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01. Dez. 2005

Anleitung zur Drachenpflege

Vom Umgang des Westens mit dem schwierigen Partner China

High-Tech- und Entwicklungsland, kommunistisches Einparteienregime und Weltwirtschaftsmotor, kommende Supermacht und fragiler Gigant – China kann vieles gleichzeitig sein. Nur eines ist es nicht mehr: ein Staat, mit dem der Westen fahrlässig umgehen darf. China ist – mit Hilfe des Westens – zum größten Nutznießer der Globalisierung geworden. Es stellt heute eine Herausforderung dar, der koordiniert und strategisch durchdacht begegnet werden muss. Das geschieht derzeit zu wenig.

Am Rande des jüngsten Staatsbesuchs von Hu Jintao ärgerte sich eine junge Chinesin in der Berliner Zeitung darüber, dass die Deutschen ihr Land nur in „blöden Klischees“ wahrnähmen: Mao, Große Mauer und Schanghai. „Deutschland besteht ja auch nicht nur aus Hitler, Neuschwanstein und Mercedes“, kritisierte sie die altbekannten Klischees. Der Westen sieht in der Tat nur selten chinesische Realitäten, sondern macht sich seine eigenen Bilder vom „Reich der Mitte“ – je nach Neigung eher finstere, bedrohliche oder exotische, folkloristisch verklärte.

An China scheiden sich die Geister. Wie gebannt blickt die Welt auf ein Land, für dessen Entwicklung jeder Superlativ recht erscheint. Man weiß, dass China seit zwei Jahrzehnten nach offiziellen Angaben ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von rund neun Prozent verzeichnet. Man weiß, dass in China 75 Prozent der Weltspielzeugproduktion, 58 Prozent der Bekleidung und 29 Prozent aller Mobiltelefone produziert werden. Und in jedem Artikel über China – also auch in diesem – liest man, dass zwischen 60 und 70 Milliarden Dollar jährlich als ausländische Direktinvestitionen in das Land fließen. Wer China verpasst, so scheint es, verpasst die Zukunft. Tür und Tor sind weit geöffnet für kollektive Autosuggestion.

Zu einer realistischeren Sicht trägt auch die internationale Debatte wenig bei, denn sie zeichnet ebenfalls ein völlig disparates Bild: Den unaufhaltsamen Aufstieg des Landes zur nächsten Supermacht prognostizieren die einen, den drohenden Zusammenbruch beschwören die anderen. Und alle haben scheinbar gute Argumente: Diejenigen, die den nächsten militärischen Kon-flikt zwischen den USA und China voraussehen, ebenso wie diejenigen, die Chinas Bedeutung in einer multipolaren Welt und seine Beiträge zu multilateraler Kooperation herausstellen.

Welches China hätten Sie denn gerne?

Darf es vielleicht China als „Supermacht“ sein? Nichts leichter als das: Ein Land mit einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, seit 1964 Atommacht und mittlerweile aufgestiegen in den Kreis der Weltraummächte, mit zweistelligen Zuwachsraten seines Militärhaushalts, einer wachsenden regionalen Einflusszone in Südostasien und Zentralasien, aber auch einem hohen durchschnittlichen Wirtschaftswachstum, der zweitgrößten Devisenreserve und den höchsten ausländischen Direktinvestitionen – ein solches Land lässt sich wohl unschwer als kommende Supermacht apostrophieren.

Oder doch lieber „China vor dem Zusammenbruch“? Auch das ist nicht schwer: Kaum ein Land hat so viele innenpolitische Probleme in solchen Dimensionen zu bewältigen wie die Volksrepublik China. Hier zeigt sich ein ganz anderes China-Bild. Superlative gibt es auch hier zu vermelden: Gewaltige regionale Disparitäten zwischen Küstenregionen und Binnenland, zwischen 150 und 200 Millionen Wanderarbeiter, 100 Millionen Ökologieflüchtlinge, ein potenzielles Arbeitslosenheer von je nach Schätzung zwischen 40 und 200 Millionen, unrentable Staatsbetriebe und ein marodes Bankensystem, das auf bis zu 40 Prozent faulen Krediten sitzt, gewaltige Gesundheitsprobleme von SARS bis zur dramatisch steigenden AIDS-Durchseuchung in einzelnen Provinzen. Aus dieser Perspektive scheint der Kollaps nur eine Frage der Zeit.

