Unüberbrückbar ungleich
Warum Menschen zu Massenmördern werden
Wie entsteht Völkermord – sozialpsychologisch gesehen? Im Kern geht es um die Formierung einer Gemeinschaft der „Zugehörigen“, die auf einer radikalen Definition von Nicht-Zugehörigheit basiert. Ist einmal festgelegt, wer dazugehört und wer nicht, ist es nur noch eine graduelle Frage, was mit den aus der Gemeinschaft Ausgeschlossenen geschieht.
„Ich bin nicht der Unmensch, zu dem man mich macht. Ich bin das Opfer eines Fehlschlusses.“ Diese bemerkenswerte Selbsteinschätzung stammt von Adolf Eichmann, gewiss eine der groteskesten Figuren im Panorama der Völkermörder. Er hat sie in seinem Schlusswort im Jerusalemer Prozess formuliert. Wie alle der Verantwortlichen für das, was wir hier als Gesellschaftsverbrechen bezeichnen wollen, weist Eichmann mit Entschiedenheit zurück, dass er als Unmensch, also jenseits der moralischen Kategorien der menschlichen Gemeinschaft, gehandelt habe. Und das, obwohl doch seine rastlose Arbeit im Wesentlichen darin bestand, diejenigen systematisch umzubringen, die er und seinesgleichen aus dieser Gemeinschaft hinausdefiniert hatten. Das gegenmenschliche Projekt, dem er seine ganze Energie widmete, hatte ein Wertesystem etabliert, in dem es Gründe für den Massenmord gab, die den Tätern ohne weiteres einleuchteten.
Die zentralen Probleme der Be- und Verurteilung von Vernichtungstätern und ihren Verbrechen bestehen darin, dass erstens ein Referenzrahmen für die Beurteilung ihrer Taten herangezogen wird, der nicht in Kraft war, als sie ihre Taten begingen, und dass zweitens genozidalen Prozessen kein Masterplan zugrunde liegt – obgleich die extensive Gewalt nachträglich den Eindruck nahelegt, alles sei von langer Hand geplant gewesen. Dabei ist es die Gewalt selbst, die neue Möglichkeiten des Handelns eröffnet, neue Fakten schafft und, wie im Fall des Holocaust, Institutionen wie die industriellen Vernichtungslager entstehen lässt; Institutionen, an die ein paar Jahre zuvor nicht einmal die gedacht hätten, die sie später kommandierten.
Was bis heute nicht hinreichend verstanden ist, ist der Umstand, dass Gewalt zwar für die Opfer destruktiv ist, nicht aber für die Täter. Für sie ist sie ein konstruktiver Modus sozialen Handelns. Sie trennt Zugehörige von Ausgeschlossenen, Mächtige von Ohnmächtigen, erlaubt die Erweiterung von Handlungsspielräumen oder die Aneignung von Gütern. Diese konstruktive Dimension der Gewalt zeigt sich unter anderem daran, dass Gesellschaftsverbrechen den Tätern ganz ungeheuerliche Erweiterungen ihres persönlichen Handlungsspielraums eröffnen – woran es wohl liegt, dass kein genozidales Projekt bislang daran gescheitert ist, dass es zu Wenige gab, die bereit waren, es durchzuführen. Jeder Völkermord findet seine Täter.
Radikale Koordinatenverschiebung
Tatsächlich muss man Völkermorde nicht als die Exzesse von Grausamkeit verstehen, als die sie sich uns darstellen. Im Kern geht es stets um die Formierung einer Gemeinschaft der Zugehörigen, die auf einer radikalen Definition von Nicht-Zugehörigheit basiert. Einer Nicht-Zugehörigheit, die durch Gewalt zugleich demonstriert wie durchgesetzt wird. Deshalb bildete die Praxis der antijüdischen Politik in vielerlei Hinsicht das Zentrum der Entwicklungsdynamik der nationalsozialistischen Gesellschaft, ebenso wie die Gewalt in Jugoslawien definierte, wer zu wem gehörte oder in Vietnam bestimmte, wer zu den Guten und wer zu den Schlechten zählte: „If it’s dead and it’s Vietnamese, it’s Vietcong.“
In einem sozialen Gefüge muss lediglich eine einzige Koordinate verschoben werden, um eine völlig neue Wirklichkeit zu etablieren. Diese Koordinate heißt soziale Zugehörigkeit, und Gewalt ist das Mittel, sie zu verschieben. Die Verschiebung besteht in der radikalen Neudefinition dessen, wer zum Universum der allgemeinen Verbindlichkeit zu zählen ist und wer nicht. Eine solche radikale Koordinatenverschiebung finden wir nicht nur im Nationalsozialismus, wo sie rassentheoretisch, also (pseudo-)wissenschaftlich begründet wird, sondern auch in Ex-Jugoslawien und Ruanda, wo sie ethnisch begründet wird.
