Auf Schrott gebaut
Mitteleuropas "Tiger-Demokratien" suchen Sicherheit im Nationalismus
Die ökonomisch prosperierenden „Tiger-Demokratien“ Mitteleuropas sind politisch immer noch auf der Suche nach ihrer Identität. Die große Leere, die der absterbende Kommunismus hinterließ, füllt sich mit Populismen: Klare Parteiprofile fehlen, Hass prägt die Debatten, demokratische Werte stehen nicht hoch im Kurs. Überraschend ist das nicht.
In Mitteleuropa kommen die Panther und Tiger nicht auf weichen Pfoten daher, sondern auf breiten Reifen. Raubkatzen sind längst zum Synonym für besonders dynamische und erfolgreiche Volkswirtschaften geworden. Die Slowakei stellt sich heute als solche dar, als Tiger Mitteleuropas, dessen dynamischstes Element die Autoindustrie ist. Die Slowakei ist längst der größte Autohersteller pro Kopf der Bevölkerung auf der ganzen Welt. Ähnliches kann man für die Westregion Ungarns um Györ herum sagen. Beide Länder haben keine eigenen „nationalen“ Autotypen, aber die halbe Welt baut hier Pkw. Beide Länder haben sich damit einigen Wohlstand geschaffen, die Slowakei in weit höherem Maß, als es ihr zum Zeitpunkt der Aufspaltung der alten Tschechoslowakei 1993 in die Tschechische und die Slowakische Republik zugetraut worden wäre. Skeptiker warnen davor, dass diese heute als Musterland zukunftsweisender Prosperität gepriesene monoindustrielle Republik sehr schnell mit schweren Problemen zu kämpfen haben werde, wenn die derzeit noch schäumende Autokonjunktur einmal einbricht. Noch eindringlicher gefragt: Würde das die junge slowakische Demokratie aushalten? Und würde ein solcher Einbruch auch die ohnehin zerrütteten Verhältnisse im allerdings wirtschaftlich besser strukturierten Ungarn nicht noch dramatisch verschärfen?
Die Donau liefert ein Symbol. Der große Strom ist der größte Lastenträger Südosteuropas, und unter den Massengütern, die da verladen und gelöscht werden, bildet neben Kohle, Erz und Stahl Schrott die größte Masse. Schubschiffe schieben riesige Konvois mit Bergen des rostroten Schreddermaterials flussauf und flussab. Schrott ist in Zeiten des überbordenden Hungers nach Ressourcen nicht nur eine vorzügliche Rohstoffquelle, Schrott ist auch eine für Geldakrobaten lukrative Handelsware, Schrott ist ideales Spekulationsobjekt. Manchmal werden Schrottladungen monatelang nicht ausgeladen, wechseln nur den Besitzer, werden auf der Donau hin- und herverschoben, wachsen indessen im Wert. Die erfolgreichsten Unternehmer, die reichsten Leute sowohl der Slowakei als auch Ungarns haben ihren Erfolg auf den Schrotthandel gegründet.
Alle Autos werden irgendwann einmal zu Schrott. Die These ist nicht, Ungarn und die Slowakei lebten in einer Art Schrottdemokratie. Die These ist vielmehr, dass nach den Erfahrungen der letzten knapp 20 Jahre das, was man in diesen Ländern an demokratischen Gepflogenheiten erworben, eingeübt, mühselig praktiziert hat, mehr mit Spekulation zu tun hat als mit Überzeugung, mehr mit pragmatischen Erfahrungen sachfremder Art, denn mit der Einsicht in das Funktionieren moderner Gesellschaften. Und auch immer noch mehr mit Zerfallsprozessen als der Ansammlung neuer fundamentaler Substanz.
Was sind die Erfahrungen seit der großen europäischen Wende, als das totalitäre und planungswütige Sowjetsystem zusammenbrach? Da sind zwei Hauptaspekte: Freiheit ist ein Freibrief für die exzessive Nutzung des Marktes; Freiheit ist ein Freibrief für das Ausleben nationaler Obsessionen. Und Freiheit, das ist erst einmal die Freiheit der anderen. Nicht im Sinne Rosa Luxemburgs, die da meinte, dass das Ausleben eigener Freiheiten immer dort seine Grenzen finde, wo die Freiheiten des Mitmenschen, des Gegenübers beeinträchtigt würden. Freiheit ist nach der Erfahrung der Menschen in den Staaten des früher sowjetisch beherrschten Mitteleuropa in erster Linie die der anderen, die nämlich genug Geld, Nerven, Verbindungen hatten, um sich der neuen Marktmöglichkeiten zu bemächtigen und genug von den alten, aus den kommunistischen Zeiten stammenden Ressourcen verfügbar zu machen, um entsprechend ökonomisch erfolgreich operieren zu können.
