Anleitung, die Russen zu verstehen
Der schwierige Spagat zwischen Glorifizierung und Dämonisierung
Die Frage, was Wladimir Putin will und wie ein konstruktiver Umgang mit Moskau möglich ist, beherrscht derzeit auch den Buchmarkt. Ist Russlands Präsident eine Gefahr für den Frieden in Europa oder, im Gegenteil, ein „Glücksfall“ für Russland, den ein böswilliger Westen in die Enge treibt? Und welche Rolle spielen die geschichtlichen Erfahrungen?
Es ist ein grundlegendes Dilemma deutscher Medien, auf das Gabriele Krone-Schmalz in ihrem Buch „Russland verstehen“ hinweist: Immer weniger Auslandskorrespondenten berichten vor Ort über Länder wie Russland oder die Ukraine. Das geht zu Lasten einer differenzierten Berichterstattung; es fehlen die Ressourcen, um ausführlich zu recherchieren und Entwicklungen von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Hinzu kommt, dass nicht wenige Journalisten dem Meinungsmainstream folgen und immer wieder das gleiche Bild reproduzieren, ohne es zu hinterfragen.
So weit, so richtig. Nur: Leider gehört Frau Krone-Schmalz selbst zu der Art von Journalisten, die sie kritisiert – nur von der anderen Seite. So blendet sie in ihrem neuen Buch Kritik an den Entwicklungen in Russland systematisch aus und sucht stattdessen die Schuldigen für die schlechten deutsch-russischen Beziehungen vornehmlich im Westen. Man mag Frau Krone-Schmalz zugute halten, dass ihre Vor-Ort-Erfahrungen lange her sind – Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre war sie ARD-Korrespondentin in Moskau – und dass sie die Entwicklungen unter Wladimir Putin deshalb aus der westeuropäischen Distanz beobachten muss. Trotzdem ist es unverständlich, wie einseitig sie den repressiven Charakter des Systems Putin, insbesondere gegenüber Medien, NGOs und Oppositionellen, ausblendet und die desaströse Wirtschaftspolitik des Präsidenten, die Rolle der Eliten und das Problem der Korruption ignoriert.
Das fängt bei Kleinigkeiten an, wenn sie etwa Putin mit dem Satz zitiert, dass der „Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg“ war. In Wahrheit hat Putin gesagt, dass der „Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts war“. Eine Nebensächlichkeit? Bemerkenswert ist es schon, dass Putin in diesem Zusammenhang nicht den Zweiten Weltkrieg erwähnt. Und auch das Wort „geopolitisch“ ist wichtig, da es auf Putins imperiales und staatliches Verständnis verweist und eben nicht auf die menschliche und gesellschaftliche Katastrophe.
Das setzt sich fort, wenn Frau Krone-Schmalz russische Argumentationsmuster übernimmt, ohne sie zu hinterfragen. Das trifft sowohl auf die so genannte aggressive NATO-Erweiterung zu als auch auf Entwicklungen auf der Krim und in der Ostukraine. Tatsächlich haben EU und NATO, anders als Krone-Schmalz suggeriert, niemals offensiv um die östlichen Nachbarn geworben. Und dank der Recherchen russischer Journalisten wissen wir inzwischen, dass man in Moskau bereits im Januar und im Februar 2014, also vor der Absetzung des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die Annexion der Krim systematisch vorbereitet hat.
Wenn es der Verteidigung der Politik des Kremls dienlich ist, vermeidet es die Autorin, Ross und Reiter zu nennen, und flüchtet sich in einigermaßen wolkige Formulierungen. So schreibt sie über die Auslandsrussen, die des Schutzes Putins bedürften, weil sie „von wem auch immer gequält und vertrieben werden“. Aber wo? Weder werden Russen im Baltikum „gequält“ noch wurden sie in der Ukraine diskriminiert.
