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01. Febr. 2003

Asiens drei Horizonte

Die neue Balance-of-Power-Politik der USA gegenüber Asien, die Bemühungen Japans in Richtung einer wirtschaftlichen Integration der Region und die unkalkulierbare Gefahr des transnationalen Terrorismus sind die Herausforderungen, vor denen Asien steht. Wenn es diesen Herausforderungen erfolgreich begegnet, könnte das 21. Jahrhundert noch zu einem „pazifischen“ Jahrhundert werden.

Seit langem beschäftigt Asien die Gurus der westlichen Welt. In den letzten beiden Jahrzehnten gelangen ihnen zwei Konjunkturen kollektiver Gewissheit, je eine im Sinne des „boom“ und des „bust“. Die Verkündung der achtziger und frühen neunziger Jahre lautete, das 21. Jahrhundert werde ein pazifisches Jahrhundert, die Globalisierung beherrscht von konfuzianischen Werten und korporatistischem Kapitalismus. Manche, wie Konrad Seitz, mahnten den Westen zur Nachahmung, andere, wie Jean-Marie Guéhenno, warnten vor dem „empire asiatique“, das das Ende der Demokratie bringen werde. Samuel Huntington bereitete die Welt auf den „Clash of Civilizations“ vor, bei dem sich in Asien eine „konfuzianisch-islamische Verbindung“ bilden werde. Im Amerika der ersten Bush-Regierung breitete sich Kulturpessimismus aus.

Dann kam 1997 die Asien-Krise und mit ihr eine Wende der Futurologie um 180 Grad: Das 21. Jahrhundert würde nicht mehr „pazifisch“, sondern „amerikanisch“ werden, die Globalisierung nicht mehr durch elektronische Hardware aus Japan, sondern amerikanische Software und das Internet getrieben. Asiatische Muster, die zuvor als konfuzianisch bewundert oder gefürchtet wurden, wurden schnell als endemische Korruption entlarvt, In der Clinton-Regierung erlebte der Kulturoptimismus der westlichen Aufklärung eine triumphale Wiedergeburt. Der „Third Way“ vereinte Amerika und Europa und verstand sich gleichzeitig als Angebot an alle Gesellschaften der Welt. Washington und die Wall Street sahen Chancen in China, verloren zunehmend die Geduld mit Japans Ringen um die Überwindung der Schuldendeflation nach dem Platzen der Blase. Jetzt war es an Japan, in kulturpessimistische Depression zu verfallen.

Als das neue Jahrhundert dann wirklich begann, wurde alles sehr viel komplizierter, wie sich an den nachfolgenden drei Entwicklungen zeigt.

Präferenzen der USA

Zu Beginn seiner Amtszeit im Frühjahr 2001 erklärte Präsident George W. Bush, seine Regierung werde das Schwergewicht ihrer Außenpolitik von Europa auf Asien, und innerhalb Ostasiens von China auf Japan verlagern.1 China wurde als strategischer Konkurrent, das Japan unter Ministerpräsident Junichiro Koizumi als ideologischer Verbündeter der Bush-Regierung eingestuft. Während europäische Länder noch in verschiedenen Stadien des „Japan bashing“, „Japan lecturing“ und schließlich „Japan passing“ verharrten, war der Ton aus Washington plötzlich von freundschaftlicher Wärme geprägt. Selbst als klar wurde, dass Koizumis Wirtschaftsreformen nicht so schnell vorankommen würden, wie die Wall Street es erwartete, reagierte Washington mit Verständnis. Bush empfing Koizumi am 30. Juni 2001 in Camp David, zwischen beiden entwickelte sich eine „persönliche Chemie“.

Ein Jahr später wurde in der von Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice entworfenen „Bush-Doktrin“ (die „Nationale Sicherheitsstrategie“ vom September 2002) deutlich, dass diese Wende der Anfang der Umsetzung einer Methode der europäischen Politik des 18. und 19. Jahrhunderts war, nämlich der „Balance of Power“. So wie das Großbritannien der alten europäischen Pentarchie seine Vormacht durch eine „Balance of Power“ zwischen den vier kontinentaleuropäischen Großmächten Frankreich, Preußen, Österreich und Russland zu sichern versuchte, will die Bush-Doktrin heute die großen Mächte der Welt, d.h. im Wesentlichen die vier „asiatischen“ Mächte China, Japan, Russland und Indien so „im Zaum zu halten“, dass keine von ihnen die Stärke der USA erreicht.

