IP

01. Mai 2005

Atempausen des Rechts

Wenn die Ordnung verstummt, ist die Völkerrechtstheorie gefragt

Im Moment der Gesetzlosigkeit endete für Hans Kelsen im Mai 1945 das Deutsche Reich. Die „Europäer“ unter den Völkerrechtlern bringen seinen furchtlosen Formalismus neu ins Gespräch.

Im Frühjahr 1945 hielt die Ordnung für einen Moment den Atem an. „In Berlin herrschte Anomie ..., das heißt es herrschte niemand, und Gesetze gab es auch nicht, bis dann die ersten Verordnungen der Sowjetischen Militäradministration das Vakuum füllten“, schreibt Ralf Dahrendorf in seinen Lebenserinnerungen,1 und schildert damit ein Szenario des unmittelbaren Nachkriegs, das er schon 1985 an den Anfang seiner „Hamlyn Lectures“ zu Fragen von Recht und Ordnung gestellt hatte.2

„Anomie ist bei Soziologen ein beliebter Begriff, aber ich glaube nicht, dass sich viele darunter etwas vorstellen können.“3 Das aus dem Griechischen entlehnte Wort bezeichnet schlicht das Fehlen von Gesetzen (nomoi), einen Zustand der Regellosigkeit. Selbst der große französische Soziologe Émile Durkheim, der 1897 in seinem Buch über den Selbstmord über die Anomie reflektierte, habe sich den Augenblick der Gesetzlosigkeit nicht wirklich vorstellen können. „Aber wer vom Februar bis zum Mai 1945 in Berlin gelebt hat, der kann davon eine Geschichte erzählen“, so Dahrendorf. „Sie wird dadurch noch drastischer, dass der Weg zur Gesetzlosigkeit mit der äußersten Ausweitung, wenn nicht der Gesetzlichkeit, so doch der Kontrolle begann. Nazi-Deutschland im Krieg kam der Wirklichkeit des totalen Staates so nahe wie sonst nur Stalins Sowjetunion und später vielleicht Nordkorea.“4 Es war die Stunde der Willkür, der Augenblick der Ungewissheit, in dem Gerüchte alle genauen Informationen ersetzten.

Noch heute erinnern fünf schmale Bände in Dahrendorfs Bücherregalen an den „grandiosen und schrecklichen Augenblick vollkommener Gesetzlosigkeit“, Anthologien romantischer Dichtung, die er sich bei dieser Gelegenheit angeeignet hat. „Angeeignet? Alle trugen Taschen und Koffer nach Hause, die mit gestohlenen Dingen vollgestopft waren. Gestohlen? Vielleicht wäre ‚mitgenommen‘ der korrektere Ausdruck, weil selbst das Wort ‚stehlen‘ seine Bedeutung verloren zu haben schien.“ Denn: Es gab weder Gesetze noch Gesetzeshüter, nur die „kurze Zeit der Anomie, die nur wenige Tage anhielt, und vorher und nachher wenige Wochen, in denen die Normen erst zusammenbrachen und dann neu errichtet wurden.“5

Nicht überall erlebte man das Ende des Krieges und des nationalsozialistischen Regimes als solch begrenztes Vakuum. Für manche, die durch Flucht und Vertreibung alles verloren hatten, die Vernichtung und Gefangenschaft knapp entkommen waren, blieb nichts, wie es war. Andere erlebten einen „geradezu geordneten Übergang; die Hamburger zum Beispiel, bei denen der Rundfunksender nur für wenige Minuten der förmlichen Übergabe an die Briten stumm blieb und der Gauleiter für die Besatzer im Hotel Atlantic ein Abendessen anrichten ließ.“6