Fundamentale Lebensunsicherheit
Das ist erst einmal für viele die Haupterfahrung von Freiheit. Dass die andere, die politische Bürgerfreiheit, in über Jahrzehnte hinweg entpolitisierten Gesellschaften als nicht so gravierend wahrgenommen wird, mag man bedauern. Es entspricht aber den Tatsachen. Freiheit ist also zuerst Gewerbefreiheit, wobei die überwältigende Mehrheit anderen dabei zuschaut, wie sie immer reicher und einflussreicher werden, selbst aber – zumindest subjektiv – an dieser neuen Prosperität nicht teilhat. Sicherheiten, wie sie der alte Staatssozialismus für das Leben bot, die einem damals zwar kärglich vorgekommen sein mochten, aber doch Sicherheiten waren, sind von einer fundamentalen Lebensunsicherheit abgelöst worden, wie man sie sich früher nie hat vorstellen können. Freiheit ist also zunächst Unsicherheit, Überlebensangst und zugleich die Erfahrung, dass andere diese Freiheit aufs Trefflichste nutzen können, und dies nicht selten auf Kosten der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung.
Aus der Sicht vieler Menschen in der Slowakei und in Ungarn ist also die neue Demokratie auf Verfallsprodukte der alten Gesellschaft, aber auch auf die Verfallsprodukte des alten „Gegners“ aus den Zeiten des Kalten Krieges gebaut, der so genannten freien oder auch kapitalistischen Welt: Sie hat mit der Freiheit einen Kapitalismus exportiert, wie ihn viele Gesellschaften Westeuropas im eigenen Hause so nie dulden würden, einen Kapitalismus, der sich räuberisch des alten sozialistischen Volksvermögens bemächtigt und durch die neuen sozialen Strukturen gefressen hat, dies aber mit dem treuherzigen Anspruch, höchster Ausdruck eben der neuen Freiheit zu sein. Diese sehr grobe, sehr holzschnitt-artige Darstellung der inneren Psychologie mitteleuropäischer Gesellschaften trifft Gefühl und Bewusstsein von Millionen; sie trifft zugleich aber auch das Zutrauen in die neue Demokratie – als einen gewaltigen Schrotthandel. Nehmen wir den Arbeitsmarkt. Was allzu oft übersehen wird an den Wanderbewegungen der Billigproduktion von industriellen Massengütern, was sich also in den ersten Jahren der Neunziger aus den alten Industrienationen Westeuropas an Arbeitsplätzen in die neuen Demokratien Mitteleuropas bewegt hat, ist dort keineswegs unbeschadet angekommen. Die ideellen Verluste der Arbeitsplätze auf dem Weg dorthin sind vielfach verheerender als der faktische Verlust an Arbeitsplätzen in den Herkunftsländern.
Die Arbeitsplätze sind nämlich als vollwertige, auch im demokratischen Sinne voll verfasste und menschenwürdige Stätten des Broterwerbs und manchmal sogar der persönlichen Sinnstiftung abgebaut worden und in ein gesellschaftliches und soziales Vakuum abgewandert. Denn auf dem Weg in die neuen Länder haben diese Stätten meistens im kleinen und im großen Rahmen alle Formen der Mitbestimmung hinter sich gelassen, sind weniger Lohn wert, unterliegen luftigsten Kündigungsbestimmungen und sind eben nicht einmal insofern sicher, dass nicht das Damoklesschwert weiterer Abwanderung über allem hinge (Ungarn beklagt schon seit Jahren lebhaft den Abfluss einst westlicher Produktion in die Ukraine und weiter nach Osten). Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Arbeitsplätze, die wir exportieren, schwerbeschädigt am neuen Standort ankommen. Den Menschen dort entgeht das nicht. Das ganze System freien Wirtschaftens erreicht die Menschen ohne den sozialen Unterton, die Marktwirtschaft wird ihres sozialen Charakters entkleidet. Die Folge ist klar: Wie soll sie da als Basis und Nukleus demokratischer Verhältnisse wahrgenommen werden, wie dies im Westen allgemein als gesicherte Stereotype gilt?
