IP

01. Juli 2003

Am Rande des Chaos

Ist die Globalisierung die Wurzel allen Übels?

Die Vision einer fabelhaften neuen Welt, in der das globale Dorf den Menschen ungeahnte Chancen eröffnet und der globale Marktplatz die Wirtschaft florieren lässt, ist nicht mehr als ein Trugbild. Aus der Sicht des Hamburger Wirtschaftsjournalisten Peter Bölke sorgt die Globalisierung auch dafür, dass das Chaos in weit entfernten Gegenden schnell in den Wohlstandszentren zu spüren ist; Leitlinien für eine neue Ordnung indes sind bisher nirgendwo erkennbar.

Es ist eine fabelhafte Welt: Über alle Grenzen hinweg sind die Menschen dank der modernen Kommunikationstechnik miteinander verbunden. Über dem Äquator schweben in 36 000 Kilometer Höhe Satelliten und sorgen dafür, dass auch im letzten Winkel der Erde jeder einen Zugang ins Internet hat. Unternehmen sind weltweit mit ihren Niederlassungen, mit Kunden, mit Partnern in Kontakt und wickeln ihre Geschäfte über das Netz ab. Angestellte müssen nicht mehr ins Büro, weil sie ihre Arbeit auch zu Hause am Computer erledigen können. Arbeitslose finden einen Job im Internet, und jedermann steht das gesamte Wissen der Welt mit ein paar Mausklicks zur Verfügung. Das globale Dorf eröffnet den Menschen ungeahnte Chancen, der globale Marktplatz lässt die Wirtschaft florieren.

Eine fabelhafte Welt – als Vision. Es könnte alles so sein, die Voraussetzungen sind da: Viele nationale Grenzen, insbesondere in Europa, fallen oder werden immer durchlässiger, der Strom von Waren und Dienstleistungen fließt vielfach leichter, und der gewaltige Fortschritt in der Kommunikationstechnik hat die Menschen, ihre Institutionen und Unternehmen in einem weltweiten Netz einander näher gebracht. Aber die Wirklichkeit will zur Vision nicht so recht passen.

Zwar haben Amerikaner und Briten ihren Krieg gegen Irak schnell beendet und den Diktator Saddam Hussein gestürzt. Der von vielen befürchtete Ölpreisschock blieb aus, die amerikanische Wirtschaft scheint sich zu erholen, die Börsenkurse wollen wieder nach oben, und auch die europäischen Konjunkturexperten hoffen auf einen Aufschwung. Aber friedlich und wohlgeordnet ist die Welt keineswegs.

Das Fatale an der Globalisierung ist nicht die Tatsache, dass ein liberaler Geist durch die Welt zieht, der Grenzen und Meere überwindet, der Märkte öffnet, den Handel beflügelt und Finanzströme fließen lässt. Das Fatale ist, dass der liberale Geist sehr einseitig wirkt, dass die einen exportieren dürfen, aber andere nicht, und dass die Geldströme oft nur so fließen, wie Spekulanten es möchten. So wird eines der ärgsten Probleme, das die Menschheit aus dem vergangenen Jahrhundert mitgeschleppt hat, noch drückender: die Armut in den Ländern der Dritten Welt.

Nach Schätzungen internationaler Finanzinstitutionen wie der Weltbank muss mehr als eine Milliarde Menschen von nur einem Dollar pro Tag leben. Weiteren zwei Milliarden Menschen geht es mit täglich zwei Dollar wohl kaum besser. Allein in Afrika mit seinen 600 Millionen Menschen leben mehr als die Hälfte in völliger Armut.

Die weltweite Verflechtung der Ökonomie wird voranschreiten, und was heute Ökonomie ist, muss immer auch Politik sein. Die Globalisierung schafft Unruhe und sie kann Veränderungen bewirken. Sie wird das Entstehen einer neuen Weltordnung, die nach den Turbulenzen des vergangenen Jahrhunderts zu erwarten ist, wirtschaftlich und politisch auf vielfältige Weise beeinflussen. Doch werden die Umwälzungen glimpflich verlaufen? Dürfen die Menschen hoffen, dass die Weltwirtschaft in ruhige Bahnen gelenkt wird, dass Regierungen und internationale Institutionen sich auf vernünftige Spielregeln für das Zusammenleben und das Wohlergehen der Völker einigen?

