Angekündigte Apokalypse
Was uns bevorsteht und wie wir es vielleicht noch verhindern können
Der Klimawandel ist in vielerlei Hinsicht eine unterschätzte, bislang sogar weitgehend unbegriffene soziale Gefahr. Schon heute erleben wir gewaltsam ausgetragene Konflikte, die mit der Erderwärmung direkt oder indirekt zusammenhängen. Doch sind demokratische Gesellschaften überhaupt in der Lage, so radikal umzusteuern, wie es nötig wäre?
Beginnen wir mit einem Bericht aus der Zukunft, wenn die Klimaerwärmung um ein weiteres Grad vorangeschritten ist, sagen wir im Jahr 2018. „Es gab starke Stürme, und in den Regenwäldern fiel kein Regen. In den knochentrockenen Urwäldern in Borneo und Brasilien, Peru und Tansania, Florida und Sardinien wüteten Waldbrände von nie da gewesener Heftigkeit.
Neuguinea verzeichnete die schlimmste Dürre seit 100 Jahren, und Tausende verhungerten. Ostafrika erlebte die verheerendsten Überschwemmungen seit 50 Jahren – mitten in der Trockenzeit. Uganda war mehrere Tage von der Umwelt abgeschnitten, ein Großteil der Wüste im Norden stand unter Wasser. Mongolische Stammesangehörige erfroren, während in Tibet so viel Schnee fiel wie seit 50 Jahren nicht mehr. Im Wüstenstaat Kalifornien rissen Schlammlawinen Häuser von den Klippen. In Peru verlor an einem Küstenstreifen, an dem oft jahrelang keine Niederschläge fallen, durch Überflutungen eine Million Menschen ihr Dach über dem Kopf. Der Panamakanal hatte einen so niedrigen Wasserpegel, dass er für große Schiffe nicht mehr befahrbar war. Eisstürme legten Stromleitungen durch Neuengland und Quebec lahm, so dass Tausende wochenlang ohne Licht auskommen mussten. In Indonesien fiel die Kaffeeernte aus, in Uganda gingen die Baumwollpflanzen ein, im Ostpazifik brach der Fischfang zusammen. Aufgrund einer nie da gewesenen Erwärmung der Meere zogen sich die Abermilliarden winziger Algen, die den Korallen ihre Farbe verleihen, von den Riffen überall im Indischen und Pazifischen Ozean zurück und hinterließen die farblosen Skelette ihrer toten Wirte.“
Keine schönen Aussichten – aber wer würde ernsthaft glauben, dass so etwas irgendwann passieren könnte? Tatsächlich handelt es sich hier nicht um ein Zukunftsszenario. Alle aufgelisteten Ereignisse fielen in ein einziges Jahr der Vergangenheit, 1998, und hingen mit dem Klimaereignis El Niño zusammen.1 Sie waren mithin kein Ergebnis der Erderwärmung, obwohl man davon ausgeht, dass auch El Niño-Ereignisse in Zukunft wegen des Klimawandels häufiger auftreten werden. Die Ereignisse des Jahres 1998 zeigen vor allem eines: wie wenig sich die Menschen anscheinend von radikalen Veränderungen ihrer Überlebensumwelt beeindrucken lassen.
Wandel? Welcher Wandel?
