führung nicht mehr tragen will und schon gar nicht die einer globalen Ordnungsmacht, die aber an ihrer Führungsrolle unter nationalistischen Vorzeichen festhält; und schließlich eine „frustrierte und ökonomisch ineffiziente“ nukleare Weltmacht Russland und ein stagnierendes Europa. Dazu kommen Konflikte entlang der eurasischen Hauptachse zwischen Pazifik und Europa; und nicht zuletzt die Auseinandersetzung Nationalismus versus internationale Zusammenarbeit.
Die Europäer und damit auch die Deutschen ermahnt Fischer, 30 Jahre nach dem „magischen Jahr“ 1989 nicht noch einmal denselben Fehler zu machen: die Radikalität und die dramatischen Auswirkungen einer historischen Zäsur zu unterschätzen. Ein „Megabeben“ namens Donald Trump zertrümmert nach Fischers Wahrnehmung das westliche Bündnis in Verbindung mit zwei anderen Megabeben – dem Aufstieg Chinas zur globalen Nummer eins und der digitalen Revolution, die ebenfalls kaum einen Stein auf dem anderen lassen werde.
Fischer erblickt folglich drei Revolutionen auf einmal, vor denen die Welt und damit auch Europa heute stünden – Revolutionen, die der Alte Kontinent nach Fischers Prognose allein werde bewältigen müssen, ohne Schutz und Deckung durch den „großen Bruder“ USA. Dessen Rückzug aus der globalen Verantwortung sei die größte Herausforderung für die Europäer.
Europas Marktlücke
Was tun? Fischers Empfehlungen kommen bescheiden daher, was sie realistisch wirken lässt. Die EU sei vom Status her eine Mittelmacht, von einer globalen Großmacht weit entfernt, und sie solle einen solchen Status auch gar nicht versuchen anzustreben. Als strategisches Ziel für die Europäer deklariert Fischer, technologisch in der globalen Spitzengruppe zu bleiben und machtpolitisch so stark zu werden, dass man sich selbst verteidigen könne – auch wenn das schwer genug werden dürfte. Fischer bringt das in eine griffige Formel: „Für Europa zählen keine Statusfragen, sondern Souveränitätsfragen, Status setzt Souveränität voraus.“
Mit Blick auf Asien hält Fischer einen für Deutschland, Europa und den Westen insgesamt Mut machenden Ausblick bereit: Die Rivalität der Großmächte im 21. Jahrhundert wird nach seiner Prognose vor allem im nichtmilitärischen Bereich – in Wirtschaft, Technologie und der Attraktivität der Gesellschaftssysteme – stattfinden. Angesichts der Größenverhältnisse zwischen den aufsteigenden asiatischen Gesellschaften und dem Westen werde sich genau in dieser Auseinandersetzung eine Chance zur Erneuerung des Westens bieten.
Hier sieht Fischer die Europäer in einer guten Ausgangsposition. China mit seinem totalitären und die USA mit ihrem radikal privatwirtschaftlichen Ansatz ließen ausreichend Raum: Die europäische Tradition, eine Marktwirtschaft mit stärkeren etatistischen und sozialen Traditionen und einer regulierungsoffeneren Mentalität in der Gesellschaft, könne sich gegenüber den beiden anderen Ansätzen als durchaus im Vorteil erweisen.
Und tatsächlich könnte eine gelungene demokratische Regulierung, die nach Fischers Definition eine transparente politisch-gesellschaftliche Debatte zur Grundlage haben muss, zu einem europäischen Exporterfolg werden. Denn wer als Erster erfolgreich reguliere, so Fischer, der bestimme auch international die Standards.
Dr. Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.
Gabor Steingart: Die unbequeme Wahrheit. Eine Rede zur Lage unserer Nation. München: Penguin 2020. 160 Seiten, 16,00 Euro
Sigmar Gabriel: Mehr Mut! Aufbruch in ein neues Jahrzehnt. Freiburg im Breisgau: Herder 2020. 336 Seiten, 25,00 Euro
Joschka Fischer: Willkommen im 21. Jahrhundert. Europas Aufbruch und die deutsche Verantwortung. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020. 201 Seiten, 20,00 Euro
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 124-126