Nationale Aufwallungen als Ersatzdroge
Im Verlust des sozialen Aspekts der neuen Marktfreiheit auf ihrer Wanderung von West nach Ost wird natürlich nach Surrogaten gesucht, nach Ersatzwerten, nach Ersatzdrogen. Nationale Aufwallungen sind ein unvermeidlicher Infekt aller Umbruchgesellschaften. Der Verlust sozialer Sicherheit korreliert mit der Sehnsucht nach nationaler Sicherheit. In Ländern wie der Slowakei und Ungarn spielt das eine ganz besondere Rolle. Denn beide Länder, beide Nationen, beide Völker glaubten sich ihrer Rolle und ihrer Unversehrtheit bislang in ihrer gesamten Geschichte nie recht sicher sein zu können. Die Ungarn sehen sich mit ihrer besonderen, solistischen Sprache eingeklemmt zwischen dem slawischen und dem germanischen Kulturblock, fürchteten immer um ihre Identität, kultivierten deshalb stets bis in die liberalen Schichten der Gesellschaft hinein eine aggressive Verteidigungsstrategie für das „Ungarntum“ als Unterpfand der nationalen Identität und als eine Art Überlebensprinzip. Daraus ergab sich eine über Jahrhunderte aggressive Nationalitätenpolitik. Die Slowaken ihrerseits, fast 1000 Jahre lang den Ungarn untertan, bedurften zweier weltrevolutionärer Umwälzungen, um sich ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Identität überhaupt zu versichern. Erst Teil Ungarns, dann kleiner bevormundeter Bruder der Tschechen und Vasall der kulturell unduldsamen Hegemonialmacht UdSSR – der Untergang des Habsburger Imperiums, der Untergang des Sowjetimperiums und das Ende der Tschechoslowakei waren die entscheidenden Voraussetzungen für das, was Slowaken als nationale Selbstfindung sehen. Diese nationale Selbstfindung ist beiden Nationen vielerorts in die hohlen Kammern des sozialen Defizits eingesickert. Oder sie wurde der Bevölkerung aus aktuellem politischem Kalkül als probate Droge angeboten.
Bemerkenswerterweise ist in keiner der beiden Gesellschaften irgendeine politisch verfasste Gruppe völlig frei von nationalen Aufwallungen und aggressiven Tönen gegenüber Minderheiten oder der Nachbarschaft. Seltsamerweise ist das Motiv immer dasselbe: Abgrenzung um der Rettung der eigenen Identität wegen, obwohl man jeweils immer wieder versucht hat, dem anderen die Identität streitig zu machen, solange man selbst über dessen Lebensverhältnisse einigermaßen Gewalt hatte. Angelpunkt im ganzen mitteleuropäischen Raum sind die magyarischen Minderheiten, die als Überkommenheit aus dem alten Königreich Ungarn nahe der heutigen Grenzen des kulturellen Mutterlands auf fremdem Territorium leben. Angst ums Ungarntum als Überlebensprinzip und politische Maßregel stellt heute das probate Mittel auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung dar, um allfällige Gegner mundtot oder unmöglich zu machen. Die politische Rechte hat da traditionell besonderes Talent, aber der Verdruss und die nachträgliche Geringschätzung des sozialistischen Internationalismus unter dem Sowjetsystem stecken allen in den Knochen, sodass auch die jüngste Geschichte niemanden von solchen Tendenzen freispricht.
So hat sich in Ungarn eine Form von nationalem Sozialismus formiert – das Nationalsozialismus zu nennen, verbietet nur die historische Belastung des Begriffs – dem in irgendeiner Form alle Lager anhängen. Zumindest rhetorisch. Die aktuelle Politik unter der sozialliberalen Koalition mit Ferenc Gyurcsany an der Spitze sieht oft ganz anders aus, weil der Druck belastender Staatsschulden und die Funktionsweise des Tigerkapitalismus nicht genug hergeben, um den sozialen Aspekt dabei entsprechend abzusichern. Also muss nationale Rhetorik das ganze ausgleichen.