Es sieht nicht so aus. Jenseits aller Spekulationen und vagen Prognosen sind Fakten und Entwicklungstendenzen erkennbar, die nicht gerade optimistisch stimmen. Auch eine militärische Übermacht kann die Unruheherde in der Welt (Nahost, der Balkan, Afrika) nicht beseitigen, die Industrieländer leiden unter veralteten Strukturen und hohen Schulden, die immensen Probleme der Entwicklungs- und Schwellenländer Afrikas, Lateinamerikas und zum Teil Asiens sind nicht mal ansatzweise gelöst.

Geblieben ist auch das Unglück der fortschreitenden Umweltschädigung, an das sich die Menschheit offenbar gewöhnt hat, das sie zumindest achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Das gravierendste Umweltproblem, der Treibhauseffekt, hat auch ernste wirtschaftliche Folgen. Die Klimaforscher scheinen sich inzwischen einig, dass die globale Erwärmung durch den massiven Ausstoß von Kohlendioxid  und anderer Gase zunehmend extreme Wetterlagen hervorrufen wird. Die Verwüstungen, die weltweit durch Orkane, Dürreperioden oder Überschwemmungen entstehen können, beunruhigen schon jetzt viele Versicherungen – sie rechnen mit jährlichen Schäden von bis zu 150 Milliarden Dollar.

Gerade in der Umweltproblematik werden zwei Elemente der keimenden neuen Weltwirtschaftsordnung besonders deutlich. Das ist zum einen die dominierende Rolle der USA. Im 1997 verabschiedeten Kyoto-Protokoll zur Klimarahmenkonvention werden die Staaten u.a. verpflichtet, den Ausstoß von CO2 zu reduzieren, indem weniger Öl, Gas und Kohle verfeuert wird. Doch die USA haben das Protokoll nicht einmal unterzeichnet; ihre Emissionen sind seit 1990 um rund 18 Prozent gestiegen.

Das andere Element ist die Kluft zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern, die sich stetig verbreitert. Der größte Teil der CO2-Emissionen stammt aus den Industrieländern, die ökologischen Folgen werden aber vor allem auch die armen Länder tragen, die von Dürren und Überschwemmungen heimgesucht werden.

Wenn denn Globalisierung bedeutet, dass alles auf die „Eine Welt“ zustrebt, dann müssen andere Spielregeln in Wirtschaft und Politik gefunden werden. Verschiedene Elemente und Entwicklungen, die diese neue Weltordnung prägen werden, lassen neue Konflikte erahnen, die kaum leichter zu bewältigen sein werden als die jetzigen – und auch die sind nicht gelöst.

Schon als die Mauer in Berlin fiel, die Sowjetunion auseinanderbrach und das, was Jahrzehnte lang als der Ostblock galt, in seine früheren Bestandteile zerfiel, begann eine neue Ära. Der Versuch, in einem Fünftel der Erde erst den Sozialismus und dann den Kommunismus aufzubauen, war an der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur gescheitert. Die Utopie der klassenlosen Gesellschaft hatte keine Chance gegen ein offenes System, das den Menschen mit all seinen Schwächen akzeptiert. Der Kapitalismus hatte sich in beeindruckender Weise durchgesetzt.

Das dramatische Ende eines jahrzehntelangen Kampfes zweier Gesellschaftssysteme wirkte sich nicht nur – in diesem Falle positiv – unmittelbar für die bis dahin unterdrückten Völker aus, sondern veränderte schlagartig die gesamte weltpolitische Situation. Von den beiden Supermächten, die sich lange – und zeitweilig in einem Gleichgewicht des Schreckens – gegenüber gestanden und gegenseitig vor allzu voreiligen Taten bewahrt hatten, ist heute nur noch eine da. Es fehlt die Gegenmacht, die Welt befindet sich in einem labilen Gleichgewicht – was immer eine gefährliche Situation ist, weil sie extreme Ausschläge möglich macht.

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben bereits hinlänglich bewiesen, dass sie sich ihrer neuen Rolle bewusst sind. Ihre wirtschaftliche Stärke und ihre militärische Überlegenheit scheint alles möglich zu machen und vieles zu erlauben, was selbst nach traditioneller amerikanischer Vorstellung nicht erlaubt sein sollte – sie beginnen ihre eigenen Ideale zu verraten.

