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01. Nov. 2007

Der Weg zur Asiatischen Gemeinschaft

Europa unterschätzt Asiens Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung - ein Fehler

Viele Europäer halten es für undenkbar, dass der riesige Kontinent Asien zusammenwächst: Großmachtrivalitäten, Nationalismen, kulturelle Unterschiede, ideologische Gräben, Konkurrenz und Konflikte machten die Integration unmöglich, heißt es. Doch in Asien selbst wird die Gemeinschaftsbildung als Zukunftsstrategie begriffen.

Europas öffentliche Meinung scheint an Amnesie zu leiden, wenn sie sich, selten genug, mit Asiens Integrationsprozessen beschäftigt. In Verkennung der Geschichte der europäischen Gemeinschaften werden funktionaler Integration und Gemeinschaftsbildung in Asien kaum Aussichten auf Erfolg eingeräumt.

Großmachtrivalitäten, so heißt es, seien zu unausweichlich, Nationalismen zu reizbar, kulturelle Uterschiede zu groß, ideologische Gräben zu tief, Märkte zu dirigiert, Währungszusammenarbeit zu undenkbar, Konkurrenz um Energiequellen und Rohstoffe zu intensiv. Man vergisst, dass 1945 kaum jemand in Europa die 1951 gegründete Montanunion für möglich hielt. Man denkt nicht mehr daran, dass nach der Gründung der V. Republik 1958 kaum jemand mit einer französischen Zustimmung zu dem dann 1973 doch erfolgten Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft rechnete. Hatte de Gaulle sich nicht entschlossen, Deutschland in der EWG an Frankreich zu binden, um einen Gegenpol zu den angelsächsischen Mächten bilden zu können? Man erinnert sich nicht, dass nach dem Scheitern des Werner-Plans am französischen Colbertismus der siebziger Jahre1 das Projekt der Währungsunion endgültig ad acta gelegt zu sein schien. Kaum jemand stellte sich damals vor, dass nach dem Fall der Berliner Mauer ein sozialistischer französischer Präsident treibende Kraft der Währungsunion werden würde, die Frankreich zwar den schwer messbaren politischen Gewinn des Verzichts des wiedervereinigten Deutschlands auf die geldpolitische Hegemonie der Bundesbank, der deutschen Industrie, aber um so handfestere Gewinne im europäischen Außenhandel brachte.

Der Gedächtnisverlust des trotz aller Krisen so erfolgreich vertieften und erweiterten Europa mag in der gegenwärtigen politischen Konjunktur verständlich sein. Heute zeigt sich ein wieder eher colbertistischer Präsident Frankreichs wenig glücklich über die von einem Franzosen geleitete EZB, die nach dem Urteil angelsächsischer Ökonomen „outbundesbanks the Bundesbank“. Belgien, ein Gründungsmitglied der ersten europäischen Gemeinschaften, das zudem die Hauptstadt der EU beherbergt, droht an seiner inneren Sprachgrenze zu desintegrieren. Die Rumsfeld’sche Spaltung in Old Europe and New Europe wirkt nach und scheint New Europe zu sehr alten Formen des Nationalismus anzuspornen. „Idealism is mugged by reality“, schreibt ein britischer Realist halb triumphierend, halb besorgt.2 Kein Wunder, dass auch der Rest der Welt durch solche Prismen gesehen wird.

Doch man lasse sich nicht von rückwärts gewandten Befindlichkeiten Europas täuschen. Denn in Asien ist der Trend umgekehrt. Funktionale Integration und Gemeinschaftsbildung werden hier als Zukunftsstrategie begriffen. Was in Europa mit der politischen Theorie des Idealismus vorangebracht werden musste, ist hier Resultat politischer und unternehmerischer Entscheidungen mit strategischem Pragmatismus – der von dogmatischen Europäern zu Unrecht als Opportunismus abgetan wird. Da die Notwendigkeit zu entscheiden nach Kant weitergeht, als die Möglichkeit zu erkennen, ist strategischer Pragmatismus dem Dogmatismus auch ethisch überlegen.3 Es ist eine Methode, die als Philosophie von den Amerikanern Charles Peirce, William James und John Dewey entwickelt wurde,4 als Praxis aber in Asien besonders lehrreiche Erfolgsmuster bietet.5 Sie setzt sich durchaus anspruchsvolle Ziele, aber rechnet kühl. Sie arbeitet mit langen Zeithorizonten, ist dabei jedoch um kontinuierliche Fehlerkorrektur bemüht. Sie schafft Realitäten durch Nutzung dessen, was Ong Keng Yong und Qian Qichen in dieser IP übereinstimmend Win-win-Situationen nennen.