Reaktion Japans

Zunächst hocherfreut über die neue Zuwendung aus Washington, schien die japanische Regierung sich nicht allein darauf verlassen zu wollen. Im Januar 2002 entwickelte Koizumi in einer Grundsatzrede in Singapur2 eine eigene Perspektive asiatischer Zukunft. Er schlug ein ganz Ost- und Südostasien umfassendes Netzwerk von Partnerschaftsabkommen vor, deren Inhalt von wirtschaftlicher Verflechtung über wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Austausch bis hin zur gemeinsamen Bekämpfung neuer Sicherheitsrisiken, insbesondere des internationalen Terrorismus, reicht. Mit Nachdruck schloss er China in dieses Angebot ein. Bei aktiver Pflege jeder Form der Bündniswärme und persönlichen Chemie zwischen Koizumi und Bush hatte die japanische Regierung jenseits des Wechselspiels der „Balance of Power“ einen langfristig stabilen Horizont des Wohlstands und der Sicherheit für die ganze Region im Auge. Sie entlehnte hierbei zwei sehr viel jüngere Methoden aus dem Schatz amerikanischer Politologie und europäischer Erfahrungen: funktionale Integration und sicherheitspolitische Vertrauensbildung.

Im japanischen Außenministerium hieß es dazu: „Was die Europäer 1958 bei Gründung der EWG konnten, können wir in Asien auch.“ Im September 2002 überraschte Koizumi die Welt durch den Gipfel von Pjöngjang. Mit Kim Jong Il, dem Staatschef eines der drei Länder der „Achse des Bösen“, unterschrieb er eine Erklärung, die neben der Lösung des jahrzehntealten Problems nach Nordkorea entführter Japaner die Normalisierung der Beziehungen und japanische Entwicklungshilfe bei Einhaltung des Verzichts Nordkoreas auf Atomwaffen zum Gegenstand hatte.3 Die Erklärung war in einjährigen Geheimverhandlungen durch Hitoshi Tanaka, den gleichen Asien-Direktor des Außenministeriums vorbereitet worden, der auch das Konzept der funktionalen Integration in Ostasien entwickelt hatte.

Der Vergleich mit der im Helsinki-Prozess bewährten Strategie der sicherheitspolitischen Vertrauensbildung liegt nahe. Die nachfolgenden Ereignisse, bis zu Nordkoreas Kündigung seiner Bindung durch den Nichtverbreitungsvertrag im Januar 2003, machen die Hürden deutlich, die diese Strategie noch zu überwinden hat.

Kampf der Kulturen?

Am 11. September 2001 waren zwar New York und Washington die Orte des Geschehens, aber gesteuert wurde der Terror aus Afghanistan. Im Oktober 2002 machte der Terroranschlag auf Bali deutlich, dass Al Khaïdas südostasiatische Zellen vom Zusammenbruch der Taliban in Afghanistan unberührt geblieben waren. Auf den ersten Blick schienen Osama Bin Laden und Hambali, der vermutete Inspirator des Anschlags auf Bali, wie aus Huntingtons Buch „The Clash of Civilizations“ entsprungen. Nur sucht man vergeblich nach einer klaren Huntingtonschen „Bruchlinie“ zwischen Islam und Christentum, die zur geographischen Frontlinie des Kampfes der Kulturen werden könnte.

Im Mai 2002 wurde zwar eine vergleichsweise deutliche christlich-muslimische Bruchlinie in Asien besiegelt, und zwar durch die förmliche Entlassung Ost-Timors in die Unabhängigkeit von Indonesien. Nur war diese Besiegelung das Gegenteil des Huntingtonschen Szenarios, nämlich nicht der Ausbruch zwischenstaatlicher Gewalt an einer solchen Bruchlinie, sondern die Beendigung unkontrollierter innerstaatlicher Gewalt durch eine friedenserhaltende Intervention der Vereinten Nationen. Innerhalb Indonesiens bestehen zahlreiche interkulturelle Spannungen fort, zwischen protestantischen Dayaks auf Borneo und muslimischen Umsiedlern aus Madura und Java, zwischen christlichen und muslimischen Dorfgemeinden auf den Molukken und in dem nach Unabhängigkeit strebenden muslimischen Aceh auf Sumatra, in dem es eine staatstreue protestantische Minderheit gibt, die bei Indonesien bleiben will.