Rivalen der USA

Die UN werden sich damit abfinden müssen, dass die USA die Welt wirtschaftlich und machtpolitisch nach ihren eigenen Spielregeln zu ordnen versucht – bis auf Weiteres jedenfalls. Das Gleichgewicht des Schreckens wurde mit dem Zerfall der Sowjetunion beendet, aber nach der gleichen Dialektik, die diese Supermächte entstehen ließ, werden andere heranwachsen. China und Indien sind von der Größe und ihren Ressourcen her Kandidaten, und auch Russland sollte man nicht einfach abtun. Alle drei sind Atommächte, und zumindest China, seit Ende 2001 auch Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO), spielt fast von Monat zu Monat eine größere Rolle im Welthandel.

Durch ihre vorsichtige Liberalisierung der Wirtschaft und die Ermunterung zu individueller Verantwortung hat die chinesische Regierung gewaltige Kräfte freigesetzt. Die Wirtschaft wuchs um durchschnittlich zehn Prozent pro Jahr, inzwischen nur zeitweilig durch den Ausbruch der Lungenkrankheit SARS etwas gebremst. Millionen von neuen Betrieben sind entstanden, und ausländisches Kapital strömt ins Land, das vor allem in Joint Ventures angelegt wird. Noch 1990 flossen nur acht Milliarden Dollar Privatkapital nach China, zehn Jahre später waren es mehr als 40 Milliarden.

Aber was ist mit dem Alten Kontinent? Wird es in absehbarer Zukunft die Vereinigten Staaten von Europa geben, die dann neben den USA und wahrscheinlich China zu den Supermächten zählen? Wird die Welt im Spannungsverhältnis dieser Machtzentren ein neues Gleichgewicht finden?

Bislang ist die EU, die sich aus der ursprünglich von sechs Staaten gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt hat, ein loses Staatenbündnis, kaum mehr als eine riesige Freihandelszone – allerdings mit einer bedeutsamen Besonderheit: einer Art Regierung, die sich Kommission nennt und erstaunliche Befugnisse hat, obwohl sie bislang nicht demokratisch legitimiert ist. Es gibt einen gemeinsamen Agrarmarkt, der kein Markt ist, sondern eine verkappte Planwirtschaft, und eine Bürokratie, die weniger zur Harmonisierung der vielen nationalen Besonderheiten beiträgt als vielmehr zu deren Komplizierung. Es gibt keine einheitliche Wirtschafts- und keine Steuerpolitik – von einer gemeinsamen Außen- oder Verteidigungspolitik ganz zu schweigen.

In der Währungspolitik sind die meisten der bislang 15 Mitgliedsländer einen Schritt in Richtung auf eine echte Union voran gegangen. In 12 Staaten ist nun der Euro gesetzliches Zahlungsmittel, und die Europäische Zentralbank wacht über ihn. Aber auch hier zeigt sich, dass es nahezu unmöglich ist, 15 Mitglieder einer Gemeinschaft zu gemeinsamem Handeln zu bewegen: Der britische Finanzminister hat gerade erst wieder erklärt, dass London die Einheitswährung lieber noch nicht übernehmen möchte; auch Dänen und Schweden bleiben vorerst bei ihrer eigenen Währung.

Die Bedenken scheinen indes begreiflich. Noch ist nicht erwiesen, ob eine gemeinsame Währung so vieler unterschiedlicher Volkswirtschaften funktionieren kann, solange jedes Land seine eigene Wirtschaftspolitik macht und die Steuern nicht harmonisiert sind. Die Verfassung, die ein „Konvent“ unter Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing ausgearbeitet hat, wird hieran nichts ändern.

Auch Giscards Verfassungsentwurf sieht keine Demokratisierung der Europäischen Union vor. Und ob sie überhaupt jemals eine echte Regierung bilden kann, die von einem gewählten Parlament eingesetzt wird, muss nach der bisherigen Entwicklung bezweifelt werden – dafür stoßen in der Gemeinschaft zu viele unterschiedliche Interessen aufeinander. Die EU ist schon jetzt kaum regierbar. Durch den Beitritt weiterer Länder, die erst einmal zum Niveau des bereits Erreichten aufschließen müssen, verliert das Wort Union vollends seine Bedeutung.

Die Europäer können, weil sie nicht einig sind, keine unabhängige starke Rolle in der Welt spielen. Im militärischen Bereich sind sie trotz NATO und Freundschaftsbekundungen den USA hilflos ausgeliefert, in der Wirtschaft abhängig von der Zinspolitik der amerikanischen Notenbank, dem Dollar und der Kauflust der amerikanischen Verbraucher. Es ist nicht nur die Börse an der Wall Street, die den Dax oder den französischen CAC 40 rauf oder runter treibt – wenn die amerikanische Wirtschaft lahmt, ist offenbar in Europa kein Aufschwung zu schaffen.