Die von ihnen, Haruhiko Kuroda und Kazuo Ogura in dieser IP beschriebene wirtschaftliche, soziokulturelle und sicherheitspolitische Verflechtung Ost- und Südostasiens erinnert frappierend an die funktionalistischen Strategien der Gründerväter der EG, wenn auch in anderer Sequenz. Wer eine asiatische Währungskooperation für undenkbar hält, sollte Kurodas Beitrag aufmerksam lesen (I). Die von den ASEAN-Staaten gestiftete Methode der Gemeinschaftsbildung in Asien, aufbauend auf der ASEAN, ASEAN+3 und den „East Asian Summits“ einschließlich Indiens, Australiens und Neuseelands (EAS), verbindet die von Ong Keng Yong und Yusuf Wanandi dargelegten politischen, ökonomischen und ökologischen Ziele mit beeindruckend realistischem Sinn für Balance of Power unter den Großmächten Asiens (II). Das Netz der asymmetrisch überlappenden regionalen Organisationen in Asien entwickelt sich wie in der Geschichte der europäischen Integration dynamisch (III). Dass Chinas sozialistische Marktwirtschaft und Indiens Rolle als größte Demokratie der Welt sich über ideologische Gräben hinweg auch entwicklungspolitisch fruchtbar herausfordern können, zeigt Kuldeep Mathur (IV). Yoshibumi Wakamiya gibt zu bedenken, dass Versöhnung zwischen früheren Kriegsgegnern nicht nur Europa gelingen kann. Mit der Wahl Yasuo Fukudas zum japanischen Premierminister eröffnet sich die Chance zur Erneuerung der „Fukuda-Doktrin“ seines Vaters zur Versöhnung in Asien (V).

Aus Kazuo Oguras Analyse der Geschichte der asiatischen Kulturen, ihrer Verdrängung durch westliche Modernisierung in Gestalt des Kolonialismus und ihrer Erneuerung in unserer Zeit ergibt sich, dass die verbreitete These westlicher Beobachter, Asien könne schon mangels gemeinsamer Kultur keine Gemeinschaft werden, verfehlt ist. Hans Küng warnt vor westlicher Selbstgefälligkeit und erschließt als Theologe die Quellen der großen asiatischen Religionen, aus denen sich eine Ethik für Gemeinschaftsbildung ergibt (VI). Die vorausschauende Politik zur Lösung der globalen Herausforderungen der Zukunft, für die Bundesaußenminister Steinmeier wirbt, wird in Asien aufgeschlossene Partner finden. Yusuf Wanandi macht deutlich, dass auch eine East Asian Community unter Einschluss Chinas, Indiens und Japans sich im wohlverstandenen eigenen Interesse als Teil der Global Governance verstehen wird. Eckart von Klaeden beschreibt bereits positive Rückkoppelungen von der Erkenntnis der zunehmenden Integration Asiens zu deutschen Interessen.

I. Funktionale Integration

Ong Keng Yong erläutert die Strategie der ASEAN für asiatische Gemeinschaftsbildung, und zwar sowohl für die ASEAN selbst als auch in abgestuften Graden für weitere Kreise asiatischer Staaten im geographischen Umfeld der ASEAN, von Nordostasien bis Indien, Australien und Neuseeland. Seine Enumeration der Prinzipien, die er als „ASEAN-Methode der Gemeinschaftsbildung“ bezeichnet, kann alle untereinander zerstrittenen politischen Realisten und Idealisten Europas vor Überschätzungen und Unterschätzungen des Potenzials asiatischer Integrationsprozesse gleichermaßen bewahren. Bezüge zur europäischen Integrationserfahrung sind bei allen asiatischen Autoren dieser Ausgabe zu finden. Ong Keng Yong schildert den differenzierten Einsatz von „low politics“ bei funktionaler Zusammenarbeit und „high politics“ in strategischen Fragen. Genau diese Differenzierung hatten die amerikanischen Gründer der neofunktionalistischen Integrationstheorie den Europäern zur Überwindung unvermeidlicher Vertrauenskrisen im Prozess der Gemeinschaftsbildung empfohlen.6