Plattformen der Abneigung
Die politischen Lager stellen einander unter Generalverdacht, jeweils die Bedürfnisse der Nation als der eigentlichen Lebensgrundlage nicht ausreichend zu berücksichtigen. Das Ergebnis ist Hass, obwohl die jeweiligen ideologischen Grundlagen gar nicht so weit auseinanderliegen. Auf slowakischer Seite ist das nicht viel anders. Während in Ungarn die scheinbar ausgedünnte, weil nicht nominell im Parlament vertretene extremistische Rechte vom Lager der einstigen Jungdemokraten Fidesz unter Viktor Orban aufgesogen worden ist und damit eigentlich stärker dasteht denn je, sitzen die slowakischen Nationalisten ganz offiziell mit an den Hebeln der Macht.
Die große ungarische Minderheit im Land sah sich in der jungen Geschichte der Slowakei nach der Wende 1989 weniger im Konkreten vom Handeln slowakischer Mitbürger slawischer Herkunft bedroht als von rhetorischen und staatspolitischen Versuchen, sie zum Repressionsinstrument der Innenpolitik zu degradieren. Es ist übrigens typisch, dass die Ungarn in der Slowakei dort am unbeliebtesten sind, wo es sie nicht gibt oder fast nie gegeben hat. In den Mischgebieten sieht das anders aus. Interessanterweise bekommen trotz der oft trommelnden Antirhetorik die ungarischen Parteien mehr Stimmen, als ihnen nach der Volksgruppenverteilung eigentlich zustünden. Im Kleinen und Konkreten genießt die offiziell als gefährlich verschriene Volksgruppe so großes politisches Zutrauen, dass auch slawische Mitbürger die ungarischen Slowaken in öffentliche Ämter befördert sehen wollen.
In der Slowakei ist der nationale und sozialistische Ansatz vielen Lagern zu eigen. Auch hier hat die hasserfüllte Abneigung für den politischen Gegenüber diesen Effekt zeitweilig zu einem Leitmotiv der Innenpolitik werden lassen. Im Augenblick sind die Nationalisten unter Jan Slota als ausgewiesen chauvinistische Partei an einer Regierung beteiligt, deren Hauptträger unter Premier Robert Fico sich als sozialdemokratisch betrachtet, nach den Begrifflichkeiten der politischen Postmoderne aber eher als linkspopulistisch zu bezeichnen wäre, inklusive der nationalen Rhetorik. So gesehen verstehen sich Ungarn und Slowaken aufs Beste: auf der Basis einer künstlichen Plattform der Abneigung.
In beiden Staaten gibt es noch immer keine ausgewiesenen, in ihrem Charakter einigermaßen definierte Parteien. In Ungarn haben weder die Sozialisten noch die sich bürgerlich nennende Bewegung Fidesz ein Profil mit klaren Postulaten und programmatischen Vorgaben. In der Slowakei ist das nicht viel anders: Mit Ausnahme der unbelehrbar antipluralistischen Christdemokraten sind die meisten Parteien hin- und hergerissen zwischen Manchester-Kapitalismus, sozialen Ansprüchen und nationalem Pathos. Beide Länder haben es mehr mit Bewegungen und politischen Lagern zu tun, als dass Parteienprofile ein einigermaßen klar umrissenes politisches Spektrum erkennen ließen.
Auch hier liegt einer der Gründe, warum die Gesellschaften im Herzen des Kontinents sich ihrer demokratischen Grundlagen noch immer so unsicher sind: weil sich die Träger dieser Demokratie ihrer selbst so unsicher sind, weil sie ihre wirkliche Identität noch nicht gefunden haben. Wie aber ohne solche in sich gefestigten Körperschaften das entwickeln, was man im Westen die Solidarität der Demokraten nennen würde? Sind wir nicht auch viel zu ungeduldig? Alfred Herrhausen, einst Chef der Deutschen Bank, wurde Mitte der achtziger Jahre – kurz vor seinem Tod durch einen Mordanschlag der RAF – hypothetisch gefragt, wie lange es wohl dauern werde, bis sich im damals noch intakten Ostblock Demokratie und soziale Marktwirtschaft durchsetzen könnten, sollte das Sowjetsystem verschwinden. Herrhausen hat geantwortet: zwei Generationen – eine, die es will, und eine, die es kann. Der Europäischen Union fällt dabei die Rolle zu, in der heutigen Generation wenigstens den Willen dazu zu kultivieren.
MICHAEL FRANK, geb. 1947, berichtet seit mehr als 20 Jahren als Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung aus Mitteleuropa, mit wechselndem Dienstsitz in Wien, Prag und Bratislava.
Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 30 - 35.