Wohlstand auf Kredit

Derzeit wächst die amerikanische Wirtschaft nicht so dynamisch wie gewohnt, aber in vielen europäischen Ländern sieht es weitaus schlechter aus. Die stärkste europäische Wirtschaft, die deutsche, wird in diesem Jahr kaum wachsen. Für den gesamten Euroraum wird mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,4 bis 1,0 Prozent gerechnet. In den USA dagegen soll die Wirtschaft im zweiten Halbjahr nach Schätzungen von Finanzminister, John Snow, schon wieder 3,5 Prozent zulegen; für die nächsten fünf Jahre werden 5 bis 5,5 Prozent erwartet.

Wieder einmal sieht es so aus, als warteten alle darauf, dass die amerikanische Wirtschaft neuen Schwung gewinnt und dann die europäischen Volkswirtschaften mitreißt. Viele Ökonomen zweifeln, dass dies gelingen kann. Sie verweisen darauf, dass die Amerikaner schon seit Längerem über ihre Verhältnisse leben. Die so genannte Leistungsbilanz ist negativ, die Importe steigen.

Im amerikanischen Staatshaushalt, der unter Präsident Bill Clinton noch stattliche Überschüsse aufwies, klafft ein Loch von rund 400 Milliarden Dollar. Allein die Kosten des Irak-Krieges werden auf mehr als 70 Milliarden Dollar geschätzt – und die Folgekosten wagt noch niemand zu kalkulieren. Das Haushaltsdefizit könnte in den nächsten zehn Jahren auf 1,8 Billionen Dollar steigen, weil George W. Bush seine imperialen Ambitionen, seinen missionarischen Kampf gegen „Schurkenstaaten“ sowie die versprochenen Steuersenkungen mit immer neuen Schulden finanzieren muss; im laufenden Jahr muss er 380 Milliarden Dollar zusätzlich aufnehmen.

Es ist unbestritten, dass der Wohlstand der USA weitgehend auf Kredit finanziert ist. Das kann gut gehen, solange in aller Welt in Dollars investiert wird. Die Staaten im Nahen Osten, die ihr Öl überwiegend gegen Dollar verkaufen, haben ihr Geld, wie auch asiatische Staaten, zum großen Teil in US-Staatsanleihen angelegt. Japans Zentralbank beispielsweise ist mit mehr als 360 Milliarden Dollar dabei und somit der größte Gläubiger der USA.

Solange die Vereinigten Staaten weltweit Vertrauen genießen, bleiben die Gläubiger ruhig. Doch es könnte schwierig für die amerikanische Wirtschaft werden, wenn etwa Saudi-Arabien sein Öl künftig gegen Euro verkaufte oder wenn die Japaner in einer Panikreaktion ihre Gelder abzögen.

Bislang haben die gewaltigen Schulden offenbar weder die Regierung noch die Bürger beunruhigt. Auch die amerikanischen Verbraucher leben über ihre Verhältnisse, sie haben insgesamt für mehr als acht Billionen Dollar Kredite aufgenommen. Das führt dazu, dass sie im Schnitt derzeit 14 Prozent ihres Einkommens für Zinsen und Tilgung ausgeben. Nun will Präsident Bush seine Landsleute durch Steuersenkungen in den nächsten zehn Jahren um 350 Milliarden Dollar entlasten.

Bush macht damit zwar neue Schulden, aber andererseits könnte ein Konsumschub der Wirtschaft den erhofften Schwung geben. Die Zinsen sind ohnehin niedrig. Hinzu kommt der relativ schwache Kurs des Dollars gegenüber dem Euro, der sich im zweiten Quartal dieses Jahres herausgebildet hat: amerikanische Unternehmen haben bessere Exportchancen, weil ihre Produkte im Ausland billiger werden, und Importe werden gebremst.

Dies bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass der starke Euro den Europäern, und hier insbesondere der Exportnation Deutschland, wenig hilft. Unternehmen können zwar beispielsweise Öl günstiger einkaufen, aber viele Exporteure werden bei einem weiter steigenden Eurokurs Schwierigkeiten bekommen. Fraglich ist ohnehin, ob selbst ein starker Wachstumsschub aus den USA Ländern wie Deutschland helfen kann, ihre strukturellen Probleme zu lösen.