„Shifting baselines“ – so nennen Umweltpsychologen das faszinierende Phänomen, dass Menschen immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den „natürlichen“ halten, der mit ihrer Lebens- und Erfahrungszeit zusammenfällt. Veränderungen der sozialen und physischen Umwelt werden nicht absolut wahrgenommen, sondern immer nur relativ zum eigenen Beobachterstandpunkt. So hat unlängst eine Gruppe von Ökologen drei Generationen von kalifornischen Fischern danach gefragt, wo aus ihrer Sicht welche Bestände zurückgegangen seien, welche Arten ihnen hauptsächlich ins Netz gegangen seien und was der größte Fang gewesen sei, den sie je an Bord gezogen hatten. Die jüngste Befragtengruppe war zwischen 15 und 30 Jahren alt, die mittlere 31 bis 54 Jahre, die dritte entsprechend älter als 54 Jahre.2 Zwar sagten 84 Prozent der Befragten, dass es einen Rückgang der Bestände insgesamt gebe, aber die Annahmen darüber, welche Fische wo nicht mehr vorkämen, fielen völlig unterschiedlich aus. So nannten die Fischer der ältesten Gruppe elf Arten, die verschwunden seien, die der mittleren Gruppe sieben, aber die Jüngsten nannten lediglich zwei Fischarten, die in ihren Fanggründen nicht mehr vorkämen. Derselbe Befund zeigte sich, als es um die Fischgründe ging. Von den jüngsten Befragten kam niemand mehr auf die Idee, dass man in Küstennähe überhaupt etwas fangen könnte, und deshalb hielt auch keiner diese Regionen für überfischt. Mit anderen Worten: In ihrem Referenzrahmen gab es in der Nähe der Küste überhaupt keine Fische.
Diese rapiden Veränderungen in der Wahrnehmung der Umwelt erklären, warum die meisten Menschen den Rückgang der Artenvielfalt ziemlich gelassen sehen: In ihrer eigenen Wahrnehmung verändert sich wenig, weil sie das Schwinden der Vielfalt von einem gleitenden Referenzpunkt aus betrachten. Solche Befunde sind für Ökologen ziemlich deprimierend, weil das Bewusstsein für einen Handlungsbedarf zum Schutz von Beständen, der wissenschaftlich mit Händen zu greifen ist, in der Alltagswahrnehmung mühsam vermittelt oder gar erst erzeugt werden muss.
Das Phänomen der Shifting baselines gleicht zwei Zügen, die auf parallelen Gleisen fahren und relativ zueinander stillzustehen scheinen. Es hat gravierende Folgen dafür, wie man Bedrohungen und Verluste wahrnimmt und bewertet, dafür also, was man für normal hält und was nicht. Die Shifting baselines steuern die Aufmerksamkeit für die Veränderung von Überlebensräumen und damit auch die Handlungsbereitschaft oft in fataler Weise.
Die Aufregung über all das, womit Anfang 2007 der Umweltrat der Vereinten Nationen die Öffentlichkeit und die Politik verstörte, war ein weiteres Beispiel dafür, dass Aufmerksamkeit nur schwer nachhaltig bewirtschaftet werden kann. Die Leute haben sich schnell beruhigt, unter anderem deswegen, weil klar wurde, dass die Folgen der Klimaerwärmung äußerst ungleich verteilt sein würden. Während die Länder des Südens künftig unter Dürren, Überschwemmungen oder Bodenverlusten zu leiden haben würden, können im Norden, in den reichen Ländern zumal, durchaus positive Effekte auftreten – für den Tourismus, die Landwirtschaft und die Industrie, sofern sie umwelttechnologisch engagiert ist. Während derlei Nachrichten zur Beruhigung beitrugen, erodierte im politischen Alltag jedes spontan motivierte Klimaengagement in der Ödnis der üblichen Argumente: die Arbeitsplätze! Die Autoindustrie! So erschien die Sache mit dem Klima als nicht einmal hinreichend schlimm, um auch nur ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen durchzusetzen.
Am Ende lässt sich resümieren, dass das Problembewusstsein gestiegen, die Veränderungsbereitschaft aber konstant geblieben ist. Auf der Handlungsebene folgt daraus: business as usual. Der Klimawandel ist in mancherlei Hinsicht eine unterschätzte, bislang sogar weitgehend unbegriffene soziale Gefahr. Gegenwärtig ist nicht einmal klar, ob demokratische Gesellschaften überhaupt in der Lage sind, jene Umsteuerungen in Gang zu setzen, welche die Abwendung der Gefahr bzw. die Anpassung an ihre Folgen zwingend erfordern. Das betrifft ebenso die wirtschaftlichen und sozialen Fragen, die aus dem doppelten Druck von Ressourcenverknappung einerseits und Emissionssteigerung andererseits resultieren. Etwa das brisante Thema der Generationenungerechtigkeit und alle Probleme, die mit Sicherheit und Gewalt verbunden sind. Schon heute lassen sich Gewaltkonflikte beschreiben, die mit dem Klimawandel direkt oder indirekt zusammenhängen: Klimakriege finden dort bereits statt, wo Staatlichkeit gescheitert ist und die Existenz privater Gewaltmärkte den Normalzustand darstellt. Jede Verschlechterung der Umweltbedingungen in solchen Regionen öffnet neue Räume für private und staatliche Gewaltunternehmer. Deshalb hören im Sudan, in Sierra Leone, in Somalia die Kriege nicht auf, und deshalb haben sie immer die Tendenz, über die jeweiligen Staatsgrenzen auszugreifen.