Die einzige zwischenstaatliche „Bruchlinie“, die nach dem 11. September zur militärischen Frontlinie zur werden droht, ist keine christlich-islamische, sondern eine hinduistisch-islamische, nämlich die Grenze zwischen Indien und Pakistan. Anlass ist allerdings auch hier Terror, nämlich der Anschlag vom 13. Dezember 2001 auf das indische Parlament. Die indische Regierung vermutete zunächst, es handele sich um Islamisten aus dem pakistanischen Teil Kaschmirs, warf Pakistan vor, nicht genügend gegen pakistanische Terroristen zu tun und massierte nahezu eine Million Soldaten an der pakistanischen Grenze. Pakistan mobilisierte Truppen auf seiner Seite der Grenze und glich sein Defizit an wirtschaftlicher und konventioneller militärischer Stärke durch Raketentests aus, die die Bereitschaft zum atomaren Erstschlag im Falle eine konventionellen indischen Durchbruchs signalisieren.

Die internationale Staatengemeinschaft drängte Neu-Delhi und Islamabad zum Einlenken. Letztlich beendete Indien die auf dem Subkontinent seit jeher mit großer Kunst praktizierte Übung in „brinkmanship“. Es war allzu deutlich geworden, dass die Täter des Anschlags indische Muslime waren, die Tat ein Teil des innerindischen Zyklus der Gewalt zwischen zunehmendem hinduistischen Fundamentalismus und der muslimischen Minderheit.

In Sri Lanka sind dagegen die hinduistischen Tamilen in der Minderheit und seit 1982 in einem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt mit der buddhistischen Mehrheit gefangen, während die muslimischen und christlichen Minderheiten friedlich miteinander umgehen. Der tamilische Terrorismus wird von einem Netzwerk gut situierter Tamilen in Westeuropa, Nordamerika, Südostasien und Australien unterstützt. Im Februar 2002 wurde jedoch ein von Norwegen vermittelter Waffenstillstand vereinbart, der bis heute hält. Bei näherem Hinsehen ist also auch bei den interkulturellen Beziehungen nicht alles so einfach, wie es im Szenario des „Clash of Civilizations“ erscheint. Das einzige, was sich deutlich herausschält, ist, dass der sich religiös oder kulturell gebende Terrorismus auch in Asien in transnationalen und innergesellschaftlichen Formen auftritt, denen mit militärischen Mitteln schwer zu begegnen ist.

In diesen drei Entwicklungen der letzten zwei Jahre kommen konkurrierende Politikmuster zum Ausdruck, aus denen sich völlig unterschiedliche Horizonte für die Zukunft Asiens in der Welt ergeben. Die Frage ist, wie die drei Muster aufeinander wirken, und welches langfristig die größten Chancen hat, sich durchzusetzen. Für jedes der drei Muster sind bereits Indizien erkennbar, die es lohnt festzuhalten.

Balance-of-Power-Politik

Auf den ersten Blick sieht man eindrucksvolle Indizien für die Wirksamkeit der Balance-of-Power-Methode in Asien. Sicher ist, dass sie in China, Russland, Japan und Indien instinktiv verstanden wird. Das Kalkül der Macht in den Kategorien von Territorien, Bevölkerungszahlen, Truppen und Flottenstärken, Waffentechnologien und strategischer Kunst hat in Asien eine mindestens ebenso antike Tradition wie in Europa. Die Philosophie des „politischen Realismus“ bedurfte in Asien keines Thomas Hobbes, um chinesischen Kaisern, indischen Maharadschas und japanischen Daimyos als Denkschema zur Verfügung zu stehen. In der Neuzeit nahm Japan als erste asiatische Macht mit Erfolg am europäischen Balance-of-Power-Spiel teil, und zwar 1902 im Bündnis mit Großbritannien zur Begrenzung des russischen Vordringens in China. Mit der Versenkung des großteils der russischen Flotte bei Tsushima 1905 gab es der erstaunten europäischen Staatenwelt zu erkennen, dass in Ostasien ein zusätzlicher Spieler am Tisch des Kräftespiels der Mächte Platz genommen hatte.