Die absolute Unterscheidung von Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen ist das gemeinsame Merkmal dieser ansonsten höchst unterschiedlichen massenmörderischen Gesellschaften – gepaart mit der phobischen Vorstellung, dass die einzige Lösung der bestehenden gesellschaftlichen Probleme in der vollständigen „Abschaffung“ der Nicht-Zugehörigen besteht. Diese Abschaffung kann zunächst räumlich gedacht werden wie im Madagaskar-Plan der Nazis oder in territorialer Separation wie in Ex-Jugoslawien, aber die mit dem Abschaffungsgedanken in die Welt gesetzte Ausgrenzungs-, Beraubungs- und Deportationspraxis und die mit ihr einhergehende Gewalt transformieren das, was anfangs als Verschiebung bzw. als „Säuberung“ gedacht war, mit erschreckender Regelhaftigkeit in die Auslöschung der Nicht-Zugehörigen.
Diese Transformation ist in der Definition von Zugehörigkeit selbst schon enthalten – es ist nach einer solchen Definition nämlich nur noch eine graduelle, keine prinzipielle Frage, wie mit den Nicht-Zugehörigen zu verfahren sei. So kann man mit dem Historiker Raul Hilberg formulieren, dass das Schicksal der europäischen Juden in dem Augenblick besiegelt war, als ein Beamter 1933 eine Definition dessen, wer „arisch“ war und wer nicht, in einer Verordnung niederlegte. In diesem Augenblick wird normativ wie juristisch exekutierbar, was zuvor in einem durch bürgerliches Recht kontrollier- und korrigierbaren Raum des rassistischen Ressentiments, der Ausgrenzungs- und Vernichtungswünsche schon existierte, aber nicht zur freien Entfaltung kommen konnte.
Die Definition schafft also zuallererst neue Möglichkeiten – ein Angebot an eine Majorität, sich auf Kosten einer Minorität sozial, emotional und sehr schnell auch materiell aufzuwerten. Sie hebt Bedürfnisse, die auch in anderen Gesellschaften existieren, aus dem Status des Wunsches in den des Realisierbaren. Mit dem definitorischen Akt wird die prinzipielle und unüberbrückbare Unterschiedlichkeit von Menschen Realität, die zuvor schon von den Rassen-biologen wissenschaftlich konstruiert worden war und die im sozialen Alltag in Vorurteil, Stereotyp und Ressentiment ohnehin schon, wenn auch diffus, existiert hatte. Die Ungeheuerlichkeit von genozidalen Projekten liegt in der gesellschaftlichen Umsetzung der Behauptung, dass Menschen radikal und unüberbrückbar ungleich seien, die in der Praxis der Ausgrenzung und Vernichtung unmittelbar und sinnfällig beglaubigt wird.
Welches Potenzial in der Verschiebung einer einzigen Koordinate von Sozialität steckt, wird daran deutlich, dass alle Institutionen, die schon vor 1933 bestanden hatten, eine funktionale Rolle im nationalsozialistischen Projekt spielen konnten – so als hätte sich für sie, die Reichsbahnbeamten, die Finanzamtsleiter, die Bankangestellten, die Psychiater, eigentlich nicht das Geringste geändert. „Wo immer man den Trennungsstrich der aktiven Teilnahme zu ziehen gedenkt“, schrieb Raul Hilberg, „stets stellte die Vernichtungsmaschinerie einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar.“
Auch in Ruanda, in Jugoslawien oder im Sudan bedurfte es nicht der Schaffung neuer Institutionen, um Massenmorde durchzuführen. Gesellschaftliche Institutionen- und Handlungsgefüge sind gleichsam Speicher von Potenzialen, die je nach dem definierten Ziel ganz unterschiedliche Wirklichkeiten hervorbringen können. Insofern kommt es sowohl bei der Erklärung für genozidale Prozesse wie bei der Suche nach Präventionsmöglichkeiten darauf an, die Potenziale zu identifizieren, die ohnehin für die Öffnung kollektiver und individueller Handlungsspielräume in die eine oder andere Richtung vorliegen.