Aber auch jenseits von Kriegsgewalt schränken die Folgen des Klimawandels – Bodenerosion, Überschwemmungen, Trinkwassermangel, Stürme – Überlebensräume und -chancen ein und vertiefen bestehende Probleme. Die Asymmetrie zwischen begünstigten und benachteiligten Ländern wächst, und da Klimaveränderungen schwache Gesellschaften am stärksten treffen, wird die Gewalt die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen anwachsen lassen – sowohl die Wanderung innerhalb der Länder als auch die grenzüberschreitende Migration von Klimaflüchtlingen. Beides zieht weitere Gewalt nach sich. Solche grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen erreichen, wie die auf Teneriffa oder Lampedusa landenden Flüchtlinge und strandenden Leichen zeigen, die Inseln des Wohlstands und der Stabilität in Westeuropa und veranlassen dort die Politik zu einer Verschärfung ihrer Sicherheitsmaßnahmen. Das führt dann zu Strategien, die Grenzkonflikte nach außen zu verlagern, also die Flüchtlinge gar nicht erst aus Afrika herauszulassen und die Gewalt örtlichen Polizei- oder Militärkräften zu überantworten. Und die infolge der Klimaerwärmung bald zugänglichen Rohstoffvorkommen der Arktis öffnen eine weitere Bühne für Gewaltkonflikte – schon werden allenthalben Gebietsansprüche angemeldet und Hoheitsgebiete ausgeweitet. Auch der Georgien-Konflikt hat eine energiestrategische Komponente. Der Klimawandel wird also, um das Mindeste zu sagen, die Welt nicht sicherer machen; für viele Menschen wird das Leben erheblich unsicherer werden. Was kann man angesichts so beunruhigender Aussichten tun?
Szenario 1: Weiter wie bisher
Dieses Szenario sieht ein weiteres Wirtschaftswachstum vor, was die fortgesetzte Nutzung importierter fossiler Energien und anderer Rohstoffe erfordert. Eine solche Strategie nimmt in Kauf, dass Autobenzin immer mehr Biotreibstoffanteile beigemischt werden, um die Frist zu strecken, in der noch Erdöl verfügbar ist. Das baut wiederum darauf, dass Anbauflächen für Ölpflanzen erschlossen werden. In vielen Ländern Südamerikas und Asiens geschieht das bereits; nicht selten geht es mit gewalttätiger Landnahme und Vertreibung der ortsansässigen Bevölkerung einher. Im Zusammenhang der Hungeraufstände, die im Frühjahr 2008 in afrikanischen und mittelamerikanischen Großstädten ausbrachen, ist schlagend deutlich geworden, wie eng die Handlungsstrategien in einem Teil der Welt mit Folgen für einen anderen verbunden sind; eine Verflechtung, die wir als Globalisierung bezeichnen.
Weitermachen wie bisher setzt auch die wirtschafts- und außenpolitische Strategie voraus, zur mittelfristigen Versorgungssicherheit Abkommen und Verträge mit Staaten zu schließen, in denen weder Menschenrechte geachtet noch Umweltstandards eingehalten werden. Je knapper die Ressourcen, desto größer das politische Gewicht jener Staaten, die als Produzenten oder Lieferanten fossiler Rohstoffe fungieren können. Dieser Vorteil kann, wie der Fall Georgien zeigt, ein höchst brisanter sein. Denn wenn ein Staat rohstoffreich ist oder günstige Bedingungen für die Durchleitung von Rohstoffen aufweist, zugleich aber militärisch schwach ist, wächst seine Verwundbarkeit gegenüber mächtigeren Staaten und ihren geo- und ressourcenstrategischen Begehrlichkeiten. Das alles kann so lange als rational betrachtet werden, bis die Folgen des Klimawandels aufgrund ungebremst steigender Emissionen auch die vorerst wenig betroffenen Länder stärker in Mitleidenschaft ziehen – sei es durch Umweltfolgen im engeren Sinne oder durch die wirtschaftlichen Resonanzwellen, die durch Kriege und Konflikte in anderen Teilen der Welt, durch Terrorismus und durch wachsenden Migrationsdruck entstehen.