Als Verlierer einer mindestens ebenso überraschenden und dramatischen Gewichtsverlagerung sah Japan sich sieben Jahrzehnte später, als Henry Kissinger 1971 die „China-Karte“ gegen die Sowjetunion spielte und Präsident Richard Nixon die neue globale „Balance of Power“ 1972 mit einem Besuch in Beijing besiegelte. Von Amerika war man in Asien selbst dann, wenn es bewaffnet auftrat, stets nur amerikanischen Idealismus gewohnt: Freiheit des Individuums, freier Handel, Menschenrechte, Demokratie im Sinne John Lockes, Thomas Jeffersons, Abraham Lincolns. Mit diesen Werten wurde die Jugend Nachkriegs-Japans ebenso wie die Jugend Nachkriegs-Deutschlands erzogen. Nur akademische Spezialisten wussten, dass es die Philosophie des politischen Realismus auch in Amerika gab und dass Alexander Hamilton, der Gegenspieler Jeffersons, ihr Begründer war. Aber dieses Denkmuster war in den USA stets als „typisch europäisch“ verdächtig gewesen. Es hatte stets schlicht als unamerikanisch gegolten. Man hatte nicht erwartet, dass jemals ein politischer Realist Präsident der Vereinigten Staaten werden könne. Nixon war der erste. Mit Henry Kissinger hatte er auch noch einen „typischen Europäer“, als Sicherheitsberater. Dass dieser Präsident sich mit dem kommunistischen China, Japans bedrohlichem Nachbarn, zusammentun konnte, blieb bis heute als „Nixon-Schock“ im kollektiven Gedächtnis Japans haften.

Die britisch erzogene indische Elite übernahm die Balance-of-Power-Methode dagegen bruchlos sofort nach der Unabhängigkeit. Sie sucht noch bis heute Gegengewichte gegen Pakistan und China. Aus geographischen Gründen schien ihr stets ein Partner für beide Zwecke geeignet: die frühere Sowjetunion, das heutige Russland. Die Bindungen zur Sowjetunion waren eng, doch um Wladimir Putin muss Indien jetzt von Fall zu Fall werben.

Russland und China scheinen Condoleezza Rices Übung zum Thema „Balance of Power“ mit Henry Kissingers Lehrbuch zu vergleichen und sich ihren Teil zu denken. Russland ist auf „Westkurs“ und Mitglied der G-8. Das hinderte Putin nicht, mit Jiang Zemin eine „strategische Partnerschaft“ zu vereinbaren. China bildet seit 1996 mit Russland, Kasachstan, Kirgistan, und Tadschikistan die „Schanghai 5“ zur sicherheitspolitischen Vertrauensbildung an den gemeinsamen Grenzen. Im Juli 2001, kurz vor Putins Gipfeltreffen mit Bush in Laibach, vereinbarten Jiang Zemin und Putin unter dem Eindruck der Bedrohung durch transnationalen Terrorismus in Zentralasien die Aufnahme Usbekistans und die Ausbildung der bisherigen „Schanghai 5“ zu einer multilateralen Organisation, der „Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit“.

Auf den Eröffnungszug der neuen Washingtoner Realpolitik, die Gewichtsverlagerung von China auf Japan, hat Beijing mit ungerührtem Abwarten reagiert. Inzwischen hat es sich, ebenso wie Russland, für seine Voten im UN-Sicherheitsrat zu Afghanistan und Irak von Washington umwerben lassen. Präsident Bush reiste bereits zwei Mal nach Beijing, und empfing Jiang Zemin auf seiner Ranch in Crawford, Texas.

In der Nordkorea-Politik scheint die „Balance of Power“ dem David-und-Goliath-Syndrom zu weichen. China, Russland, Japan und das am stärksten betroffene Südkorea wollen übereinstimmend den katastrophalen Kollaps des verarmten Regimes vermeiden und suchen eine Lösung durch Dialog. Washingtons sichtbare Priorität von Irak wirkte spieltheoretisch wie ein Anreiz für Kim Jong Il zu überhöhten Forderungen. Von Präsident Bush heißt es, er persönlich sehe sich nicht so sehr in der geistigen Nachfolge Nixons, sondern von Dwight D. Eisenhower.4Das mag den Koreanern Hoffnung auf eine friedliche Lösung geben. Denn obwohl 1952 mit der volkstümlichen Erwartung gewählt, er werde den Korea-Krieg genau wie den Zweiten Weltkrieg beenden, d.h. durch Eroberung des Angreifers, schloss Eisenhower, der wie kein anderer die Kosten des Krieges kannte, sechs Monate nach Amtsantritt, am 24. Juli 1953, den Waffenstillstand am 38. Breitengrad, der noch heute hält.

