IP

01. Jan. 2007

Hinterm Horizont geht’s weiter

Buchkritik

Europa steht nicht still. Auch ohne Verfassungsvertrag ist die EU in stabiler Konstitution, aber mit komplexen Herausforderungen konfrontiert. Sind Erweiterung und Vertiefung doch gleichzeitig möglich? Schuf die Osterweiterung „Unionsbürger zweiter Klasse“? Wie funktioniert europäische Verwaltung? Kann sich die europäische „Rechtsgemeinschaft“ in einem zunehmend fragmentierten Weltrecht bewähren? Vier Bücher zeigen, dass in der „Denkpause“ intensiv weitergedacht wurde.

Der Untertitel ist ein Bekenntnis. „Das Verfassungsrecht der Europäischen Union“ haben die Europarechtler Christian Calliess und Matthias Ruffert die eben erschienene dritte Auflage ihres Kommentars zum EU- und EG-Vertrag überschrieben. „Materiell stellen diese beiden Verträge, gemeinsam mit der Europäischen Grundrechtecharta, das gegenwärtig geltende Verfassungsrecht der EU dar“, erläutern die beiden Herausgeber im Vorwort des von insgesamt 25 Autoren bearbeiteten Bandes, der schon kurz nach Publikation der Erstauflage von 1999 zum veritablen Standardwerk avancierte. Längst hat sich der „Calliess-Ruffert“ einen Platz auf den Schreibtischen von Rechtsanwälten, Richtern, Wissenschaftlern und Politikern erobert, und auch die aktuelle Neubearbeitung ist nicht nur für Juristen ein verlässlicher Führer durch Walter Hallsteins „Rechtsgemeinschaft“ Europa, die der erste Kommissionspräsident im März 1962 als „rechtlich geordnete Gestaltung unserer europäischen Welt“ charakterisierte.1

Wer ganz genau wissen will, warum die europäische Integration „nicht erst mit dem (noch) unverbindlichen Verfassungsvertrag konstitutionalisiert“ wird, der erfährt schon gleich in der Kommentierung des in Göttingen lehrenden Christian Calliess zu Artikel 1 EUV Tiefschürfendes zur „evolutiven Fortentwicklung“ der sich kontinuierlich herausbildenden, vom Staat gelösten europäischen Verfassung, deren Prozesscharakter durch den „nachholenden Konstitutionalisierungsakt“ des Verfassungsvertrags verdeutlicht werde.

Mit „Konstitutionalisierungsakten“ ist es ja so eine Sache. Die Suche nach dem „constitutional moment“, orientiert an Bruce Ackermans detaillierter Analyse der amerikanischen Verfassungsgeschichte, ist inzwischen zum veritablen Joch auf den Schultern der Europawissenschaftler geworden, die Ackermans Studien in der Terminologie europäischer Verfassungsentwicklung nachzubuchstabieren versuchen.2

Waren die Referenden in Frankreich und den Niederlanden vielleicht sogar Momente einer „negativen Konstitutionalisierung“? An solche integrationspolitischen Nachtgedanken verschwenden die Kommentatoren des „Calliess/Ruffert“ keine unnötigen Zeilen, der Begriff der „immer engeren Union“ gibt ihnen das „Ziel einer dynamisch fortschreitenden Verdichtung und Vertiefung der Integration“ vor, und ihr Band selbst ist ein gelungenes Beispiel dynamischer Entwicklung und „prozesshaft fortschreitenden Ausbaus“. Auch mit dem Verlagswechsel von Luchterhand zu C.H. Beck wurde die dreigliedrige Darstellung von Rechtsprechung, Literaturübersicht und eigener Stellungnahme des jeweiligen Bearbeiters beibehalten, neu hinzugekommen ist ein Verzeichnis weiterführender Literatur vor jeder Kommentierung. Dass sich hier fast durchgängig der Stand der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion spiegelt, zeigt, dass auch dem Autorenteam die Begeisterung für ein vor zehn Jahren als „Assistentenkommentar“ begonnenes Projekt nicht abhanden gekommen ist – und ein Realismus, der sich weite Perspektiven nicht abhandeln lässt. Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, den dasselbe Autorenteam anderorts kommentiert hat,3 ist noch nicht zu den Akten gelegt. Die im Verfassungsvertrag avisierten Neuerungen werden in den Kommentierungen zu EUV und EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza ausführlich diskutiert. Neu hinzugekommen ist auch eine gründliche Kommentierung der rechtlich noch immer unverbindlichen Europäischen Grundrechtecharta. Wie kein anderer Grundrechtskatalog beeinflusse sie die europäische Grundrechtediskussion, schreibt der Europarechtler Thorsten Kinggreen, und es sei zu vermuten, dass die Grundrechtecharta unabhängig vom Schicksal der Gesamtverfassung über kurz oder lang zum verbindlichen Teil des europäischen Verfassungsrechts werde.