Dass die bislang stärkste Volkswirtschaft in der Europäischen Union arge Schwierigkeiten hat, das Abrutschen in eine Rezession zu verhindern, beunruhigt die Gemeinschaft. In ganz Europa, heißt es in einer aktuellen EU-Analyse, sei „das Gesamtbild eher düster“. Die größte Sorge unter allen Mitgliedstaaten gelte aber weiterhin der deutschen Wirtschaft.

In der Tat weisen auch die Etats etwa in Frankreich und Portugal Defizite auf, die über die in Maastricht verabredete Grenze deutlich hinaus gehen. Und Reformen, zum Beispiel am Sozialsystem, rufen in Frankreich oder Österreich ebenso lautstarke Proteste hervor wie in Deutschland. Doch weil das Land, das einst wegen seines Wirtschaftswunders bestaunt wurde, inzwischen nicht mehr die Kraft zu haben scheint, seinen Menschen genügend Arbeit zu geben und seine Sozialsysteme zu retten, sieht es dort am düstersten aus.

Deutsche Zustände

Der deutsche Bundeskanzler, Gerhard Schröder, erlebt gerade, wie schwer, fast unmöglich, es in Deutschland ist, Veränderungen durchzusetzen, die unabdingbar sind, wenn die Zahl der Arbeitslosen nicht weiter auf fünf oder gar sechs Millionen steigen soll; Veränderungen, die vielleicht auch verhindern können, dass der immer wieder beschworene Sozialstaat vollends zusammenbricht, so dass nicht einmal mehr den wirklich Bedürftigen geholfen werden kann.

Deutschland hat sich durch Fehler, die bei der Wiedervereinigung gemacht wurden, besondere Lasten aufgeladen. Diese Fehler – etwa der Kahlschlag in der mitteldeutschen Industrie – lassen sich nur mühsam in einem längeren Zeitraum korrigieren. Weitaus ärgerlicher ist indes, dass andere Fehlentwicklungen seit Jahren bekannt sind und dass bislang keine ernsthaften Anstrengungen zu ihrer Korrektur erkennbar wurden.

Es bleibt ein schweres Handikap, dass die Arbeit in Deutschland zu teuer ist, und das nicht nur im Vergleich etwa mit den willigen Spargelstechern aus Polen. Dass man über alles reden muss, auch über Kündigungsschutz und Flächentarife, wenn es darum geht, die Seuche Arbeitslosigkeit einzudämmen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Und vor allem: Dass die deutschen Sozialsysteme vor dem völligen Kollaps stehen, hat inzwischen fast jeder Politiker begriffen.

Wird der Sozialstaat abgebaut, wie die Kritiker jedes Reformansatzes behaupten? Keineswegs, er ist vielmehr auf besten Wege, sich selbst zu zerstören – Fettleibigkeit birgt die Gefahr des Herztods in sich. Die Übertreibungen der staatlichen Fürsorge müssen gekappt werden, damit überhaupt noch Fürsorge möglich ist. Das aber erfordert echte Reformen, keine Tünche auf Rissen im Mauerwerk.

Soll Deutschland die Steuern senken, um die Konjunktur zu beleben? Das will der Finanzminister nur tun, wenn vorher Subventionen abgebaut werden. Es würde lohnen – im Jahre 2001 summierten sich, wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft errechnete, die Subventionen auf 156 Milliarden Euro, mehr als ein Drittel des gesamten Steueraufkommens Aber wird die Regierung den Mut dazu aufbringen?

Die „Agenda 2010“, die Bundeskanzler Schröder auch gegen Widerstände aus den eigenen Reihen durchsetzen will, ist ein wichtiger Schritt, um das Bewusstsein für die Erkenntnis zu schärfen, dass auch in einem relativ wohlhabenden Land Reformen notwendig sind. Und nachdem lange der Mut oder die Einsicht in die Notwendigkeit fehlte, ist nun höchste Eile geboten. Es geht ja nicht nur darum, die Alterssicherung der Menschen neu zu organisieren, die Konjunktur anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Mit wirtschaftlich schwachen Staaten kommt auch Europa nicht voran – und die neuen Mitglieder der Europäischen Union werden auch neue, bisher ungeahnte Probleme schaffen.