Die Geschichte erfolgreicher Phasen der Balance-of-Power-Politik, der britischen im 18. und 19. Jahrhundert und der Kissingerschen im 20. Jahrhundert, zeigt, dass es eines Spielers bedarf, der in der Lage ist, durch Gewichtsverlagerungen im Kräftespiel konkurrierender Mächte ein stabiles Gleichgewicht herzustellen. Er muss bessere Beziehungen zu einer größeren Zahl von Mitspielern haben als alle anderen. Dazu gehört, dass er nicht selbst so übermächtig wirkt, dass die anderen instinktiv zusammenrücken.

Vieles spricht dafür, das die größten Erfolge der USA in Asien seit Beginn des 21. Jahrhunderts, zuletzt die multilaterale Koalition in Afghanistan, nicht so sehr Rices erklärtem realpolitischen „Power Balancing“, sondern Außenminister Colin Powells engagiertem multilateralen „Coalition Building“, dem Schmieden von Koalitionen, zu verdanken sind.

Funktionale Integration

Angesichts der Geschichte Asiens wirkt Japans Strategie der funktionalen Integration Ost- und Südostasiens kontraintuitiv. Der größte Teil der englischsprachigen Medien in Asien reagierte herablassend auf Koizumis Singapurer Rede und auf den Abschluss des als Muster gedachten Partnerschaftsabkommens zwischen Japan und Singapur. Viel sensationeller erschien das Werben Chinas für Freihandelsabkommen mit den ASEAN-Staaten. Hier versuche der Regierungschef des schwächelnden Japans auf den Zug des dynamischen Chinas aufzuspringen und dann auch noch den Lokführer zu spielen, hieß es in der journalistischen Begleitmusik.

Vertreter ökonomischer Kompetenz in asiatischen Regierungen neigen zu differenzierteren Analysen. Alle Partner Japans betrachten zwar Japans zehnjährige Schuldendeflation nach dem Platzen der Blase mit Sorge. Die laufenden Daten der Handelsströme nach Japan und der Investitionsströme aus Japan waren in den letzten Jahren tendenziell rückläufig, während die gleichen Daten im Falle Chinas dynamisch anstiegen. Es wird auch erkennbar, dass Strukturreformen in Japan wie in anderen gestandenen Volkswirtschaften und westlichen Demokratien nicht über Nacht, auch nicht im kurzfristigen Zeithorizont der normalen Konjunkturpolitik, sondern bestenfalls mittelfristig möglich sind.5 Dennoch wissen alle Experten, dass es sich im Falle Japans um eine Schwächephase auf hohem Niveau, im Falle Chinas um dynamisches Wachstum von niedriger Ausgangsposition aus handelt, und dass die chinesische Bankenkrise sehr viel gravierender ist als die japanische, auch wenn die Medien kaum darüber berichten.

Unverändert wichtig für die gesamte Region ist, dass Japan die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und größte Volkswirtschaft Asiens mit einem den USA vergleichbaren Pro-Kopf-Einkommen, das Land mit dem höchsten Bestand liquider Ersparnisse und damit verfügbarer Kaufkraft, die größte Gläubigernation der Welt und das zweitgrößte Herkunftsland von Entwicklungshilfe bleibt. Alle ost- und südostasiatischen Partner Japans mit Ausnahme Nordkoreas haben umfangreichere Handelsbeziehungen mit Japan als mit jedem anderen Land der Region.