Mit den langfristigen Entwicklungen der Europäischen Union hat sich in der „Denkpause“ auch Erweiterungskommissar Olli Rehn befasst. In zehn kurzen Aufsätzen beschreibt der promovierte Politikwissenschaftler prägnant und provokativ die nächsten Hürden, die Europa nach Osterweiterung und Verfassungskrise vor sich hat. Man muss Rehns Thesen nicht teilen, um sich von ihnen herausfordern zu lassen – so forsch jedenfalls hat in Brüssel lange niemand den Unionsbürgern ihre „Vogel-Strauß-Attitüde“ vorgehalten. Der finnische Kommissar rät der zögerlichen Europa, den Stier beherzt bei den Hörnern zu packen und setzt unbeirrt auf die Möglichkeit gleichzeitiger Erweiterung und Vertiefung. Dem Rückzug in die „Festung Europa“ stellt er eine aktive Nachbarschaftspolitik entgegen, mit mittelfristigen Beitrittsoptionen für die Staaten des westlichen Balkans und die Türkei, die er als „Brücke zwischen den Zivilisationen“ charakterisiert. Es gebe keine Abkürzung auf dem Weg in die EU, betont Rehn, und Zugeständnisse hinsichtlich der Beitrittskriterien dürfe es nicht geben. Scharf verurteilt er indes die Rede von der „privilegierten Partnerschaft“, die in der türkischen Öffentlichkeit eine gefährliche Euroskepsis und Sympathien für Nationalismus und Islamismus verstärkt habe.

Robert Kagans eingängigem Bild vom Hammer, der es für seinen Besitzer so scheinen lasse, als ob alle Probleme mit einem Nagel zu lösen seien, antwortet Rehn mit einer hübschen europäischen Metapher: Während Amerika kraftvoll Nägel einschlage, drehe das alte Europa geduldig Schrauben in dicke Bretter, Schrauben wie „Handel, Diplomatie, Friedenstruppen, Zivilverwaltungen“. Joseph Nyes „Soft Power“ scheint für Rehn ein anderes Wort für die gute alte „Methode Monnet“ zu sein, und unverblümt gesteht der bekennende Funktionalist, dass es in der EU wie beim Fußball am Ende nicht so sehr auf die ausgefeilte Strategie ankomme, sondern auf die Tore. „Speak softly, and carry out a major reform“ – diese Grundregel hält Rehn für zukunftsweisender als die Verfassungsdebatte der vergangenen Jahre. Ob sich mit solchem Pragmatismus die Bürger aus ihrer Europamüdigkeit wecken lassen? Und ob man so den „europäischen Islam“ kreiert, den sich Rehn so dringend herbeiwünscht?

Dass es doch noch immer gut gegangen sei, würde der Kommissar auf diese Frage wohl antworten, und der Osterweiterung vom Mai 2004 ein positives Zeugnis ausstellen. Dass sich die Kassandrarufe, die Befürchtungen sozialer und wirtschaftlicher Katastrophenszenarien tatsächlich nicht bewahrheitet haben, belegt auch Alina Domaradzka in ihrer Untersuchung der Auswirkungen des EU-Beitritts auf Freizügigkeit und soziale Sicherheit der Arbeitnehmer aus den Beitrittstaaten, insbesondere aus Polen.

Domaradzka skizziert in ihrer Dissertation die sieben Modelle des „Statusübergangs“ von der Drittstaatsangehörigkeit zur Markt- bzw. Unionsbürgerschaft, die sich seit 1957 in Europa entwickelt haben. Galten zunächst zwölfjährige Übergangsfristen bei der Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, so wurden beim Beitritt Österreichs, Schwedens und Finnlands gar keine Übergangsregelungen vereinbart. Im Rahmen der Osterweiterung der EU wurde mit dem „2+3+2“-Übergangsmodell ein flexibler Ansatz gewählt: Neben den Übergangsfristen sind auch Übergangsbedingungen festgelegt, und ihre Notwendigkeit wird einer regelmäßigen Prüfung unterzogen.

Im Detail zeigt die Autorin, wie schwer einschätzbar der Umfang der Arbeitsmigration aus den mittel- und osteuropäischen Ländern und deren Auswirkungen auf die EU-Arbeitsmärkte sind. Als unbegründet kann man wohl Szenarien wie die von dem Ökonomen Hans-Werner Sinn befürchtete „Überschwemmung“ der EU-Arbeitsmärkte durch elf Millionen Osteuropäer bis 2030 ansehen. Nach dem ersten Bericht der Kommission über die 2003 festgelegten Übergangsregelungen sind in den ersten beiden Jahren nach der Erweiterung die Zahlen der zugewanderten Arbeitskräfte stabil geblieben, nur in Österreich und Großbritannien war ein geringer Anstieg zu verzeichnen. Die Kommission, die die Wanderungsbewegungen innerhalb der EU als wirtschaftlich positiv bewertete, empfahl den alten Mitgliedsstaaten die Öffnung ihrer Arbeitsmärkte. Deutschland und Österreich sind diesem Rat bislang nicht gefolgt und haben sogar angekündigt, ihre Arbeitsmärkte nicht vor 2011 zu öffnen.