Alles ist möglich
Gewalt ist sozial und historisch spezifisch, und zwar qualitativ wie quantitativ. Auch wenn in unterschiedlichen Gesellschaften analoge Mittel eingesetzt und analoge Bedürfnisse freigesetzt werden können, um eine Bereitschaft zum Töten zu schaffen, unterscheiden sich die Massenmorde von Kiew oder Auschwitz von denen, die in Bosnien oder Ruanda stattgefunden haben. Sie unterscheiden sich von anderen Formen der Gewalt, und zwar nicht nur von der in Friedenszeiten ausgeübten, sondern auch von der, die im Rahmen kriegerischer Konflikte ansonsten angewendet wird. Nicht jeder Krieg bringt Genozide, ethnische Säuberungen, systematische Massenmorde hervor. Obwohl Gewalt selbst Dynamiken freisetzt und Wirklichkeiten schafft, setzt sie doch nicht an sich ein bestimmtes Maß an Dynamik frei und schafft auch nicht dieselben Wirklichkeiten. Das müsste aber der Fall sein, wenn wir es mit einem Vorgang zu tun hätten, an dessen Anfang eine anthropologische Erklärung stünde.
Das Einzige, was an Entscheidungen von Menschen spezifisch anthropologisch ist, hat mit ihrer besonderen Existenzform zu tun – dass sie nämlich in ihrem Entwicklungs- und Handlungsraum nicht an artspezifische Instinkte und Lernbegrenzungen gebunden sind, wie sie für andere Tiere kennzeichnend sind. Menschen existieren in einem sozialen Universum, und genau deshalb sollte man tatsächlich alles für möglich halten. Es gibt keine natürliche oder auf sonstige Weise gezogene Grenze für menschliches Handeln, und wie die Kultur des Selbstmordattentats zeigt, gibt es sie nicht einmal dort, wo das Leben aufhört. Es ist soziologische Folklore zu behaupten, dass Menschen Jagdinstinkte entwickeln, sich zu Meuten zusammenrotten und Bluträusche erleben, und das dann mit der beeindruckenden Begründung zu versehen, dass das eben anthropologisch so sei oder dass die Menschen eliminatorische Wünsche hegen.
Gewalt hat historisch und sozial spezifische Formen und findet in ebenso spezifischen Kontexten der Sinngebung statt. Diese Kontexte unterliegen mit dem Fortgang der Gewalt selbst der Veränderung; die Technik des Tötens bleibt in diesem Prozess nicht dieselbe – sie wird verbessert, es entwickeln sich Routine, Know-how, man benutzt Handwerkszeug, Berufskleidung und führt Innovationen ein. Überdies stellen gemeinsam begangene Gewalttaten emotionale Bindungen zwischen den Tätern her, sie schaffen soziale Handlungsräume, sie bringen Erfahrungen und Lernprozesse mit sich, kurz: Sie sozialisieren. Alle diese Elemente sind konstruktive Bestandteile von Gewalt, und Gewalt überhaupt ist, darauf hat der Soziologe Heinrich Popitz hingewiesen, nichts, was sozialen Beziehungen und sozialem Handeln fremd und äußerlich wäre. Sie ist kein „Betriebsunfall sozialer Beziehungen und nicht lediglich ein Extremfall oder eine Ultima Ratio [...]. Gewalt ist in der Tat ‚ein Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie‘, eine Option menschlichen Handelns, die ständig präsent ist. Keine umfassende soziale Ordnung basiert auf der Prämisse der Gewaltlosigkeit.“
So beruht etwa das relativ geringe direkte Gewaltniveau in den westlichen Demokratien auf dem Vorhandensein eines staatlichen Gewaltmonopols – die soziale Ordnung beruht auf ausgelagerter Gewalt, die aber jederzeit aktiviert werden kann. Wie Gewalt nicht an sich destruktiv ist, sondern eine höchst effiziente Regelung sozialer Verkehrsformen sein kann, so ist Gewalt, wie geschildert, nicht an sich zerstörerisch: Sie ist es für die Opfer, aber nicht für die Täter. Je erfolgreicher und umfassender der Tötungsprozess wird, desto „begründeter“ wird, weshalb er einmal begonnen hatte: dass es zwei unüberbrückbar unterschiedliche Gruppen von Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen gibt, die in einem Verhältnis grundsätzlicher Feindschaft zueinander stehen, das nur durch die Vernichtung der einen durch die anderen aufgehoben werden kann. Und die fortschreitende Vernichtung der einen durch die anderen bestätigt als sich selbst schaffende Wirklichkeit, dass die ursprüngliche Vorstellung richtig war.