Die kumulativen Bestandsgrößen der japanischen Direktinvestitionen übertreffen die Investitionen aus allen anderen Ländern der Region. Sie waren vor allem, in den Fällen Südkoreas, Taiwans, Singapurs und Malaysias besonders eindrucksvoll, mit Technologietransfers vom Schiffbau bis zur Mikroelektronik verbunden, die sich als Auslöser dynamischer Wirtschaftsentwicklung erwiesen haben. Das gleiche Muster vollzieht sich heute gegenüber China. Ganze Sektoren der japanischen Industrie bis hin zur technisch hochwertigen optischen Industrie verlagern erhebliche Teile ihrer Produktion nach China. Da die Kaufkraft Chinas frühestens in 20 Jahren an die Japans heranreichen wird, wird die Produktion größtenteils reimportiert oder in Drittländer exportiert.

Die tatsächliche funktionale Verflechtung der Volkswirtschaften der Region hat also längst begonnen. Interessant ist, dass Japan jetzt einen „Nachholbedarf“ gegenüber den in Europa und in der amerikanischen Hemisphäre erprobten Mustern der rechtlich abgesicherten Wirtschaftsintegration empfindet. Die Strategie ist langfristig angelegt. Hitoshi Tanaka bringt sie in vier Worten auf den Punkt: „Klein anfangen, groß vollenden“.6 Mit dem Partnerschaftsabkommen mit Singapur ist nur der Anfang gemacht. Im Falle Chinas hat zunächst die Aufnahme in die WTO Vorrang, der man offensichtlich die gleiche Bedeutung beimisst, wie ihre Befürworter in den USA und Europa. Für ein Partnerschaftsabkommen hat es offensichtlich noch nicht die strukturellen Voraussetzungen, die Singapur bietet. Aber im Horizont von 20 Jahren hält man auch das für möglich.

Dass es in allen Ländern der Region, einschließlich Japans, auch Widerstand gegen die Strategie der funktionalen Integration gibt, wissen ihre Initiatoren. Sie wissen aber auch, dass es in Europa nicht anders war. Man erinnere sich: die funktionale Methode der Integration wurde seit den vierziger Jahren von David Mitrany, Karl Deutsch, Ernest B. Haass und einer ganzen Generation amerikanischer Wissenschaftler theoretisch entwickelt. Als Jean Monnet begann, politisch für sie zu werben, hielten weite Teile der Öffentlichkeit der westeuropäischen Länder sie für ebenso kontraintuitiv wie sie heute in Asien erscheint.

Wie seinerzeit die funktionale Integration für Nachkriegseuropa, so haben auch der Beitritt Chinas zur WTO, Chinas und Japans Wettbewerb um Freihandels- und Partnerschaftsabkommen mit den anderen Ländern Ost- und Südostasiens sicherheitspolitische Bedeutung. In Tokio hört man zum WTO-Beitritt Chinas: „Wenn es vollständig integriert ist, stellt China keine Bedrohung dar“. Je dichter das Netzwerk der Abkommen in funktionalen Bereichen – von der Zollpolitik über Agrarhandel bis zu Absprachen in Bezug auf Währungsreserven –, desto größer und sichtbarer werden die von allen Teilnehmern daraus gezogenen Gewinne. Je größer diese Gewinne, desto geringer das Interesse an verlustreichen Konflikten – in Asien wie in Europa.

Die gleiche Strategie lag offensichtlich auch der Entscheidung Koizumis zugrunde, im September 2002 nach Pjöngjang zu reisen und Kim Jong Il eine Normalisierung und japanische Entwicklungshilfe als Gegenleistung für die Aufklärung des Schicksals der als Kinder entführten Japaner und die Einhaltung des Verzichts auf Atomwaffen anzubieten. Auch Russland und China haben zumindest implizit zu verstehen gegeben, dass sie eine graduelle Integration Nordkoreas in die Wirtschaftsregion Ostasiens der Instabilität der jetzigen Situation und dem Risiko eines katastrophalen Kollapses des Regimes vorziehen. Auch in der Bush-Regierung gibt es erfahrene Asien-Kenner wie beispielsweise Richard Armitage, von dem man weiß, das er noch 1999 das Szenario des graduellen Systemwandels sogar mit den Anreizen Finanzhilfe, Vollendung der Leichtwasserreaktoren und Nichtangriffspakt befürwortete.7