Doch der Augenblick der Anomie ist als wiederkehrendes Moment jenseits individueller Erfahrung ein Erinnerungsort der Geschichte, der deutschen und europäischen, letztlich jeder Vergangenheit. Die Bruchstellen des Gesetzes, wie sie Patrick Macklem in einem Essay über die wechselvolle Geschichte des Hauses Rybná 9 in der Prager Altstadt beschreibt, erscheinen als lieux de mémoire des Rechts, eingeschrieben ins kollektive Gedächtnis.7 „Erinnerungsorte des Rechts formieren sich aus Prinzipien, Regeln und Verfahren, die historischen Augenblicken normative Bedeutung verleihen“, schreibt er. „An diesen Erinnerungsorten erschließt sich das Recht die Vergangenheit in einer Weise, die Geschichte als ein Bündel von Fakten behandelt – und Erinnerung als unvollkommenes Instrument zur Verifikation dieser Fakten.“8 Auch wenn das Recht die Erinnerung bloß als Indiz behandelt, so ist es doch selbst eine Form solchen Erinnerns, argumentiert Macklem. Eine Verpflichtung werde erinnert, ein Recht durchgesetzt, weil jede Rechtsordnung eine Welt zu bewahren oder zu schaffen versuche, in der Menschen an ihren Zusagen festgehalten, durch ihre Rechte geschützt werden. „Recht als Erinnerung, als Gegenstück zu Erinnerung im Recht, ist ein gesellschaftliches Unterfangen von durch und durch dialogischem Charakter, eine aktive, kontinuierliche Beschäftigung mit der Vergangenheit.“9

Die Geschichte des Hauses Rybná 9 und seiner Bewohner ist eine Geschichte der politischen Turbulenzen des 20. Jahrhunderts. Als Exempel postkommunistischer Rückübereignungspraxis war das einst stattliche Wohn- und Geschäftshaus Gegenstand einer Beschwerde beim UN-Menschenrechtsausschuss, dessen Entscheidungspraxis sich grundlegend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg unterscheide: In dieser manifestiere sich der „modernistische Impuls“, Europas „Last der Vergangenheit“ hinter sich zu lassen, während der Menschenrechtsausschuss zumindest bestimmte „Vergangenheiten“ und deren rechtliche Folgen anerkenne.10 Die beiden gegensätzlichen Positionen zur Normativität der Vergangenheit diskreditieren, so Macklem, nicht nur den internationalen Menschenrechtsschutz. Sie spiegeln auch die widersprüchliche Natur europäischer Identität. „Europäische Identität ist ..., notwendigerweise, multikulturell und multinational, sie ist vielleicht mehr, aber nie weniger als die Summe ihrer nationalen und kulturellen Vergangenheiten. Aber welche Vergangenheiten, welche Kulturen, welche Nationen werden in einem multikulturellen und multinationalen Europa koexistieren?“11

Die Alliierten und das Völkerrecht

Doch lassen wir zunächst die europäische Gegenwart hinter uns. Die Lage in Deutschland 1945 war diese: „Es gibt in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde, die fähig wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu übernehmen“, heißt es in der Berliner Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945. Unter diesen Umständen sei es notwendig, Vorkehrungen für die Einstellung weiterer Feindseligkeiten seitens der deutschen Streitkräfte, für die Aufrechterhaltung der Ordnung in Deutschland und für die Verwaltung des Landes zu treffen.12

Mit dieser Erklärung installierten sich aus Sicht des Staats- und Völkerrechtlers Hans Kelsen die Alliierten als Souverän eines Kondominiums, eines unter gemeinsame Verwaltung gestellten Gebiets. Das Deutsche Reich sei damit untergegangen.