Aber für heute lebende Personen mittleren Alters, also die Kerngruppe der Funktionseliten, kann Weitermachen wie bisher alles in allem als rationalste Handlungsstrategie gelten. Zumal die Strategie keine moralischen Probleme aufwirft: Hier handelt mit dem Nationalstaat kein individueller, sondern ein repräsentativer Akteur, und in Handlungszusammenhängen zwischenstaatlicher Natur sind individuelle Verhaltenskategorien wie Selbstsucht oder Rücksichtslosigkeit irrelevant.
Würde man die Strategie des Weitermachen-wie-bisher von der Ebene der Weltgesellschaft auf die eines Individuums herunterdeklinieren, hätte man dagegen eine soziopathische Person vor Augen, die nicht das mindeste Problem damit hat, das 70-Fache aller anderen Personen zu verdienen und trotzdem in erheblichem Umfang deren Rohstoffe zu konsumieren, die deshalb das 15-Fache an Energie, Wasser und Nahrungsmitteln verbraucht und im Vergleich zu weniger begünstigten Personen das Neunfache an Schadstoffen wieder an die Umwelt abgibt. Diese soziopathische Person ist darüber hinaus kategorisch uninteressiert an den Lebensbedingungen ihrer Kinder und Enkel und nimmt bei all dem in Kauf, dass wegen ihr und ihresgleichen weltweit 852 Millionen Menschen Hunger leiden und über 20 Millionen auf der Flucht sind.
Da kollektive Akteure aber keinen Zurechnungen moralischer Art unterliegen, tritt Amoralität in der internationalen Politik kategorial gar nicht in Erscheinung. Anders gesagt: Solange man es in Handlungszusammenhängen nicht mit persönlichen Zurechnungen und Zuschreibungen zu tun hat, hat Moral keinerlei Handlungsrelevanz. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit, dass in den begünstigten Ländern eine andere Strategie als Weitermachen wie bisher gewählt wird, äußerst gering. Die Folgen liegen in einem unaufhaltsamen Anstieg der Energiekosten einerseits und dem ungebremsten Anstieg der klimawirksamen Emissionen andererseits, was sich konkret in eine erhebliche Gefährdung der ökonomischen und sozialen Fundamente der Demokratie übersetzen wird und den radikalen Abschied von der Perspektive bedeutet, dass man die Klimaerwärmung bei den als noch beherrschbar geltenden zwei Grad plus wird einbremsen können. Damit ist eine Entwicklung eröffnet, deren Folgen und Dynamik nach heutigem Erkenntnisstand kaum hochgerechnet werden können. Was Klimamodelle dazu nur andeuten, ist, dass der Unterschied von zwei zu etwa vier Grad plus nicht einen graduellen Anstieg von wetterbedingten Disparitäten bedeutet, sondern das Erdsystem insgesamt tangiert – wobei man sich damit zu konfrontieren hat, dass im Vergleich zu heute gänzlich andere Lebensbedingungen herrschen werden.
Szenario 2: Die gute Gesellschaft
Wem diese Aussicht aus Gründen der Generationengerechtigkeit oder der Überlebensrationalität inakzeptabel erscheint, wird mit dem Problem des Klimawandels auch aus Gründen der eigenen Identität anders umgehen müssen als bislang. Die Frage nach den Möglichkeiten des zukünftigen Überlebens ist also eine kulturelle Frage und als solche auf die Gestaltung der eigenen Gesellschaft zu beziehen. Man kann sie ausdifferenzieren: Kann eine Kultur langfristig erfolgreich sein, wenn sie auf der systematischen Aufzehrung von Ressourcen gründet? Kann sie überleben, wenn sie den systematischen Ausschluss von Folgegenerationen in Kauf nimmt?