Transnationaler Terrorismus

In dem Maße, in dem das Szenario der funktionalen Integration Regierungen, Unternehmen und wachsenden Teilen der Gesellschaft der ost- und südostasiatischen Länder attraktiv erscheint, ergeben sich für den transnationalen Terrorismus ganz andere als interreligiöse oder interkulturelle Fronten. Es sind innerstaatliche und innergesellschaftliche Fronten zwischen Tradition und Moderne, Armut und Entwicklung, Fundamentalismus und Aufklärung, Dogmatismus und Pragmatismus, Ressentiment und Selbstvertrauen, Angst und Vertrauensbildung, Macht und Ethik, Kriminalität und Recht.8

Das wird besonders deutlich in Indonesien. Es ist nicht nur das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt, sondern auch eines mit einer säkularen Verfassung. Der heute wohl einflussreichste Philosoph eines politisch aufgeklärten moderaten Islams, Nurkolish Majid, ist Indonesier. Bei der Ablösung des autoritären Suharto-Regimes, das nicht nur den Terror in Ost-Timor geduldet, sondern durch Umsiedlung von Muslimen in bisher von Christen bewohnte Gebiete interreligiöse Spannungen ausgelöst hatte, spielte er eine Schlüsselrolle.

Das heißt nicht, dass der interreligiöse Frieden in diesem Land gesichert ist. Das Bildungssystem auf Grundschul- und Sekundarebene ist weitgehend noch den Religionsschulen, d.h. mehrheitlich den über das ganze Land verstreuten muslimischen „Pesantren“ überlassen. Ob die indonesische Jugend zu Ressentiments oder Selbstvertrauen erzogen wird, hängt davon ab, ob es den Vertretern des aufgeklärten Islam gelingt, ihren noch bestehenden Einfluss auf die Pesantren zu wahren, oder ob es Abu Bakar Bashir und der Jemaah Islamiyah gelingt, sie zu unterwandern und westliche Teufel, vor allem die USA, an die Wand zu malen.9

Viel wird in Indonesien und anderen Konfliktländern davon abhängen, wie der Westen sich gegenüber anderen Kulturen verhält. Japan spielt ähnlich wie Deutschland eine profiliert friedensstiftende Rolle: Im Falle Afghanistans war die Tokioter Geberkonferenz vom Januar 2002 eine wichtige funktionale Ergänzung der Petersberger Konferenz der politischen Opposition gegen die Taliban vom Dezember 2001. In ähnlicher Weise hat Japan im Dezember 2002 eine Waffenstillstandskonferenz zu Aceh organisiert. Im Frühjahr 2003 soll eine Geberkonferenz in Tokio helfen, den Waffenstillstand in Sri Lanka in eine dauerhafte Friedenslösung fortzuentwickeln.

Bemerkenswert ist, dass diese Strategie in Asien die Unterstützung der Bush-Regierung findet. „Staatliche Entwicklungshilfe ist ein bedeutendes diplomatisches Instrumentarium zur Bekämpfung des Terrors“, schreibt Howard Baker, amerikanischer Botschafter in Japan, im Januar 2003 in der Tageszeitung Asahi Shimbun.

Besser kann man es nicht sagen.

Anmerkungen

1  Vgl. den Beitrag von Marsha Vande Berg, Partner oder Gegner China? Unilateralismus kontra Multilateralismus in den USA, S.17–22.

2  In Auszügen hier abgedruckt, S.77 ff.

3  Vgl. zum Besuch Koizumis in Nordkorea die Dokumentation, S. 83 ff.

4  Vgl. David Frum, The Right Man: the Surprise Presidency of George W. Bush, New York 2003.

5  Vgl. Schmiegelow, Which Recipe for the Japanese Economy?, in: Asien, Nr. 87, April 2003 (im Druck).

6  Hitoshi Tanaka et.al., Jiyushibakyotei to Nihon no Senryaku (Free trade agreements and Japan’s Strategy), Japan Center of Economic Research Bulletin, Nr. 895 (2002).

7  Vgl. Bill Keller, Actually, there is a plan for North Korea, in: International Herald Tribune, 12.1.2003.

8  Zur interkulturellen Ethik vgl. insbesondere Johannes Rau, Friede als Ernstfall, Frankfurt 2001.

9  Vgl. hierzu ausführlich auch den Beitrag von Martin Wagener, Südostasien als Operationsgebiet von Al Khaïda, S. 35–42.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2003, S. 1 - 9

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