Und das hatte mit jener Anomie zu tun, die Ralf Dahrendorf so eindrücklich beschreibt. Durch die bedingungslose Kapitulation sei, so Kelsen, ein rechtliches Vakuum entstanden, ein Zustand der Gesetz- und Ordnungslosigkeit. Das Fehlen einer zentralen Staatsgewalt mache eine occupatio bellica, eine kriegerische Besatzung durch die Alliierten nach Maßgabe der Artikel 42 bis 56 der Haager Landkriegsordnung, schlicht unmöglich.13

Als Hans Kelsen sich so in gewohnt kühlem Ton im Juli 1945 aus dem amerikanischen Exil zu Wort meldete und den Untergang des Deutschen Reiches konstatierte, war da kein politisches Kalkül – nur die stringente Anwendung der „Reinen Rechtslehre“, vom Vordenker der Wiener Neopositivisten 1934 erstmals vorgelegt.14

Kelsens ideologiekritische Methodik sollte einen unpolitischen, damit wissenschaftlicheren Umgang des Juristen mit dem Recht ermöglichen. Schon in seiner Habilitationsschrift „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ (1911) dekonstruierte er neben der Naturrechtslehre auch Georg Jellineks soziologisch-juristischen Methodendualismus, um durch eine strenge Dichotomie von Sein und Sollen der besonderen „Sollensstruktur“ des Rechts auf die Spur zu kommen.15

Nach Jellineks nicht ganz trennscharfer „Zweiseitentheorie“ erschien der Staat durch die juristische Brille als Normenordnung, durch die soziologische als realer Herrschaftsverband. Kelsen indes gelangte nach einem enttäuschenden Heidelberger Studienjahr bei Jellinek zu der Überzeugung, dass der Staat für den Juristen nur eine Seite habe: die rechtliche. Staat und Rechtsordnung gehen nach seiner „Identitätsthese“ ineinander auf.

Ganz konsequent also, dass der als Jude in die Emigration getriebene, nun in Berkeley unterrichtende Staatsrechtslehrer nach der Erklärung der Besatzungsmächte vom 5. Juni 1945 den Untergang des Deutschen Reiches annoncierte. Das Ende der Ordnung sei auch hier das Ende des Staates. Daran ändere die bloß „politische“ Distanzierung der Besatzer vom Begriff der Annexion nichts.

Kelsens Thesen, von Wilhelm Cornides im Herbst 1946 erstmals dem deutschen Publikum vorgestellt,16 wurden von seinen Juristenkollegen zunächst kaum beachtet. Auch die Rechtslage Deutschlands zog ungeachtet ihres singulären Charakters in den ersten Nachkriegsjahren kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich. Es bestehe „wohl weithin der Eindruck, daß die gegenwärtige Phase in der Entwicklung des Rechtsstatus’ Deutschlands nur eine vorübergehende ist und daher keine weitere wissenschaftliche Befassung erfordert“, schrieb der nach London emigrierte Völkerrechtler F. A. Mann im Herbst 1947 in einer sorgfältigen Replik auf Kelsens Analyse.17 Auch wenn Deutschland kein souveräner Staat im herkömmlichen völkerrechtlichen Sinne sei, keine äußere und innere Staatsgewalt ausübe, sei es doch gleichwohl noch immer ein Staat, im „allgemeinen Sinne“ dieses Begriffs. Die Alliierten hätten keine Souveränität erlangt, sie übten lediglich mittels des Kontrollrats öffentliche Gewalt aus. F. A. Mann weiß natürlich, dass er mit dieser Unterscheidung beim scharfsinnigen Professor Kelsen nicht punkten kann. Aber das stört ihn wenig: „Es herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass ein Staat existiert, wenn ein Volk, das ein eingegrenztes Gebiet bewohnt, so unter der Herrschaft des Rechts und einer öffentlichen Gewalt organisiert ist, dass es sich als politische Einheit formiert.“18

Manns Kritik wurzelte tief in Georg Jellineks klassischer Drei-Elementen-Lehre, nach der Staatlichkeit sich stets durch Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt konstitutiert – und hier nahm auch der vehemente Widerspruch der deutschen Staatsrechtslehre seinen Ausgang, als deutlicher wurde, dass in der vorübergehenden Phase des unmittelbaren Nachkriegs entscheidende Weichen gestellt worden waren. Nur ein anderer Österreicher, der Münchner Ordinarius Hans Nawiasky, teilte Kelsens Auffassung. Die „ganz herrschende Meinung“, die sich – bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht – bald zur „allgemeinen Ansicht“ verfestigte, ging hingegen vom Fortbestand deutscher Staatlichkeit aus.19