Zudem wird die EU sich in Zukunft nicht nur mit sich allein beschäftigen können. Das hängt nicht nur mit der immer härter werdenden Hegemonialpolitik der USA zusammen, sondern auch mit den Verpflichtungen gegenüber der Dritten Welt, mit dem Kampf gegen den Terrorismus, mit den Aufgaben in unruhigen Regionen wie dem Balkan, Afghanistan oder Irak. Die Vorstellung, dass nach einem ordentlichen Hightech-Bombardement und der Stationierung von Soldaten aus aller Herren Länder Frieden einkehren würde, beruht mit Sicherheit auf einem Trugschluss.

Es ist wichtiger denn je, dass die industrialisierten Länder den Entwicklungsländern helfen, den Anschluss an die Weltwirtschaft zu finden. Die Globalisierung hat den meisten keine Vorteile gebracht, weil nach wie vor eine Politik betrieben wird, die der Internationale Währungsfonds (IWF) seit Jahren ohne überzeugende Erfolge durchsetzt. Im Interesse der industrialisierten Länder hat der IWF in den Entwicklungsländern, die seine Hilfe brauchten, zumeist die Öffnung der Märkte erzwungen; die armen Länder dagegen konnten die weitgehend abgeschotteten Märkte der Industriestaaten nicht beliefern.

Ohnehin ist die rasche Einführung der Marktwirtschaft oft ein Fehler, weil häufig die wichtigsten Voraussetzungen der Infrastruktur fehlen. Länder wie China oder Vietnam, die nur Schritt für Schritt in Richtung Marktwirtschaft gingen, sind damit weit besser zurechtgekommen als Länder, die sich den Forderungen des IWF beugten.

Seit Jahren kommt es jedes Mal, wenn die Vertreter der führenden Industrienationen sich zu Beratungen über die Lage der Weltwirtschaft versammeln, zu wütenden Protesten. Manche Demonstranten können vielleicht keine präzisen Gründe für ihren Protest nennen, aber ein Unbehagen über die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung ist gewiss weit verbreitet. Soll die Globalisierung als eine Tatsache akzeptiert und positiv verstanden werden, müssen alle Länder an der Entwicklung teilhaben.

Auch das Gipfeltreffen der G-8 im Juni 2003 hat kaum mehr gebracht als das übliche Familienfoto der Staats- und Regierungschefs. Im französischen Evian wurden weder neue Impulse für die dümpelnde Weltwirtschaft erkennbar noch deutliche Signale an die Entwicklungsländer, dass nun die Globalisierung auch ihnen einen Nutzen bringe. Sie warten auch weiterhin auf feste Zusagen über den Abbau europäischer Agrarsubventionen, die den Import von landwirtschaftlichen Produkten aus den wenig entwickelten Ländern erschweren oder unmöglich machen.

Allein die Größenordnung dieser Subventionen macht deutlich, dass Bauern in den Augen der Eurokraten und amerikanischer Minister sehr viel bedürftiger sind als Milliarden von Menschen in den unterentwickelten Ländern: Die Zuschüsse, die die Agrarindustrie am Leben halten, sind mit 350 Milliarden Dollar pro Jahr sieben Mal so hoch wie die gesamte öffentliche Entwicklungshilfe. Oder, wie IWF-Chef Horst Köhler es kürzlich sarkastisch formulierte:„Auf der deutschen Kuh liegt ein Subventionsbedarf von 2,50 Dollar pro Tag.“ Das ist ziemlich genau der Betrag, mit der ein Einzelner im ärmeren Teil der Welt täglich leben muss.

Nach all den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts scheint die Welt sich nur mühsam und unter Schmerzen auf eine neue Ordnung einzustellen, und das nicht nur wegen der ständigen Bedrohung durch den Terrorismus. Das Modell jedenfalls, das die Supermacht USA durchsetzen möchte, wird nicht funktionieren. Religiöser und nationalistischer Fanatismus könnten in einen gewaltsamen Zusammenstoß der Kulturen münden. Nun auch noch Truppen in den Kongo – aber wer kämpft ernsthaft gegen den Hunger von Millionen? Wer bringt die Entwicklungshilfe auf einen sinnvollen Kurs? Wie kommt die Weltwirtschaft wieder in Schwung?

Es wird ein schwieriges Jahrhundert, kaum leichter als das vergangene. Am Rande des Chaos lebte die Welt schon oft genug, doch nun sorgt die Globalisierung dafür, dass das Chaos in weit entfernten Gegenden schnell auch in den Wohlstandszentren zu spüren ist. Und Leitlinien für eine neue Ordnung sind bislang nirgends erkennbar.