Die Treffen des russischen Präsidenten und von führenden Regierungsvertretern mit Angehörigen der russischen Zivilgesellschaft im Jahr 2001 hält Frau Krone-Schmalz für positive Signale Putins an die Zivilgesellschaft, die vom Westen zu Unrecht nicht gebührend gewürdigt würden. Dass aber in der Folgezeit die Gesetze gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen systematisch verschärft wurden, erwähnt sie nicht. Auch kein Wort darüber, dass mit der Gesellschaftskammer ein staatliches Organ gegründet wurde, das eine handverlesene, staatlich organisierte Zivilgesellschaft schaffen soll. Dass im Zuge der Ukraine-Krise führende Vertreter der russischen Opposition und Zivilgesellschaft durch riesige Plakate in einer Moskauer Hauptstraße öffentlich als fünfte Kolonne des Westens stigmatisiert worden sind: aus Sicht der Autorin nicht der Rede wert.
Lupenreiner Glücksfall
Es ist fraglos berechtigt, die Fixierung deutscher Medien auf Putin zu kritisieren. Sie ist zugleich das Ergebnis der russischen Politik und einer Propaganda, die Putin zum Führer der Nation erhöht, der Russland stabilisiert und dem Westen Grenzen aufzeigt. Leider aber scheint Frau Krone-Schmalz dieser Propaganda ihrerseits aufzusitzen, wenn sie Putin als ein „Glück“ für Russland bezeichnet, als Präsidenten, der „sein Land nach vorne bringen möchte und bei der Versorgung nicht in erster Linie seine ‚Familie‘, seinen Clan, im Auge hat“.
Daran ist so viel richtig, dass Putin das Land in der Tat dank steigender Energiepreise nach den chaotischen Jelzin-Jahren stabilisiert hat – das ist ein echter Erfolg, den nicht nur die Russen anerkennen sollten.
Aber Putin ist kein ehrlicher Politiker, der seinem Land dient, sondern ein ehemaliger Geheimdienstagent, der die Macht und finanziellen Ressourcen der Sicherheitsdienste systematisch ausgebaut hat. Korruption bleibt auch unter ihm ein Systemmerkmal, seine „Clans“, die Petersburger und FSB-Vertreter, haben lukrative Posten in staatlichen Institutionen und Unternehmen erhalten. Und geradezu absurd erscheint die These der Autorin, dass es mit mehr vertrauensvoller Unterstützung von außen eventuell keine dritte Amtszeit Putins gegeben hätte, da Reformen erfolgreicher gewesen wären und sich kein Gefühl der Umzingelung entwickelt hätte.
Wo bleiben in diesem Buch die Bemühungen deutscher Politiker, bis zur Selbstaufgabe zu kooperieren und Russland zu integrieren? Wo bleiben die Modernisierungspartnerschaft oder die fast schon naiv anmutende Begeisterung der deutschen Wirtschaft und Politik für Präsident Medwedew, der doch rückblickend eher eine Marionette Putins war? Die Paranoia in Russlands Gesellschaft und Elite ist nicht das Ergebnis westlicher Politik, „aggressiver“ NATO- und EU-Erweiterungen. Sie ist das Resultat der systematischen Propaganda einer Moskauer Führung, die mangelnde Wirtschaftskompetenz mit dem Aufbau eines westlichen Feindbilds und damit der Bedienung von aus Sowjetzeiten stammenden Ängsten zu kompensieren sucht.
Wer Russland wirklich verstehen will, der sollte zu Swetlana Alexijewitschs Buch „Secondhand-Zeit“ greifen. Über mehrere Jahre hat die Autorin Menschen zu ihrer Familiengeschichte befragt, glühende Befürworter des Sowjetsystems ebenso wie Opfer des Stalinismus und deren Kinder. Das Buch zeigt mit einer erschütternden Intensität die Traumata dieser Gesellschaft, über die erst mit der Perestroika und der Öffnung Anfang der neunziger Jahre gesprochen werden konnte. Es zeigt, wie dominant Gewalt und Tod in der Familiengeschichte vieler Russen sind, aber auch, welche Bedeutung der Sieg im Zweiten Weltkrieg bis heute hat. Hier gewinnt Putins Satz von der „geopolitischen Katastrophe“ noch eine ganz andere Bedeutung: Für viele Russen war das Ende der Sowjetunion eine humanitäre und persönliche Katastrophe.