War von staatsrechtlicher Kontinuität und verfassungsrechtlicher Zäsur die Rede, fand Kelsen in der Bonner Republik bald sowenig Beachtung wie im deutschen Staatsrechtsdiskurs insgesamt. Die Gründe dafür, schreibt Christoph Möllers, „hängen maßgeblich mit der normativen Struktur des Grundgesetzes zusammen. Das Grundgesetz positivierte durch die Anordnung umfassenden Grundrechtsschutzes und die Normierung von Grenzen der Verfassungsänderung überpositive Prinzipien. Dadurch wurden wesentliche Gegenstände der Weimarer Staatstheorie, zu denen sich Schmitt und Smend maßgeblich geäußert hatten, zu praktischen Problemen der Verfassungsinterpretation.“ Dies bedeute aber nicht, „dass Schmitt und Smend in der Sache gegenüber Kelsen Recht behalten hätten“. Vielmehr ließen sich diese Positivierung und vor allem die sie begleitende Einrichtung einer – von Schmitt und Smend ehedem kritisierten – starken Verfassungsgerichtsbarkeit als Umsetzung Kelsenscher Forderungen verstehen.20 Die Verfassungsrealität hatte Kelsen eingeholt, ihn brauchte man nicht mehr zu diskutieren.

Nation-building: Kelsen in Bagdad

Die komplexen politisch-juristischen Gemengelagen im Hintergrund der Frage nach der Rechtslage Deutschlands beschäftigten bis 1990 Politiker und Diplomaten, füllten staats- und völkerrechtliche Bibliotheken. Inzwischen ist das Thema ein historisches, neuere Auflagen der Lehrbücher greifen auf das ehemalige Jugoslawien zurück, um die klassische Kontinuitätsthese zu erläutern, nach der der Staat im Zweifel erst einmal fortbesteht, mag die Ordnung auch gescheitert sein. Gewiss, in Berichten aus Afghanistan und dem Nachkriegsirak begegnen bekannte Bilder der Anomie.21 In den neuen Szenerien des nation-building hilft der Blick auf Nachkriegsdeutschland jedoch kaum, die Klippen zwischen Paternalismus und Verantwortungslosigkeit zu umschiffen. Oberflächliche Vergleiche erleichtern die Flucht in Scheinlösungen abseits tatsächlicher Probleme. Bagdad ist nicht Berlin.

Doch die Debatte um die deutsche Staatlichkeit, von den Juristen gerade in die Magazine verstaut, wird nun von Historikern unter ganz anderen Vorzeichen wieder hervorgeholt. Erst kürzlich stellte Klaus Naumann Kelsen als hehren Antipoden eines vermeintlich in der deutschen Staatsrechtslehre kultivierten „Vertriebenendiskurses“ vor.22 Indem sie Kelsens These vom Untergang des Reiches eine dezidiert politische Motivation unterstellt, verkennt diese Sichtweise den Kern seines wissenschaftlichen Selbstverständnisses.

Der kompromisslose Ikonoklast Kelsen, dessen Konzeption Alexander Somek erhellend nachgezeichnet hat, war stolz darauf, die Staatsrechtslehre vom verhängnisvollen Bild eines als übermenschliches Wesen vorgestellten Staates befreit zu haben, das politische Einflusslinien verdunkelte.23 Somek betont mit Kelsens wissenschaftlicher Stringenz ein Charakteristikum, das auch beim Blick auf die These vom Untergang des Reiches auffällt: Auch wenn das Ende der Staatlichkeit den aus Kelsens Sicht einzig legalen Weg zu den Nürnberger Prozessen ebnet, erscheint es doch nur als Ergebnis glasklarer juristischer Deduktion.