Ong Keng Yong und Qian Qichen unterstreichen die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt. Das klingt wie eine Variation zu einem europäischen Thema, auch wenn die Unterschiede zwischen Entwicklungsstufen und politischen Systemen in Asien noch ungleich größer sind als in Europa. Beide bekennen sich zur Methode des Gradualismus, der schrittweise zu vertiefter Zusammenarbeit führt. Qian Qichen zitiert dafür eine antike asiatische Quelle, nämlich den konfuzianischen Philosophen Xun Zi (298–238 v. Chr.): „Ohne die Häufung kleiner Schritte kann eine 1000 Meilen-Reise nicht beendet werden, ohne das Zusammenfließen kleiner Bächlein gäbe es keinen großen Strom oder das Meer.“ Über 2000 Jahre später „entdeckte“ die amerikanische Integrationstheorie die gleiche Strategie für Europa und prägte dafür den unpoetischen Begriff „incrementalism“.7

Dennoch wird die beim ASEAN-Gipfel im November 2007 in Singapur zur Unterzeichnung anstehende ASEAN-Charta, die Ong Keng Yong ohne Zögern als „Verfassungsrahmen“ bezeichnet, vermutlich eher in Kraft treten als der europäische Reformvertrag, der nach dem Scheitern des europäischen Verfassungsentwurfs nicht mehr als Verfassung bezeichnet werden darf. Das mag sich daraus erklären, dass ASEAN mit einem sehr viel schlankeren institutionellen Überbau auskommt als die EU, insbesondere ohne supranationale Kommission wie die Brüsseler. Die ASEAN-Charta begnügt sich mit einem Ständigen Ausschuss der Vertreter der Mitgliedstaaten in Jakarta, vergleichbar mit dem COREPER der EU in Brüssel, und einem Mandat an den Generalsekretär, die Implementierung von ASEAN-Vereinbarungen und Entscheidungen zu überwachen. Bedeutet der kleinere institutionelle Überbau, dass funktionale Integration und Gemeinschaftsbildung in Asien geringeres Potenzial haben als in Europa? Diese – in Europa verbreitete – Annahme wäre voreilig. Sicher ist, dass Asien eine andere Sequenz von Wirtschaftsintegration und neofunktionalistischem Institutionenbau aufweist als Europa. Schon 1997 erreichte der Anteil des intraregionalen Handels am gesamten Außenhandel aller Staaten in Ost- und Südostasien 51 Prozent, überholte damit die 45-Prozent-Marke der NAFTA und kam in Reichweite der 62 Prozent der EU. Asiens Integration nahm ihren Anfang mit dem klassischen Muster des Funktionalismus, nämlich unternehmerisch getriebenen Handels- und Kapitalströmen auch über Zollgrenzen hinweg.8 Jean Monnets Europa musste dagegen in neofunktionalistischer Strategie mit dem Bau supranationaler Institutionen beginnen, bevor die Handelsströme der europäischen Mitgliedstaaten schließlich zu zwei Dritteln in das jahrzehntelang vorbereitete institutionelle Bett von Zoll-union, Binnenmarkt und Währungsunion flossen. Dieser Unterschied ist kein Zeichen von Schwäche des asiatischen Modells.

Das Interesse an der Schaffung institutioneller Strukturen im Wirtschaftsbereich wurde in Asien erst durch die Asien-Krise 1997 geweckt. Haruhiko Kuroda gehörte zu den Urhebern der Chiang-Mai-Initiative zur währungspolitischen Zusammenarbeit, mit der die ASEAN+3 auf die plötzlichen massiven Abflüsse internationalen Kapitals reagierte. Sie erinnerte an die zahlreichen neofunktionalistischen „spill-overs“, durch die Europa sich aus jeder Krise zu einer höheren institutionalisierten Integrationsstufe zusammenfand. Wenn man heute die enormen Währungsreserven Chinas und Japans addiert, haben die Swaps, die beide Länder den anderen ASEAN+3-Ländern zur Verfügung stellen, ein Potenzial, das die Ressourcen des IWF weit in den Schatten stellt. Initiativen zur Schaffung eines „Asian Bond Market“ als Mittel zur Kanalisierung asiatischer Ersparnisse in asiatische Investitionen folgten9 und werden kontinuierlich vertieft.