Die Übersetzung des Klimaproblems in eine kulturelle Fragestellung bedeutet eine qualitative Entwicklungschance, die mit der Bearbeitung der Probleme zugleich auch die Wir-Identität der Gesellschaftsmitglieder erhöht. Dazu vier Beispiele: Norwegen investiert das Volksvermögen, das ihm aus den Energie-ressourcen zuwächst, in eine klimaschonende Energieversorgung und in Anlagen, die nach ethischen Kriterien ausgewählt werden. Die Schweiz weist das dichteste öffentliche Verkehrsnetz der Welt auf, obwohl ihre Ausgangslage dafür als Gebirgsland denkbar schwierig ist. Jeder Schweizer legt im Schnitt 47 Fahrten pro Jahr mit der Bahn zurück; der EU-Durchschnitt liegt bei 14,7. Estland garantiert den kostenlosen Internetzugang als Grundrecht. Die Vollversorgung mit Kommunikationschancen reduziert nicht nur die Bürokratie und schafft Potenziale für direktere Demokratieformen, sie ist auch zu einer Antriebsfeder der Modernisierung geworden, die gerade jüngere Gesellschaftsmitglieder anspricht. Die deutsche Bundesregierung hat sich im Jahr 2003 der militärischen Allianz gegen den Irak verweigert, unter anderem, indem auf die negative historische Rolle Deutschlands in den zwei größten Kriegen des 20. Jahrhunderts verwiesen wurde: ein praktisches Beispiel für Lernen aus der Geschichte.
Diese sachlich höchst unterschiedlichen politischen Entscheidungen weisen alle eine identitätspolitische Komponente auf. Sie beruhen auf der Selbstidentifizierung eines politischen Gemeinwesens, das nicht nur eine Entscheidung über ein Sachproblem fällt, sondern auch darüber, was es sein will. Und darin scheint mir etwas höchst Bedeutsames für die Frage des kulturellen Umgangs mit der Klimaerwärmung zu liegen: Denn die Frage, was nun wie zu tun ist, lässt sich überhaupt nicht verfolgen, ohne dass zunächst beantwortet würde, wie man eigentlich in der Gesellschaft, deren Teil man ist, in Zukunft leben will. Das rat- und transzendenzlose Verweilen im sinngebungsfreien Universum eines globalisierten Kapitalismus reicht zweifellos nicht hin, um diese Frage zu beantworten. Aber es ist auch eine Illusion zu glauben, Menschen würden anders mit der Welt umgehen, wenn man ihnen sagt, dass diese dann irgendwann einmal weniger gefährdet wäre als jetzt. So etwas funktioniert psychologisch nicht, weil die greifbaren Resultate der eigenen Anstrengungen ausbleiben und letztlich nur die Erfahrung des Verzichts bleibt. Es geht vielmehr um die Entwicklung eines kulturellen Projekts, das die Abkehr von der Leitkultur der Verschwendung mit all ihren Einschränkungen der Lebensqualität erlaubt und den Umbau der Lebenswelt als attraktiv erscheinen lässt. In diesem Licht würde zum Beispiel die ständige Steigerung von Mobilitätsanforderungen nicht als Fortschritt, sondern als eine Fehlentwicklung erkennbar, welche die Individuen genauso belastet wie ihre Umwelt. Die Voraussetzungen für ein solches kulturelles Projekt liegen im materiellen Reichtum, über den der Westen verfügt, und in der Verpflichtung, die solcher Reichtum in internationaler Perspektive impliziert. Mit anderen Worten: Der Klimawandel muss als Chance begriffen werden, Handlungsspielräume zu nutzen, die in ein oder zwei Jahrzehnten schon nicht mehr gegeben sein werden.
Prof. Dr. HARALD WELZER ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen und Autor von „Klimakriege“ (S.Fischer Verlag 2008).
Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 22 - 30