Mit großer Präzision hatte Kelsen schon im Oktober 1944 die nach einer bedingungslosen Kapitulation möglichen völkerrechtlichen Szenarien skizziert. An seiner Präferenz für einen Bruch staatlicher Kontinuität mit dem nationalsozialistischen Deutschland ließ er dabei keinen Zweifel.24 Allein: Gemäß seinem Selbstverständnis als „Normtechniker“ überließ er diese Entscheidung der Politik.

Sowenig wie der Versuchung der Apologie gab Hans Kelsen den Lockungen des Utopischen nach. Dass er die strikte Trennung von Recht und Politik auch angesichts erwünschter Institutionalisierungen des Normativen durchzuhalten suchte, demonstriert der Berliner Völkerrechtler Bardo Fassbender. Fassbender hat in Kelsens gewichtigem, 1950 vom London Institute of World Affairs verlegten Kommentar zur Charta der Vereinten Nationen nachgeschlagen, in dem der Jurist mit spitzer Feder eine „technische“ Analyse des Normtextes vornimmt, die alles Subjektiv-Politische außen vor zu lassen versucht – sogar die Enttäuschung des Autors über die Nichtberücksichtigung seiner Vorschläge für die Weltorganisation.25

Kelsen deckt schonungslos sprachliche Fehlgriffe auf – und muss sich nachher von den Rezensenten für vermeintlich destruktive Kritik rügen lassen. Zwar wurde sein Charta-Kommentar hin und wieder im Sicherheitsrat zitiert, doch als auch dort die realistische Schule seines vom Recht desillusionierten Genfer Habilitanden Hans Morgenthau die Tagesordnung bestimmte, konnte man mit Kelsens rigoroser Analyse immer weniger anfangen. Blanke Macht, nicht reines Recht bestimmte die Koordinaten internationaler Beziehungen.

Reines Recht und nackte Gewalt

Inzwischen ist Hans Kelsen wieder ganz en vogue – jedenfalls unter den „Europäern“ in der Völkerrechtslehre, die mitunter auch auf der anderen Seite des Atlantiks zuhause sind. Die strikte, zuweilen artifiziell anmutende Trennung des Rechts von all seinen sozialen, historischen und politischen Bezügen fasziniert hier nicht bloß als Gedankenexperiment. Sie erlaubt die scharfe Abgrenzung von einem „ganz Anderen“: der liberalen mission civilisatrice des amerikanischen Hegemons mit ihrem ungezähmten Primat des Politischen.26

Aber es geht auch differenzierter: Die von dem finnischen Völkerrechtler Martti Koskenniemi geprägte neue „culture of formalism“ ist nicht einfach eine Neuauflage von Kelsens „Formalismus ohne Furcht und Tadel“:27Auch das reine Recht hat, wie man weiß, keine weiße Weste. Es lässt sich von der Politik nicht trennen: Alles ist Recht. Doch die „culture of formalism“ sucht durch Willen und Interesse, Macht und Ohnmacht determinierte Positionen in der unaufgeregten Sprache des Rechts verhandelbar zu machen, dem Universellen im Partikularen eine Stimme zu geben. Auch wenn das Völkerrecht ein Schauplatz hegemonialer Politik sein mag, so schafft es doch politische Gemeinschaft. Die Sprache des Rechts erlaubt einen Diskurs, in dem Einzelne und Gruppen nicht bloß Interessen und Privilegien verhandeln, sondern Rechte und Pflichten – und das auf gleicher Augenhöhe.