Haruhiko Kuroda beschreibt in wohl abgewogenen Worten den Horizont vorausschauender Kooperation auf dem Gebiet der Finanz- und Währungspolitik in Asien. Die Kürze und besonders vorsichtige Formulierung seines Absatzes über einen „gemeinsamen Währungskorb“ für die ASEAN oder ASEAN+3, im letzteren Fall also einschließlich Japans und Chinas, ist nach dem Aufsehen, das sein Vorschlag eines ACU nach dem Muster des europäischen ECU im vergangenen Jahr unter westlichen Beobachtern erregte,10 verständlich. Aber man sollte zwischen den Zeilen lesen. Kuroda bemerkt, dass Asien anders als Europa im Vorfeld der Währungsunion keine Ankerwährung wie die Deutsche Mark habe. Das sollte jedoch nicht als Absage an ein eigenes Modell asiatischer Währungsintegration missverstanden werden. Diplomatisch unausgesprochen lässt er, dass Asien schon seit einigen Jahren nicht nur eine, sondern zwei Ankerwährungen hat, nämlich die chinesische und die japanische. Eine gemeinsame Währung braucht keine Einheitswährung wie der Euro unter Aufgabe der nationalen Währungen zu sein. Sie kann sich auch auf einen Korb mehrerer Ankerwährungen stützen, falls die Konkurrenz politischen Prestiges, die man ja auch aus der Vorgeschichte der europäischen Währungsunion kennt, überwunden werden kann.

Dass sich zwischen Yen und Renminbi inzwischen bemerkenswerte Wechselkursstabilität entwickelt hat und sich beide Währungen zu Dollar und Euro eher parallel bewegen, hat angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung der beiden Länder (China ist inzwischen Japans wichtigster Handelspartner, noch vor den USA) durchaus funktionale Berechtigung. Nicht nur japanische Ökonomen wie Kuroda denken seit Jahren über asiatische Währungsintegration nach, sondern auch chinesische, und sie werden darin von dem amerikanischen Vater der Theorie der „optimal currency areas“, Robert Mundell, bestärkt. Dieser antwortete auf einer Konferenz der Universität Peking zum Thema „Asian Economic Cooperation in the New Millenium“ im Mai 2002 auf die rhetorische Frage, ob Asien eine gemeinsame Währung brauche: „My answer is yes.“11

II. Balance of Power

Des Risikos von Großmachtrivalitäten sind sich die Vordenker asiatischer Gemeinschaftsbildung durchaus bewusst. Ong Keng Yong räumt ein, dass China vielerorts trotz seiner Doktrin des „friedlichen Aufstiegs“ als potenzielle Bedrohung seiner Nachbarn wahrgenommen wird. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass China sich seinerseits als Ziel einer Eindämmung durch Japan, Südkorea und die neuerdings zum engen Partner der USA gewordene Mongolei sehen könnte. Qian Qichen setzt dem ein chinesisches Plädoyer für die Prinzipien der Gleichbehandlung und gegenseitigen Achtung entgegen. Mit der Einbeziehung Indiens, Australiens und Neuseelands in die EAS 2005 in Kuala Lumpur kam die ASEAN in japanischer Perzeption Japan zulasten Chinas entgegen. Der im September 2007 zurückgetretene Premierminister Shinzo Abe legte besonderen Wert auf den strategischen Dialog Japans, Indiens, Australiens und der USA als Wertegemeinschaft. Yoshibumi Wakamiya macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass diese Strategie wie eine Eindämmung Chinas wirken konnte und deshalb in Japan keine ungeteilte Zustimmung fand. Für die ASEAN mag es sich schlichter darum gehandelt haben, chinesisch-japanische Rivalitäten in ihrer Bedeutung zu relativieren und gleichzeitig selbst noch stärker ins geographische Zentrum asiatischer Gemeinschaftsbildung zu rücken.

III. Ideologische Gräben?

Manche westlichen Beobachter sehen die im Entstehen begriffene asiatische Gemeinschaft als eine Gemeinschaft von Demokratien, die die „autoritäre Modernität“ der Supermacht China ideologisch herausfordert, und zwar unter Inkaufnahme militärischen Konflikts.12 Wie Ong Keng Yong darlegt, ist die ASEAN, die Stifterin der asiatischen Regionalorganisationen ARF, ASEAN+3 und EAS, jedoch eine erklärt „nichtideologische“ Gemeinschaft.