Das Scheitern der Sowjetunion an sich selbst, die Niederlage im Systemwettbewerb hat eine tiefe Identitätskrise der Gesellschaft verursacht. Diese versucht Putin zu überwinden: mit einem starken Staat, der Schaffung einer Eurasischen Wirtschaftsunion, mit nationalistischen, imperialen und sowjetischen Elementen. Dabei geht der Kreml systematisch gegen all die Menschen und Organisationen vor, die die Leidens- und Opfergeschichte des russischen Volkes aufarbeiten möchten – zu nennen sei hier in erster Linie Memorial. Das heißt, auch Putin instrumentalisiert Geschichte, lässt Stalin in neueren Schulbüchern als guten Manager erscheinen und verhindert damit jegliche Aufarbeitung. Wer seine eigene Geschichte und Traumata nicht aufarbeitet, wird diese immer mit sich tragen und ist manipulierbar für die Machtinteressen seiner Führungselite. Das ist eine der Lehren aus diesem Buch.
Traumatische Erfahrungen
Philipp Ther ist Preisträger der diesjährigen Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. In seinem Bestseller „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ beleuchtet er die Umbrüche im östlichen Europa aus heutiger Sicht – von Michael Gorbatschows Perestroika und der Solidarnosc-Bewegung in Polen über den Zusammenbruch der Sowjetunion bis zur Integration der ostmitteleuropäischen Staaten in NATO und EU. Bald wurde vom „Ende der Geschichte“ gesprochen, doch die Ukraine-Krise hat gezeigt, dass es ein solches Ende nicht gibt. Im Gegenteil, alle Hoffnungen auf eine Integration des „Ostens in den Westen“ sind verschwunden; die Russische Föderation als Nachfolgestaat der Sowjetunion ist eben kein demokratischer Rechtsstaat geworden, sondern ein hybrider, korrupter und autoritärer Staat.
In seiner lesenswerten und mit persönlichen Erlebnissen ergänzten Analyse kritisiert Ther den falschen Glauben an die Kräfte des Marktes und die von US-Ökonomen forcierte Big-bang-Privatisierung, die zu Massenverarmung und einer Erosion staatlicher Institutionen in Russland geführt hätten. Diese traumatischen Erfahrungen hätten einer kritischen Einstellung zu Demokratie und Liberalisierung Vorschub geleistet und den Aufstieg Wladimir Putins entscheidend begünstigt. Denn der habe dem Land als Antwort auf die chaotischen Zustände in den neunziger Jahren Stabilität und Wohlstand versprochen. Mit seiner autoritären Politik vom starken Staat reflektiere Putin die Bedürfnisse in der Gesellschaft.
Neben der Auflösung des sowjetischen Staates und dem Fehlen von Institutionen, die eine erfolgreiche Transformation hätten ermöglichen können, ist es das Defizit an Demokratie im östlichen Europa, das den Transformationsprozess behindert habe, so Ther. Boris Jelzin löste das Parlament 1993 auf und ließ es beschießen, als seine Gegner nicht nachgeben wollten. So entsteht aber keine Kompromisskultur, die für eine Demokratie unabdingbar ist.
Gleichzeitig können wir aus diesem Buch lernen, dass die unterschiedlichen Transformationspolitiken in der DDR, Ostmitteleuropa, Russland und der Ukraine zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Ukraine dem erfolgreichen Modell Polens folgen könnte, selbst wenn es eine EU-Beitrittsperspektive gäbe. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in der Ukraine sind völlig andere als im Polen der beginnenden neunziger Jahre. Nachdem man es in den zurückliegenden 25 Jahren nicht geschafft hat, einen funktionsfähigen Staat aufzubauen, könnte eine Stärkung der ukrainischen Identität dazu beitragen, dass das jetzt gelingt. Krieg und Gewalt bleiben allerdings eine schwere Hypothek für den Transformationsprozess.