Wenn alles Recht ist, muss man unterscheiden: zwischen Menschenrechten und Betrug, Norm und Schein. Koskenniemi scheut sich nicht, die unantastbaren Begriffsschätze seiner Zunft als oft inhaltsleeren, instrumentalisierbaren „Völkerrechtskitsch“ zu entlarven: internationale Gemeinschaft, Selbstbestimmung, Terrorismus, ius cogens. Ob denn ausgerechnet jetzt, wo amerikanische Intellektuelle die Bindung an das Völkerrecht mit Hinweis auf die „dunkle Seite der Verrechtlichung“ des Internationalen in Frage stellen, der Moment für solche fundamentalen Zweifel sei, fragen Kritiker. Und wenn schon, geht es nicht etwas ernsthafter, ohne die schillernden ironischen Untertöne, die Koskenniemis Essays zu kleinen literarischen Ereignissen machen?28

Geht es vielleicht nicht. Auch wer Hans Kelsen nur konsequent zu Ende denken will, gerät in Schwierigkeiten. Wie Alexander Somek zeigt, fällt es der nachpositivistischen Rechtstheorie „zunehmend schwer, die Begründung rechtlicher Gebote, Erlaubnisse und Ermächtigungen linear zu einem Endpunkt im Kontinuum der einheitlichen Rechtsordnung zurückzuverfolgen“.29 Zurück zu welchem Ende? Und wo sind die Anfänge? Jedenfalls entzieht sich ein Zentrum, Gründe gehen in Netzwerken auf. Genau besehen, verbirgt sich hinter dem allfälligen Gerede vom „Ende des Staates“ auch ein grundlegender Wandel des Rechtssystems, das allerorten ein polyzentrisches geworden scheint. Das meint nicht notwendig die Verdunstung des demokratischen Rechtsstaats in ein Gewirr hierarchiefreier Governance-Strukturen – schließlich ereignet sich selbst im verfassungsrechtlichen Versuchslabor Europa Regieren in einem Mehrebenensystem, wie immer man dies im Detail ausgestaltet sehen mag: Berlin ist nicht Brüssel ist nicht Bensheim. Dennoch konturieren sich in vielfältiger Netzwerkbildung neue polyzentrische, „multilogische“ Strukturen des Austauschs und der Lernerfahrung, etwa in der internationalen Verfassungsgerichtsbarkeit. Erst dieser Tage hat Ruth Bader Ginsburg, Richterin am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, nachdrücklich auf diese Entwicklungen hingewiesen.30

Sucht man nach Orientierungspunkten in der neuen Unübersichtlichkeit, lockt verführerisch das kosmopolitische Projekt der Zwischenkriegszeit, wie es unlängst Jürgen Habermas reformuliert hat.31 Das mag man wahlweise hoffnungslos naiv oder hoffnungsvoll utopisch finden, doch ist Habermas hier nicht nur bei Kant in bester Gesellschaft: Nach einer institutionalisierten Weltordnung strebte auch der engagierte Kosmopolit Kelsen.

Hinter dessen deutlicher, einheitlicher, theoretischer Konstruktion staats- und völkerrechtlicher Normen, dem „universalen Recht“, stehe – so der Diplomat und Völkerrechtler Jochen von Bernstorff – der „kaum kaschierte Wunsch nach einer von der internationalen Politik zu errichtenden, durchgehend verrechtlichten, kosmopolitischen Ordnung“, für die die „kritische Methode“ durch Auflösung dogmatischer Barrieren Raum schafft – mit handlungsfähigen internationalen Organisationen, Individuen als Völkerrechtssubjekten, einer Weltorganisation mit Gewaltmonopol und einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit zur Absicherung der lückenlosen Herrschaft des Rechts.32