Bezeichnenderweise enthielt sich Indien, die größte Demokratie der Welt, jeder Sanktion gegenüber Myanmar in Reaktion auf die gewaltsame Unterdrückung der Demonstrationen durch die Junta im September/Oktober 2007. Es konkurriert nachbarschaftlich mit China um strategischen Einfluss in Myanmar. China mahnte die Junta zur Mäßigung. Von indischen Mahnungen wurde nichts bekannt. Umgekehrt fühlt Indien sich, wie Kuldeep Mathur hervorhebt, durch Chinas wirtschaftliche Dynamik entwicklungspolitisch herausgefordert. Man ist sich bewusst, dass selbst eine so bewährte Demokratie wie Indien nicht auf Dauer sozial benachteiligte Bevölkerungsteile des überkommenen Kastensystems von Wohlstand und politischer Partizipation ausschließen kann.

Die Demokratisierung Asiens ist ebenso wie die Europas ein langfristiger Prozess.13 Er hat in den vergangenen Jahrzehnten erstaunliche Fortschritte gemacht, und zwar mit der von Xun Zi empfohlenen Häufung kleiner Schritte auch in China.14 IV. Asymmetrisch überlappende Organisationen

Niemand plant in Asien einen supranationalen Superstaat. Man schafft eine konkret problemlösende Politikkooperation nach der anderen, zur Förderung des Freihandels, des Technologietransfers, der Ressourcenerschließung, des Umweltschutzes, der Verkehrsverbindungen, der Konfliktprävention, der Nichtverbreitung von Atomwaffen, der Vertrauensbildung, der Terrorismusbekämpfung usw. In der amerikanischen Integrationstheorie der siebziger Jahre nannte man das „asymmetrical overlaps“ funktionaler Organisationen. Die politische Handlungsfähigkeit und Dynamik dieser Organisationen im heutigen Asien sind sehr unterschiedlich,15 aber wie im Frühstadium der Integration Europas trägt auch hier die organisatorische Differenziertheit zum politischen Prozess der Gemeinschaftsbildung bei. Im Zentrum dieses Netzwerks weist die ASEAN die bisher größte Integrationstiefe, ASEAN+3 die bisher höchste Dichte an asymmetrischen Überlappungen auf. Die EAS werden zwar von Ong Keng Yong mit gewissem Understatement als eine Art asiatische G-8 ohne institutionelle Struktur bezeichnet, bergen aber als „Westerweiterung“ Ostasiens, die alle drei asiatischen Großmächte einschließt, höchste politische Dynamik und mit der Hälfte der Weltbevölkerung das größte ökonomische Potenzial. Kazuo Ogura und Yusuf Wanandi scheuen sich nicht, den Kreis der EAS schon jetzt als „Ostasiatische Gemeinschaft“ zu bezeichnen. Das geographische Bild erinnert in seiner Vielfalt an die Überlappungen von EWG, Benelux, EFTA, WEU, NATO, Europarat usw. im Westeuropa der sechziger Jahre. Natürlich sind ASEAN+3, wie Kazuo Ogura hervorhebt, noch um einige Jahrzehnte vom Integrationsstand der EU und der Eurozone entfernt.

V. Nationalismen oder Versöhnung früherer Kriegsgegner?

Wenn die theoretischen Gründerväter der europäischen Integration sehen könnten, welchen Stand wirtschaftlicher Verflechtung Asien heute erreicht hat, würden sie ihn als fortgeschrittenes Stadium eines Prozesses funktionaler Integration einordnen, d.h. der Förderung von Frieden und Wohlstand zwischen früher feindlichen Nationalstaaten durch gegenseitig vorteilhaften Austausch von Gütern, Informationen, Dienstleistungen und Kapital. Dennoch neigen europäische Skeptiker asiatischer Integration immer noch zu der Prognose, sie werde am Antagonismus japanischer und chinesischer Nationalismen scheitern. So wirkte es wie eine Hegelsche List der Geschichte, dass es ausgerechnet Shinzo Abe, Enkel Nobusuke Kishis und damit Erbe einer dem japanischen Nationalismus zugerechneten politischen Familie,16 überlassen blieb, das „Eis“ des politischen Teiles der wirtschaftlich so heißen chinesisch-japanischen Beziehungen zu brechen. Yoshibumi Wakamiya beschreibt die Genesis der japanischen Bereitschaft, sich der Last der japanischen Geschichte im Verhältnis zu China und Korea zu stellen. Bei Yasuo Fukuda, der im September 2007 die Nachfolge Shinzo Abes antrat, ist das Anliegen der Versöhnung früherer Kriegsgegner in guten Händen. Von ihm kann die Erneuerung der „Fukuda-Doktrin“ seines Vaters Takeo Fukuda erwartet werden, dem es in einer kurzen Amtszeit 1978 gelang, Japans Politik zu seinen asiatischen Nachbarn auf eine ethische Grundlage zu stellen.