Weiche Faktoren, harte Folgen
Die Dynamik genozidaler Prozesse macht es ausgesprochen schwer, einen noch erfolgreichen Interventionszeitpunkt ex ante zu bestimmen. Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan hat in diesem Sinn 1999 in seinem Artikel „Two Concepts of Sovereignty“ den Begriff einer individuellen Souveränität in die Debatte gebracht, die vom Staat zu schützen sei und die das Konzept der humanitären Intervention auf das der Schutzverantwortung umstellt, die dann eine Intervention fordert, wenn die Sicherheit einer Bevölkerungsgruppe bedroht scheint (woraus dann das Konzept R2P/Responsibility to Protect entstanden ist).
Damit freilich ist das grundlegende Problem der Entscheidungsfindung für oder gegen Interventionen nicht gelöst. Natürlich, Interventionen werden nur beschlossen, wenn es plausibel erscheint, mit ihnen bestimmte Interessen zu realisieren. Nicht immer erfolgreich, wie zahlreiche verhängnisvoll verlaufene Interventionen zeigen. Interventionen weisen wie jede soziale Handlung Prozessdynamiken auf, die solange ein beständiges Nachjustieren der Interventionspolitik erfordern, wie der Prozess nicht abgeschlossen ist. Dabei entstehen Pfadabhängigkeiten negativer wie positiver Art. Was heißt das?
Schauen wir einmal auf die Referenzrahmen, innerhalb derer die maßgeblichen Akteure ihre Entscheidungen fällen, auf die impliziten wie expliziten Normen, von denen sie dabei geleitet werden und auf die psychologischen Variablen, die dabei eine Rolle spielen. Der Vietnam-Krieg etwa liefert ein fatales Beispiel dafür, wie Gruppendenken und Referenzrahmen, die an eigenen strategischen Optionen und militärischen Normen gebildet werden, in ein Desaster führen können. Ein Beispiel für einen Gewaltkonflikt, der durch die falschen Einschätzungen externer außenpolitischer Akteure eskaliert, liefert der Zerfallskrieg Jugoslawiens. Hier wurde unterschätzt, welche Sprengkraft der Nationalismus nach dem Kollaps der Sowjetunion und der damit einhergehenden Desorientierung und Konzeptlosigkeit in den ehemaligen Teilrepubliken haben würde. Ein anderes Beispiel liefert das „Mogadischu-Syndrom“ – im Rahmen einer Intervention in Somalia wurden 18 amerikanische UN-Soldaten getötet –, das als mitverantwortlich für das passive Verhalten des Sicherheitsrats beim Völkermord in Ruanda gilt. Eine solche Pfadabhängigkeit von Entscheidungsprozessen wirkt in beide Richtungen: wenn man versucht, andernorts gemachte Fehler zu vermeiden oder erfolgreiche Strategien andernorts wieder anzuwenden.
Solche gegenüber den von Historikern und Politikwissenschaftlern untersuchten Interventionsgründen als „weich“ erscheinende Faktoren der subjektiv-normativen Dimension von Entscheidungen für oder gegen Interventionen sind kaum erforscht. Sie verdienen aber Beachtung, weil es gerade unter veränderten außenpolitischen Konstellationen und normativen Paradigmen von erheblicher Bedeutung sein kann, welchen Normen, Stereotypen, Handlungsmustern und Bewältigungsstrategien sich die maßgeblichen Akteure verpflichtet sehen. Das vorliegende Material dazu ist bislang meist anekdotisch oder autobiografisch; eine systematische Analyse der normativen Referenzrahmen, die die Entscheidungen der einzelnen Akteure mitbestimmen, scheint daher überfällig und würde überdies der Interventionsforschung eine neue, vielversprechende Perspektive öffnen, ähnlich wie es in der Wirtschaftswissenschaft in den vergangenen Jahren die Behavioral Economics geleistet haben.
Denn „weiche“, also psychologische Faktoren der Entschlussbildung führen de facto zu „harten“ Folgen. Auch illusionäre Wirklichkeitsdeutungen führen zu Entscheidungen, die Wirklichkeiten nachhaltig prägen. Jede Interventionsentscheidung ist das Ergebnis einer Interaktion von Akteuren, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher professioneller und normativer Verpflichtungen eine gemeinsame Entschlussbildung herbeiführen. Vor diesem Hintergrund sollten Interventionsentscheidungen zwar von der strikten Verpflichtung auf eine Responsibility to Protect getragen werden, gleichzeitig aber systematisch Reversibilität und Exit-Möglichkeiten berücksichtigen, um nicht in die Falle verhängnisvoller Dynamiken und Pfadabhängigkeiten zu geraten. Dafür bedarf es erheblich mehr an Wissen über die Bedingungen gelingender Interventionen – Appelle an einen allzeit bereiten humanitären Interventionismus helfen da gar nichts.
Prof. Dr. HARALD WELZER ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 32 - 37