Oder ziehen Sie das Bild von China als „Hightech-Macht“ vor? Aber gerne: Mit 330 Millionen verkauften Mobiltelefonen, 22 Millionen PCs und einer Internetnutzung, die von 620 000 Nutzern im Jahr 1997 auf 94 Millionen im Jahr 2004 angestiegen ist, verfügt China über den mit Abstand am schnellsten wachsenden Hightech-Markt der Welt. Die Vermutung, dass bereits in wenigen Jahren die am häufigsten benutzte Sprache im Internet Chinesisch sein könnte, ist keineswegs abwegig. Und auch dass das Land seine eigenen Standards zur Kontrolle des World Wide Web in direkter Konkurrenz zu den USA entwickelt, liegt im Bereich des Möglichen. Es sind nicht nur die Glitzerfassaden von Schanghai, Shenzhen oder Hongkong, die diesen Eindruck verstärken. Chinesische Hightech-Unternehmen blicken längst nicht mehr nur auf ihren gewaltigen Binnenmarkt, sondern stellen sich in wachsendem Maße auf eine globale Präsenz ein. Die Übernahme der PC-Sparte von IBM durch Lenovo war nur ein erstes Signal in diese Richtung.

Kann man schließlich China noch als „Entwicklungsland“ sehen, wie das Land sich gerne selbst – zuletzt erfolgreich während seiner Beitrittsverhandlungen zur WTO – präsentiert? Selbstverständlich ist auch das möglich. Man muss nur bereit sein, vielleicht einmal 100 Kilometer nach Westen herauszufahren aus den Städten und Touristenzentren, und schon sind alle typischen Kennzeichen eines Entwicklungslands sichtbar: verarmte Dörfer, schlechte Straßen, keine Infrastruktur. Nach offiziellen Angaben der Weltbank leben in China immer noch 200 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze von einem Dollar pro Kopf und Tag.

China hat jedem etwas zu bieten. Wenden wir uns also den beiden entscheidenden Fragen zu: Was haben wir von dem Land innen- und außenpolitisch zu erwarten? Und wie sollten wir mit ihm umgehen?

Balancierte Widersprüche

China ist ein Land voller Widersprüche, die sich alle auf scheinbar wundersame Weise in einem labilen Gleichgewicht halten. Was aber hält dieses Land zusammen? Was sind die Gründe für das Funktionieren eines ganz unwahrscheinlichen Spagats: kommunistische Parteiherrschaft, „sozialistische Marktwirtschaft“ und eine sich in Teilen globalisierende Gesellschaft?

Immerhin ist die chinesische Gesellschaft alles andere als ruhig. Offiziell gemeldete 58 000 Fälle öffentlicher Proteste und Demonstrationen im Jahr 2003 und ein Anstieg auf 74 000 im Jahr 2004 belegen das wachsende Potenzial an Unmut und Protest. Die Lunte am Pulverfass sozialer Spannungen scheint bereits zu brennen. Wann die Balance der Widersprüche ins Wanken gerät und China erhebliche Stabilitätsprobleme entwickelt, scheint lediglich eine Frage der Zeit zu sein. Eines muss man aber in diesem Zusammenhang klar sehen: Sozialwissenschaftler sind nicht in der Lage zu prognostizieren, wie die Entwicklung Chinas weitergeht. Wir können bestenfalls in Möglichkeitsräumen denken und Szenarien entwickeln, die uns helfen, die künftige Entwicklung Chinas so zu sehen, dass wir von unliebsamen Überraschungen verschont bleiben.