Viele Erkenntnisse von Ther sind nicht wirklich neu; dennoch ist sein Versuch, die Geschichte im gesamten östlichen Europa vergleichend aufzuarbeiten und den Bogen auch zu den Gesellschaften Westeuropas zu schlagen, überaus lesenswert. Denn insbesondere mit Blick auf den Umbruch von 1989/91 fehlt die gemeinsame Erfahrung von Ost und West. Die Westeuropäer erlebten die Revolution im östlichen Europa meist nur vor dem Fernseher. Welche Opfer die Menschen im Osten gebracht haben, welchen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel sie erlebt haben, das können viele im Westen nicht nachvollziehen.
Die Ungleichbehandlung der „neuen“ Mitgliedstaaten nach der Erweiterung ließ eine Zwei-Klassen-EU entstehen. In der Einschätzung der „neuen“ östlichen Nachbarschaft und insbesondere der Entwicklungen in der Ukraine gibt es gravierende Unterschiede zwischen Ost und West.
Kooperation statt Dämonisierung
Und dann ist da noch das Verhältnis zwischen Russland und den USA. Angela E. Stent, die Grande Dame der amerikanischen Sowjetforschung, nimmt die Entwicklung der bilateralen Partnerschaft seit George H.W. Bush in den Blick. Ihr Fazit: Trotz Krisen wie auf dem Balkan oder Neustartversuchen wie Obamas Reset bleibt das Verhältnis durch Kontinuität gekennzeichnet. Dabei ist Russland für die USA weniger eine außenpolitische Priorität als es die USA für Russland sind.
Aus Washingtoner Sicht ist Russland vor allem wichtig im Hinblick auf seine Fähigkeit, zur Lösung internationaler Probleme beizutragen – oder sie zu behindern. Gleichzeitig ist die begrenzte Bedeutung Russlands für die USA – vor allem aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwäche – eine zentrale Quelle der Irritationen auf russischer Seite. Das Gefühl der Moskauer Führung, von den USA nicht auf Augenhöhe behandelt zu werden, konnte auch durch mehrere „Neustarts“ in den Beziehungen nicht beseitigt werden. Damit ist die amerikanische Politik produktiver Kooperation bei gleichzeitiger Akzeptanz bestehender Asymmetrien gescheitert.
Die unterschiedliche Wahrnehmung der Entwicklungen im postsowjetischen Russland spielt dabei eine zentrale Rolle. Während in den USA das Ende der Sowjetunion als Triumph der Freiheit und Demokratie interpretiert wird, war es für die Mehrheit der Russen eine menschliche und soziale Katastrophe. Die USA werden weiterhin als Rivale wahrgenommen, der seinen Triumph auskosten und Russland schwächen will. Auch wenn die USA Russland als absteigende Macht sehen, sollten sie die Bedeutung des Landes für die Sicherheit Europas und seine Rolle bei der Lösung internationaler Konflikte nicht unterschätzen. Stent zufolge haben die USA in den neunziger Jahren dabei versagt, Russland in die transatlantischen Strukturen zu integrieren. Nach 2000 fand man dann keinen konstruktiven Weg im Umgang mit dem erstarkten, wenn auch autoritären Russland Wladimir Putins.
Angela Stent plädiert dafür, dass sich Washington (wie auch bei anderen autoritären Staaten) stärker aus der russischen Innenpolitik heraushalten und sich auf konkrete Kooperationen in Bereichen von beiderseitigem Interesse konzentrieren sollte. Russland bleibt ein wichtiges Land auf der Weltbühne, mit einem hybriden politischen System, das enorme innenpolitische Herausforderungen zu meistern hat. Das sollte Washington akzeptieren, ohne die russische Führung zu dämonisieren.
Dr. Stefan Meister leitet im Robert Bosch-Zentrum des Forschungsinstituts der DGAP die Bereiche Osteuropa, Russlandund Zentralasien.
Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. München: C.H. Beck Verlag, 2015, 176 Seiten, 14,95 €
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Berlin: Berlin Hanser Verlag, 2013, 576 Seiten, 27,90 €
Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag, 2014, 432 Seiten, 26,95 €
Angela E. Stent: The Limits of Partnership: U.S.-Russian Relations in the Twenty-First Century. Princeton: Princeton University Press, 2014, 384 Seiten, 35,00 $
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 134-138