VI. Ethische Gemeinsamkeiten einer asiatischen Gemeinschaft?

In Europa ist die Meinung verbreitet, Asien könne dem Beispiel Europas nicht folgen, weil ihm eine gemeinsame Kultur wie die judeo-christliche fehle. Man übersieht dabei mehr als zwei Jahrtausende transnationaler Diffusion großer Religionen, Philosophien und Literaturen in Asien, die Hans Küng dokumentiert. Kazuo Ogura knüpft an diese Ursprünge kultureller Gemeinsamkeit an. Er identifiziert sodann mit faszinierender Schärfe die durch den Kolonialismus in Asien verbreitete westliche Modernisierung als Ursache für den Verlust des Bewusstseins dieser Gemeinsamkeiten. In einem dritten Schritt schildert er die gegenwärtige Erneuerung der Kulturen Asiens einschließlich der autonomen asiatischen Quellen der so genannten westlichen Werte der Demokratie und Menschenrechte. Qian Qichen zitierte in seiner damaligen Funktion als chinesischer Außenminister bei einer Zusammenkunft mit Vertretern südostasiatischer Staaten in Peking im Jahr 1995 die konfuzianische Version der goldenen Regel: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, um Chinas Haltung gegenüber seinen Nachbarn zu erläutern.

Hans Küng sieht von der Warte des Theologen keinen Grund zur Selbstgefälligkeit der westlichen Wertegemeinschaft. Er identifiziert die Quellen der ethischen Grundnorm in allen Religionen und Kulturen. Dieses Weltethos kann und sollte Asien und den Westen in gleicher Weise orientieren.

1 Henrik Schmiegelow und Michèle Schmiegelow: The New Mercantilism in International Relations: The Case of France’s External Monetary Policy, International Organization, Frühjahr 1975, S. 367–391.

2 Robin Shepherd, Financial Times, 19.9.2007.

3 Michèle Schmiegelow: Religionen und Werte, Kennzeichen des Internationalen Systems?, Internationale Politik, Februar 2000, S. 24.

4 Morton White: Pragmatism and the American Mind, Essays in and Reviews in Philosophy and Intellectual History, Oxford 1973.

5 Henrik Schmiegelow und Michèle Schmiegelow: Strategic Pragmatism. Japanese Lessons in the Use of Economic Theory, New York 1989; Michèle Schmiegelow: „Asian Capitalism“, Explanation of Failure as well as Success?, Asien, Januar 1999, S. 54–62.

6 Ernst B. Haas: Technocracy, Pluralism and the New Europe, in Stephen R. Graubard (Hrsg.): A New Europe?, Boston 1963/1964, S. 64–65.

7 Ernst B. Haas: Beyond the Nation State: Functionalism and International Organization, Stanford 1964, S. 111, 407, 456 f.

8 Eisuke Sakakibara und Sharon Yamakawa: Market-Driven Regional Integration in East Asia, Paper prepared for the workshop on „Regional Economic Integration in a Global Framework“ sponsored by the European Central Bank and the People’s Bank of China , 22./239.2004 und Haruhiko Kurodas Beitrag in diesem Heft.

9 Henrik Schmiegelow: Asia’s International Order, Internationale Politik, Global Edition, Herbst 2007, S. 19.

10 Ebd., S. 19 f.

11 Robert Mundell: Prospects for an Asian Currency Area“, Journal of Asian Economics, 1/2004, S. 4.

12 Daniel Twining: The New Asian Order’s Challenge to China, Financial Times, 26.9.2007.

13 Michèle Schmiegelow (Hrsg.): Democracy in Asia, New York 1997.

14 Zhang Weiwei: Deng Xiao Ping’s Political Reform and ist Impact on China’s Democratization, in: Michèle Schmiegelow (Anm. 13), S. 275–296.

15 Vgl die Übersicht in Henrik Schmiegelow: How „Asian“ will Asia be in the 21st Century?, Asien, Juli 2006, S. 57.

16 Yoshibumi Wakamiya: The Postwar Conservative View of Asia, Tokio 1998, S. 40 ff.

17 Zusammen mit Helmut Schmidt begründete Takeo Fukuda den Interaction Council, der weltweit für eine ethische Ausrichtung der Politik eintritt.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2007, S. 8 - 16.

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