Kann man wirklich davon ausgehen, dass Chinas wirtschaftliches Wachstum, wie es die letzten 20 Jahre zu beobachten war, fast in einem linearen Prozess so weitergehen wird? Die Widersprüche im Land, aber auch die zu erwartenden Grenzen des Wachstums, die vor allem im Bereich von Ressourcen- und Energieversorgung am schnellsten erreicht sein werden, lassen eine solche Prognose sehr unwahrscheinlich erscheinen. China muss deshalb nicht zwangsläufig zusammenbrechen. Aber dass die innenpolitischen Verwerfungen im Lande, im Verbund mit abgeschwächtem oder immer wieder krisenartig unterbrochenem Wachstum, Chinas Zukunft prägen könnten, erscheint aus heutiger Sicht einigermaßen wahrscheinlich.

Die strukturellen Voraussetzungen für erhebliche Stabilitätsprobleme sind also längst gegeben. Nur der Faktor Zeit lässt sich nicht kalkulieren: Es könnte morgen passieren, es könnte aber auch noch zwanzig Jahre unverändert gut gehen. Dieses Risiko ist der chinesischen Führung allerdings mindestens ebenso gut bekannt wie ausländischen Beobachtern. Wie aber schafft sie es seit fast drei Jahrzehnten, dieses riesige Land stabil zu halten?

Wer Chinas Führung beurteilen will, muss alles vergessen, was er jemals über kommunistische Parteiführungen gelernt hat. Das erscheint zunächst paradox, weil wir es nicht gewöhnt sind, kommunistische Führungen ob ihrer Effizienz zu loben. Die chinesische Führung allerdings verdient dieses Lob uneingeschränkt. Und sie hat Schritte gewagt, die man ausgerechnet nach den maoistischen Exzessen so sicherlich nicht erwartet hätte.

Die Ideologie als Legitimationsinstrument ist weitgehend verschwunden. Sie konnte von den Begründern der Reformpolitik relativ leicht durch eine gemeinsame Vision ersetzt werden, die alle chinesischen Eliten seit Mitte des 19. Jahrhunderts teilten: China „reich und stark“ zu machen und das Land an seinen angestammten Platz unter den Nationen zurückzuführen. Diese Politik verband sich mit der Einsicht, dass Stabilität und damit das Überleben der KP an der Macht nur durch ökonomische Leistung zu erreichen war. Heute sind pompöse Slogans und politische Schulungen im Nachbeten von sinnentleerten Phrasen weitgehend verschwunden, ersetzt durch den schlichten Satz Deng Xiaopings: Marktwirtschaft ist gut. Und der Vater der chinesischen Reformpolitik lieferte auch noch die Begründung für den Pragmatismus, der die chinesische Politik seit drei Jahrzehnten kennzeichnet: Versuch und Irrtum prägen seine politische Strategie. Sein Satz, es sei egal, ob eine Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache sie fange Mäuse, bringt Chinas Strategie knapp und knackig auf den Punkt. Was damals als flotter Spruch eines hohen Parteikaders gelten konnte, hat sich längst als Leitprinzip des chinesischen Entwicklungswegs entpuppt.

Mit dieser Strategie und dem ökonomischen Erfolg, der aus ihr resultierte, konnte die Kommunistische Partei eine neue Legitimitätsbasis finden. An der Parteispitze stehen mit Hu Jintao und Wen Jiabao Technokraten der so genannten vierten Führungsgeneration, die von gut ausgebildeten Ingenieuren und Naturwissenschaftlern und nicht mehr von Bewahrern der reinen Lehre umgeben sind. Headhunting-Methoden, um die besten Köpfe für offene Positionen zu finden, haben das alte Nomenklatura-System abgelöst.

Heute vergrößert sich zwar die Kluft zwischen Arm und Reich in China dramatisch, aber am Ende eines jeden Jahres geht es auch den ärmsten Bauern in Chinas Westen etwas besser als zu Beginn. Solange dieser Prozess anhält, werden es Oppositionsbewegungen in China schwer haben. Gerade die entstehende Mittelschicht hat im Falle politischer Unruhen am meisten zu verlieren. Und diejenigen, die dennoch Protest wagen, trifft die volle Härte der Kontroll- und Abschreckungspolitik, mit der in China Opposition bislang erfolgreich im Keim erstickt werden konnte. China hat sein Rechtssystem in den letzten Jahren zwar erheblich an westliche Standards angepasst; die Umsetzung dieser Gesetze folgt aber immer noch eigenen Regeln. Die Verhängung von drakonischen Strafen einschließlich der Todesstrafe für Vergehen, die bei uns im günstigsten Fall mit Bewährungsstrafen geahndet würden, gehören zu einer Strategie, jede Gefährdung des uneingeschränkten Machtanspruchs der Kommunistischen Partei durch Abschreckung zu verhindern. Bislang war diese Strategie erfolgreich. Eine Garantie kann es aber in Anbetracht steigenden sozialen Protests nicht geben. Immerhin profitiert die Kommunistische Partei auch von einer fehlenden Alternative. Versuche, oppositionelle Parteien zu gründen, wurden bislang rigoros unterdrückt. Und wenn die chinesische Regierung vor etwas keine Angst haben muss, dann ist dies die weltfremde, schwache und in sich total zerstrittene chinesische Demokratiebewegung im Exil.

Chinas strategische Ambitionen

Nirgendwo lässt sich der pragmatische Grundansatz chinesischer Politik besser nachzeichnen als in der Außenpolitik des Landes. Chinesische Politiker kalkulieren sehr genau, wie sie mit ihren internationalen Partnern umgehen. Und sie nutzen die ganze Palette der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten: zurückhaltend und mit dosiertem Druck gegenüber den USA, forsch und provozierend gegenüber Japan, kooperativ und einladend gegen-über Europa, partnerschaftlich, aber zuweilen auch dominant gegenüber ihren südostasiatischen Anrainerstaaten.

Pragmatismus, Flexibilität und Lernfähigkeit bilden das Grundmuster des außenpolitischen Erfolgs von China. Dabei hat das Land in den letzten Jahren zwei beachtliche Wenden in seiner Außenpolitik vollzogen. Die erste Wende war eine Wende zum Multilateralismus. Die Abkehr von der alten, streng bilateral ausgerichteten Außenpolitik, die ihr Primat auf Selbständigkeit und Nichteinmischung richtete, konnte in dem Augenblick erfolgen, als China realisierte, dass Mitarbeit in multilateralen Institutionen keineswegs den Verlust von Einfluss bedeuten musste. Im Gegenteil: Allein durch sein Eigengewicht ist China in der Lage, erfolgreich Agenda-setting zu betreiben; mittlerweile hat es sogar begonnen, multilaterale Organisationen wie die Shanghai Cooperation Organization (SCO), in der sich im Jahr 2001 China, Russland und die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien zusammengeschlossen haben, als Instrument eigener Außenpolitik einzusetzen. Als begeisterten Multilateralisten im europäischen Sinne darf man China deshalb jedoch nicht gleich missverstehen. Das Land betreibt die Fortsetzung nationalstaatlicher Interessenpolitik lediglich mit effizienteren Mitteln.

Die zweite Wende ist eine globale Wende im besten Sinne. Der wachsende Bedarf an Rohstoffen, Energie und Nahrungsmitteln hat dazu geführt, dass Vertreter der chinesischen Regierung, aber auch zunehmend Abgesandte chinesischer Unternehmen ihre Präsenz in Lateinamerika und Afrika auf Konkurrenzniveau zum Westen gesteigert haben. Verstärkte Reisediplomatie, regelmäßige Handelsdelegationen und intensivierter wirtschaftlicher Austausch verdeutlichen, dass Chinas Aufstieg in allen Weltregionen Spuren hinterlässt. Umso mehr stellt sich die Frage, wie mit diesem Aufstieg aus westlicher Sicht umzugehen ist.

Westliche Fehlwahrnehmungen

Der Westen ist schlecht aufgestellt, um diesem Aufstieg Chinas zu begegnen. Nirgendwo schlagen die beschriebenen Fehleinschätzungen Chinas stärker zu Buche als in unserem strategischen Umgang mit dem Land. Auf der Ebene der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China und bei Problemen der Koordinierung westlicher China-Politik treten diese Probleme besonders augenscheinlich zu Tage.

Strategische Fehlwahrnehmungen kommen uns mittlerweile teuer zu stehen. Fast drei Jahrzehnte lang hat der Westen China eigentlich nur als Markt wahrgenommen. Wer nicht rechtzeitig dabei war, um sich ein möglichst großes Stück vom Kuchen zu sichern, hatte einen Fehler gemacht. China schien alles zu brauchen, was wir haben: Investitionen, Technologie, Ausbildungsstandards und Managementmethoden. China hat aber sehr schnell gelernt und auch in dieser Hinsicht die kleineren ostasiatischen Vorläufer erfolgreich nachgeahmt – allerdings mit erheblich größeren Potenzialen.

Erst allmählich begreifen wir, dass China sich vom Markt zum Wettbewerber – zunächst in China selbst, in wachsendem Maße aber auch global, und damit auf unseren eigenen Märkten –, weiterentwickelt hat. Erste, in Einzelfällen auch schon erfolgreiche Übernahmeversuche amerikanischer Konzerne, erste (natürlich noch belächelte) Automodelle auf der Frankfurter Automesse – die Signale für Chinas globale Wettbewerbsfähigkeit mehren sich. Und größer könnte der Gegensatz gar nicht sein: Während der Westen immer noch verklärt auf die ungeahnten Möglichkeiten des chinesischen Marktes starrt und sich mit Zugeständnissen überschlägt, um auf diesem Markt Fuß fassen zu können, bleiben Chinesen berechnende Partner: Unternehmer und Politiker verstehen es gleichermaßen, die Unfähigkeit ihrer westlichen Gegenüber, mit einem nüchternen, klaren Blick auf China zu schauen, radikal zu ihrem Vorteil zu nutzen. Viele gerade an Hochtechnologie orientierte Mittelständler haben das in bitteren Lektionen gelernt und teuer bezahlt: China ist alles andere als ein einfacher Partner. In China, so beweisen viele Erfahrungen westlicher Unternehmer, gilt eine einfache Devise: Geistiges Eigentum ist Raubgut im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Natürlich hat China im Rahmen seines WTO-Beitritts die entsprechenden Gesetze geschaffen. Aber mit ihrer Umsetzung lässt sich die chinesische Regierung Zeit – nicht aus Unfähigkeit, sondern aus Kalkül. Chinesische Unternehmen müssen in kürzester Zeit global wettbewerbsfähig werden. Das geht am schnellsten und effektivsten mit westlicher Technologie und westlichem Kapital. Die verzögerte Umsetzung der Gesetze zum Schutz geistigen Eigentums schafft die Lücke, um den Rückstand ohne Zeitverlust und Kapitalaufwand zu schließen. Mit solchen Methoden hat man es in China meisterhaft verstanden, den Westen zu nutzen, um den Westen zu schlagen! Während die OECD prognostiziert, dass China spätestens 2008 Deutschland als Exportweltmeister ablösen wird, verkennt man nur zu leicht, wer eigentlich hinter diesem Erfolg steckt: 55 Prozent der Exporte Chinas gehen auf das Konto von Auslandsgesellschaften, die allerdings nur 13 Prozent am chinesischen Binnenmarkt halten.

China ist der Nutznießer dieser Politik. Und seine Führung kann sich darauf verlassen, dass dieser Zustand noch geraume Zeit anhalten wird. Der Grund liegt in einem ausgeprägten Mangel an Koordination zwischen Chinas Partnern im Westen, der sich auf alle Handlungsebenen bezieht.

Dass Unternehmer miteinander konkurrieren, ist normal. Aber schon Unternehmensverbände erweisen sich als unwillig, ihre jeweiligen China-Interessen zu koordinieren. Natürlich ist es verständlich, dass die Konkurrenz auf dem chinesischen Markt dem entgegensteht, aber letztlich verschlechtern sich Wettbewerbsituationen, wenn die chinesischen Partner Verhandlungsvorteile aus mangelnder Abstimmung ziehen können. Nicht anders verhält es sich auf staatlicher Ebene. Seit 1993 verweist die EU stolz auf ihre China-Strategie, die sie mittlerweile zweimal fortgeschrieben hat. In der Realität zeigt sich jedoch, dass europäische China-Politik nicht einmal im Ansatz koordiniert ist. Wenn Hu Jintao Europa besucht, arbeiten britische Think-Tanks im Auftrag der Regierung an der Entwicklung eines „China Compact“. Im Berlin weiß man davon nichts, richtet aber gleichzeitig ein eigenes „deutsch-chinesisches Dialogforum“ ein, um die Verbesserung bilateraler Beziehungen zu diskutieren. Was wiederum den Briten verborgen bleibt. Sieht so „Kooperation“ aus? Aus chinesischer Sicht gilt das altbekannte Diktum Henry Kissingers: Wen soll man anrufen, wenn man Europa anrufen möchte? Brüssel – oder doch besser London, Paris und Berlin? Auch auf dieser Ebene versteht es die Regierung in Peking meisterhaft, ihre wirtschaftlichen Potenziale so einzusetzen, dass diejenigen, die China entgegenkommen, belohnt und die Kritiker entsprechend bestraft werden.

In keinem Bereich zeigt sich der Mangel an Koordination allerdings stärker als im transatlantischen Verhältnis, wo China immer mehr zu einem Thema mit Belastungscharakter wird. Die Debatte um die Aufhebung des Waffenembargos hat es zu Tage gefördert: Transatlantischen Beziehungen fehlt es fundamental an Vertrauen und Konsens. Das Symbol, das die deutsche und französische Regierung an China senden wollten, war weder innerhalb Europas konsensfähig noch transatlantisch glaubwürdig zu vermitteln. Ob aus dem transatlantischen Dialog zu China, der jetzt in ersten Ansätzen begonnen hat, auch eine Übereinstimmung in wesentlichen Fragen des Umgangs mit dem friedlichen Aufstieg Chinas zur Weltmacht werden wird, muss aus heutiger Sicht bezweifelt werden.

Mantra Demokratie und Menschenrechte

Wie aber lässt sich der Drache, dessen Erwachen Napoleon einst beschwor, von uns zähmen? Die Antwort ist einfach: gar nicht!

Das müssen auch westliche Kritiker der Menschenrechtssituation in China einsehen. Der politischen Führung geht es aus einsichtigen Gründen nicht um Demokratie, sondern um Stabilität. Was sie wirklich umtreibt, ist die Angst, dass ihr 1,3-Milliarden-Einwohner-Land plötzlich in unkontrollierbarem Chaos versinken könnte. Deshalb hat für die Technokraten der KP-Führung oberste Priorität, alle Zügel fest in der Hand zu halten und jedes Aufmucken der Bevölkerung hart zu unterbinden. Und: Ob eine längere Phase unsicherer Transformation im strategischen Interesse des Westens wäre, darf getrost bezweifelt werden. Die enge Einbindung Chinas in den Weltmarkt und multilaterale Kooperationen würden, falls im Reich der Mitte eine Zeit der Wirren anbrechen sollte, auch den Westen in Mitleidenschaft ziehen.

Chinas Menschenrechtssituation hat sich in den letzten Jahren, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt verbessert. Entsprechende Ermahnungen gehören folglich zum Ritual jedes Staatsbesuchs. Unbestritten bleibt es wichtig, in Fragen der Verbesserung von Menschenrechten den Dialog mit China zu suchen. Aber drei Gesichtspunkte sind von entscheidender Bedeutung:

  1. Unternehmen haben nicht primär die Aufgabe, Menschenrechte zu fördern, sondern Geschäfte zu machen. Das Junktim zwischen Wirtschaft und Menschenrechten hat nur dann einen Sinn, wenn man tatsächlich bereit ist, auf eine langfristige Strategie allmählicher Verbesserung, auf das alte Prinzip „Wandel durch Handel“ zu setzen. Doch da die westlichen Länder in Peking als Konkurrenten antreten und sich dementsprechend gegeneinander ausspielen lassen, ist ihre Verhandlungsposition in dieser Frage relativ schwach.
  2. Politiker folgen den Mahnritualen häufig nur aus innenpolitischen Überlegungen. Wenn der amerikanische Präsident Mitte November für Religionsfreiheit in China plädierte, hat er seine innenpolitische Klientel in Kansas ebenso im Auge wie der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, der in Peking mit Blick auf seine eigene Partei Menschenrechte ansprach (übrigens nur, um sich eine entsprechende Gegenrede seines chinesischen Amtskollegen einzuhandeln). Die chinesische Führung hat die Spielregeln schon lange durchschaut, lässt sich kaum noch beeindrucken und erduldet die gebetsmühlenartigen Ermahnungen in großer Gemütsruhe.
  3. China ist längst zu einflussreich, aber auch zu geschickt in der Nutzung unterschiedlicher westlicher Interessen, um sich seine Politik von außen vorschreiben zu lassen. Wer die Menschenrechte in China verbessern will, sollte das nicht in öffentlichen Reden auf Marktplätzen tun. Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog bietet ein Beispiel, wie es unauffälliger, besser und nachhaltiger gehen kann.

Der Westen muss bereit sein, im Umgang mit China in langen Zeiträumen zu denken und auf evolutionäre Prozesse zu setzen. Die erfolgreichen Demokratisierungsprozesse in anderen ostasiatischen Ländern belegen, dass solche Strategien immer erfolgreicher sind als wortgewaltige Versuche, Politik mit der Brechstange zu betreiben.

China ist der mit Abstand größte Nutznießer der Globalisierung. Das Land hat in den letzten 30 Jahren alle Erwartungen übertroffen und damit eine Begeisterung geweckt, die harte Realitäten leicht überdeckt, vor allem diese eine: Chinas Erfolg ist in wesentlichen Teilen der finanziellen und technologischen Unterstützung des Westens geschuldet. Die Erkenntnis, dass der große Markt von heute der formidable Wettbewerber von morgen sein könnte, setzt sich bei uns nur langsam durch. Die Risiken, die das Land während seines bisherigen Aufstiegs angehäuft hat, sollten eigentlich vor Euphorie genauso bewahren wie vor überzogenen Befürchtungen. Beides ist aber nicht der Fall und begründet die Konfusion des Westens im Umgang mit China: Es fehlt an einem realistischen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen des Landes, es fehlt an Koordina-tion – was es China zu leicht macht, westliche Partner gegeneinander auszuspielen –, und es fehlt auf allen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsebenen an einem Konsens über gemeinsame Interessen, die man in (und mit) China verwirklichen möchte.

Dass Peking versucht, aus dieser Situation dauerhafte Vorteile zu ziehen, ist verständlich. Ein effektiver Umgang mit den Herausforderungen, die das Land dem Westen stellt, würde unsere Bereitschaft voraussetzen, europäisch und transatlantisch in einen überfälligen Dialog über China einzutreten. Davon kann heute nur in Ansätzen die Rede sein. Unabgesprochene Alleingänge und gnadenlose Konkurrenz um die Vergabe beeindruckender Großprojekte werden – wie bisher – nur eine Folge haben: China wird weiter den Westen benutzen, um seine globale Position zu verbessern.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 6 - 13.

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