Stammesrituale der Normtechniker

Aber gibt es sie wirklich, die hier beschriebene Interdependenz zwischen Kritik und Vision? Kelsens Entscheidung für den Primat des Völkerrechts innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung kann aus dem Streben nach einer Auflösung des Souveränitätsparadigmas erklärt werden – dann hätte der Kosmopolit den Puristen an die Hand genommen. Sie erklärt sich aber auch aus Kelsens Leidenschaft für logische Kohärenz und widerspruchsfreie Systemzusammenhänge, die schon in der Dissertation über „Die Staatslehre des Dante Alighieri“ (1905) nicht zu übersehen ist. Jochen von Bernstorff beschreibt so letztlich den konsequenten Wissenschaftler Hans Kelsen, der den Juristen als unpolitischen „Normtechniker“ an der Seite von Legislative und Exekutive sah. Dabei geriet der Staatsrechtslehrer selbst immer wieder an die Grenzen der Rationalität. Auf eine Gratwanderung zwischen politischen Sympathien und methodischer Disziplin, deren Ambivalenzen niemand entgeht, der sich auf das Recht einlässt.

Auch Martti Koskenniemi, Professor für Internationales Recht in Helsinki und New York, kennt den schmalen Weg, der an den Erinnerungsorten des Rechts entlangführt. Über viele Jahre war er Diplomat und Rechtsberater im Auswärtigen Dienst Finnlands, einige davon bei den Vereinten Nationen. Ein in die Rituale und Sprachspiele der Diplomatie eingeweihtes Mitglied jenes „Stammes“, wie er selbst schreibt, der zwischen der First und Second Avenue in Manhattan zuhause ist, zwischen der 45. und 50. Straße. Hinter den Fassaden am East River, wo das Gespräch des Rechts kein Ende nimmt.

Manchmal, wie in Berlin 1945, hält das Recht den Atem an, und nur das Gerede geht weiter. Von Hans Kelsen kann man dann noch immer das sehr genaue Hinhören lernen.

1 Ralf Dahrendorf: Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2002, S. 82.

2 Ralf Dahrendorf: Law and Order. The Hamlyn Lectures 37, London 1985, S. 1–3.

3 Dahrendorf (Anm. 1), S. 79.

4 Ebd.

5 Dahrendorf (Anm. 2), S. 1–3. Deutsche Übersetzung zitiert nach Nils Christie: Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?, München 2005, S. 12.

6 Dahrendorf (Anm. 1), S. 82.

7 Patrick Macklem: Rybná 9, Praha 1: Restitution and Memory in International Human Rights Law, European Journal of International Law, Bd. 16, Nr. 1, Februar 2005, S. 1–24. Macklems Rede vom Erinnerungsort ist natürlich inspiriert durch Pierre Nora: Les lieux de mémoire, Paris 1986–1992. Vgl. auch das deutsche „Anschlußprojekt“ Etienne François und Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.

8 Macklem (Anm. 7), S. 14.

9 Macklem (Anm. 7), S. 14. Zu Recht als Erinnerung und Erinnerung im Recht vgl. auch Christian Joerges und Bo Stråth (Hrsg.): Confronting Memories. European „Bitter Experiences“ and the Constitutionalization Process, Sonderausgabe des German Law Journal, Bd. 6, Nr. 2, Februar 2005. Grundlegend zur Bedeutung kollektiver wie individueller Erinnerung in der europäischen Politik der Nachkriegszeit, insbesondere seit 1989: Jan-Werner Müller (Hrsg.): Memory and Power in Post-War Europe. Studies in the Presence of the Past, Cambridge 2002.

10 Macklem (Anm. 7), S. 20.

11 Ebd., S. 21.

12 Erwägungsgründe der „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands durch die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und durch die Provisorische Regierung der Französischen Republik“, Berlin, 5. Juni 1945, Europa-Archiv, Bd. 1, 4./5. Folge, Oktober/November 1946, S. 213–215.

13 Hans Kelsen: The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, American Journal of International Law, Bd. 39, Juli 1945, S. 518–526.

14 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig und Wien 1934. Eine zweite, wesentlich überarbeitete Auflage erschien 1960 in Wien.