Damit führt das flexible „2+3+2“-Übergangsmodell zu einer materiellrechtlichen Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der neuen Mitgliedsstaaten in bezug auf ihre Aufenthalts- und Arbeitsrechte und, so Alina Domaradzka, sie „trägt zu einem uneinheitlichen Übergang zum Status der Unionsbürger innerhalb der Übergangsperiode bei“. Vor dem Hintergrund des Konzepts der Unionsbürgerschaft, das durch die Luxemburger Rechtsprechung in den vergangenen Jahren dynamisch ausgestaltet wurde, wird die brisante Ungleichzeitigkeit dieses Übergangs deutlich. Die Staatsangehörigen der neuen Mitgliedsstaaten verfügen gerade nicht über die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ihr Rechtsstatus umfasst nicht das zentrale Unionsbürgerrecht. In der Tat nicht nur ein terminologisches Glasperlenspiel ist die von der Autorin abschließend aufgeworfene Frage, ob dieser Rechtsstatus als lediglich ein „Beitrittsstatus“ bzw. „Zwischenstatus“ charakterisiert werden könne, oder ob die Staatsangehörigen des neuen Mitgliedsstaats „Unionsbürger zweiter Klasse“ sind.

Mit der Unionsbürgerschaft hat sich auch der am St. John’s College Oxford lehrende Paul Craig in seinem opulenten Band zum Europäischen Verwaltungsrecht beschäftigt. Im Rahmen seiner Ausführungen zum Rechtsschutz gegen Akte europäischer Verwaltung erläutert der renommierte Europarechtler die drei juristischen Techniken, die der Europäische Gerichtshof bei der schrittweisen Dynamisierung der durch den Maastrichter Vertrag eingeführten Unionsbürgerschaft zur Anwendung brachte.

Dass das Gemeinschaftsrecht in den meisten Fällen von den Exekutiven der Mitgliedsstaaten vollzogen wird, ist eine Binsenweisheit, die in Craigs Darstellung allerdings zunächst fast aus dem Blick gerät. Im ersten Teil, der der Darstellung europäischen Verwaltungshandelns gewidmet ist, nehmen gemeinschaftseigene Verwaltungskompetenzen und Verwaltungsressourcen breiten Raum ein, und auch Arkana wie das Komitologieverfahren oder das kaum weniger umstrittene Agenturwesen kommen nicht zu kurz. Die Ausführungen beginnen mit der Krise der Santer-Kommission und einer detaillierten Erörterung der anschließenden Kommissionsreform. Spannendes „Law in context“ wird hier geboten, ganz im Geist der Academy of European Law des Europäischen Hochschulinstituts Florenz, in deren Schriftenreihe der gewichtige Band erschienen ist.

Leider wird die komplexe Verwobenheit des Gemeinschaftsrechts mit dem von diesem harmonisierten mitgliedstaatlichen Recht, das Zusammenspiel von nationaler und europäischer Verwaltung im „Europäischen Verwaltungsverbund“4 nicht immer so anschaulich sichtbar. Im zweiten Teil allerdings, der den institutionellen Grundlagen europäischen Verwaltens die rechtlichen gegenüberstellt, der „Verwaltung“ das „Recht“, diskutiert der Autor mit seinem Leser im Detail aktuellste Rechtsprechung, kenntnisreich eingebettet in den reichen Bestand der Luxemburger Entscheidungssammlungen. Kopfzerbrechen machen Craig dabei unter anderem zwei vieldiskutierte Entscheidungen des Europäischen Gerichts Erster Instanz (EuG) vom 21. September 20055. In den Entscheidungen hatte sich das EuG mit dem Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und gemeinschaftsrechtlicher Umsetzung einer Resolution des UN-Sicherheitsrats zu befassen, die das Einfrieren von Konten terrorismusverdächtiger Personen und Gruppen anordnete. Dabei verweigerte das EuG den Klägern in weiten Teilen eine gerichtliche Kontrolle, nur eine Prüfung des Sicherheitsratsbeschlusses am Maßstab des zwingenden Völkerrechts hielten die Richter für zulässig. Den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention genügt dies nicht. Und sollte der EuGH die Urteile bestätigen, werden sich auch die Kommentatoren des europäischen Verfassungsrechts noch intensiver mit den Lücken des Rechtsschutzes in der fragmentierten Weltrechtsordnung zu befassen haben.

Olli Rehn: Europe’s Next Frontiers. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006. 123 Seiten, € 17,90. Alina Domaradzka: Unionsbürger im Übergang. Die Auswirkungen des EU-Beitritts auf die Freizügigkeit und soziale Sicherheit der Arbeitnehmer aus den Beitritts-staaten (am Beispiel Polens). Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006. 238 Seiten, € 49. Paul Craig: European Administrative Law. Oxford University Press, Oxford und New York 2006. 984 Seiten, 39,95 £.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2007, S. 130 - 134.

Teilen

Mehr von den Autoren