15 Zu Kelsens rechtstheoretischem Ansatz grundlegend Horst Dreier: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986. Vgl. auch Gabriel Nogueira Dias: Rechtspositivismus und Rechtstheorie. Das Verhältnis beider im Werke Hans Kelsens, Tübingen 2005, sowie den demnächst erscheinenden Band Stanley L. Paulson und Michael Stolleis (Hrsg.): Hans Kelsen – Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005.

16 Wilhelm Cornides: Die völkerrechtliche Stellung Deutschlands nach seiner bedingungslosen Kapitulation, Europa-Archiv, Bd. 1, 4./5. Folge, Oktober/November 1946, S. 209–211.

17 F. A. Mann: The Present Legal Status of Germany, International Law Quarterly, Bd. 1, Herbst 1947, S. 314.

18 Ebd., S. 329.

19 Die Literatur hierzu ist kaum überschaubar. Zugänge erschließt Michael Stolleis: Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit 1945–1949, in: Joseph Isensee und Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Historische Grundlagen, 3. Aufl., Heidelberg 2003, S. 269–313.

20 Christoph Möllers: Staat als Argument, München 2000, S. 125.

21 Etwa bei dem amerikanischen Berater für die irakische Verfassung, Noah Feldman: What We Owe Iraq. War and the Ethics of Nation Building, Princeton/Oxford 2004.

22 Klaus Naumann: Vertreibung als ein Problem deutscher Selbstthematisierung, Vortrag auf der Konferenz „Politik der Schuld“, DHM Berlin, 25.2.2005. Eine ausgearbeitete Fassung des Vortrags erscheint im Laufe des Jahres in der Zeitschrift Mittelweg 36.

23 Alexander Somek: Staatenloses Recht. Kelsens Konzeption und ihre Grenz

24 Hans Kelsen: The International Legal Status of Germany to be Established Immediately upon Termination of the War, American Journal of International Law, Bd. 38, Oktober 1944, S. 689–694.

25 Bardo Fassbender: Kelsen und die Vereinten Nationen, Referat auf der Konferenz „Recht, Staat und Internationale Gemeinschaft bei Hans Kelsen“, Universität Flensburg, 2.7.2004.

26 Zu den bisweilen skurril anmutenden Zuspitzungen solcher Abgrenzung vgl. Morag Goodwin und Alexandra Kemmerer: A Sounding Brass, or a Tinkling Cymbal? Reflections on the Inaugural Conference of the European Society of International Law, German Law Journal, Bd. 5, Nr. 7, Juli 2004, S. 849–858.

27 Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2002, bes. S. 494–509. Vgl. auch ders.: International Law and Hegemony. A Reconfiguration, Cambridge Review of International Affairs, Bd. 17, Nr. 2, Juli 2004,

S. 197–218; ders.: International Law in Europe. Between Tradition and Renewal, European Journal of International Law, Bd. 16, Nr. 1, Februar 2005, S. 113–124.

en, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 91, Heft 1, März 2005, S. 61–82.

28 Oliver Gerstenberg: What International Law Should (Not) Become. A Comment on Koskenniemi, European Journal of International Law, Bd. 16, Nr. 1, Februar 2005, S. 125–130, sowie Pierre-Marie Dupuy: Some Reflections on Contemporary International Law and the Appeal to Universal Values. A Response to Martti Koskenniemi, ebd., S. 131–137.

29 Somek (Anm. 23), S. 81.

30 Ruth Bader Ginsburg: A Decent Respect to the Opinions of [Human]kind. The Value of a Comparative Perspective in Constitutional Adjudication (Transcript of Justice Ruth Bader Ginsburg’s Keynote Adress at the American Society of International Law’s 2005 Annual Meeting, 1.4.2005), http://www.asil.org/events/AM05/ginsburg050401.html.

31 Jürgen Habermas: Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: Der gespaltene Westen, Frankfurt 2004, S. 113–193.

32 Jochen von Bernstorff: Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001, bes. S. 199–205.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 52 - 59.

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren