IP

01. März 2017

Alarmstimmung am Bosporus

Terror, politischer Streit, Wirtschaftskrise: Wohin steuert die Türkei?

Im April sollen die Türken über den Entwurf einer Verfassungsänderung abstimmen, mit der Erdogan eine fromm-konservative Präsidialherrschaft errichten will. Doch unter den Bedingungen des Ausnahmezustands ist kein fairer Wahlkampf möglich; überhaupt ziehen sich viele Menschen ins Privatleben zurück oder wollen das Land verlassen.

Mittagszeit im Istanbuler Geschäfts- und Einkaufsviertel Nisantasi. Mit heulenden Sirenen bahnen sich zwei Feuerwehrzüge einen Weg durch den Verkehr auf der Vali-Konagi-Straße. In den Cafés, Büros und Läden an ihrer Strecke zücken hunderte Angestellte und Kunden ihre Smartphones, um die Nachrichtenlage abzufragen. „Was da wohl wieder passiert ist“, sagt eine Frau im Pelz besorgt zu ihrer Tochter. Die Nerven liegen blank in der türkischen Millionenmetropole, die alleine im vergangenen Jahr von sechs schweren Terrorangriffen erschüttert worden ist. Und es ist nicht nur der Terror, der die Türken verunsichert. „Man weiß nicht, was noch alles geschehen wird“, sagt ein Akademiker, der sich mit dem Gedanken trägt, sein Land zu verlassen. „Es ist, als hätten wir keinen Boden mehr unter den Füßen.“

Der Grund für den Alarm in Nisantasi stellt sich als unpolitischer Unfall heraus, und so wenden sich die Kaufleute, ihre Kunden und die Cafébesucher bald wieder ihrem Alltag zu. An der Oberfläche sieht es gar nicht so schlecht aus in Istanbul. Bars und Restaurants sind gut besucht, die Einkaufsstraßen und Geschäfte belebt. Der Verkehr ist dicht wie eh und je, und die Zahl der neu gekauften Autos ist im Januar sogar um 8 Prozent gestiegen gegenüber dem Vorjahr. Auch der Wohnungsbau geht weiter voran, ebenso wie der Bau eines neuen Megaflughafens und andere Großprojekte – seit einigen Wochen können Autofahrer im neuen „Eurasien“-Tunnel unter dem Bosporus durchfahren, statt auf einer der inzwischen drei interkontinentalen Brücken im Stau zu stehen.

Auf diese Dinge verweist die Regierung in Ankara, wenn sie die Lage im Land beschreibt. Von einer unvergleichlichen „Erfolgsgeschichte“ spricht zum Beispiel Präsident Recep Tayyip Erdogan gerne und häufig. Der Präsident zählt in vielen seiner Reden die Erfolge der vergangenen Jahre auf. Das frühere Armenhaus am Rande Europas ist heute Mitglied der G-20. Seit dem Jahr 2003 haben sich die Wirtschaftskraft des Landes und das Pro-Kopf-Einkommen der Türken mehr als verdoppelt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist eine Mittelschicht entstanden, die mit denen in Europa vergleichbar ist: Sie besitzt Autos, Kühlschränke und eigene Wohnungen und macht gerne Urlaub, auch im Ausland. Im Jahr 2003 reisten 3,4 Millionen Türken ins Ausland, zehn Jahre später waren es 7,5 Millionen.

Erdogan treibt den Bau von Autobahnen voran und lässt Schnellzugverbindungen quer durchs Land planen. Die Zahl der Flughäfen stieg von 26 im Jahr 2003 auf heute fast 60. Die halbstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines, deren türkische Ini­tialen THY früher von genervten Reisenden aus Verärgerung über den miesen Service als „They Hate You“ übersetzt wurden, hat sich zu einer der angesehensten Airlines der Welt gemausert. Istanbul ist zu einer Drehscheibe des internationalen Luftverkehrs geworden, die es mit Frankfurt oder Dubai aufnehmen kann.

Es gärt unter der Oberfläche

In jüngster Zeit habe sich das Wachstum zwar etwas verlangsamt, räumt der für die Wirtschaftspolitik zuständige Vizepremier Mehmet Simsek ein. Schon bald werde die Türkei mit ihrer jungen Bevölkerung und ihrem Unternehmergeist aber wieder zu einem „Magneten“ für Investoren werden.

Doch unter der Oberfläche gärt es. „Ich frage mich, wo dieses Geld herkommt“, sagt ein Istanbuler Dienstleister angesichts der Megaprojekte in der Infrastruktur, die Milliardensummen verschlingen. Von Korruption in Erdogans Umgebung wird gemunkelt, während sich die Normalbürger mit der steigenden Inflation herumschlagen. Musste man vor einem Jahr noch drei Lira hinlegen, um einen Euro zu bekommen, sind es inzwischen vier Lira – eine geradezu schwindelerregende Entwertung der heimischen Währung. Etliche Großunternehmen, deren Eigentümer politisch missliebig waren, wurden vom Staat beschlagnahmt und werden nun in den Ruin gewirtschaftet.

Der Tourismus ist bereits um mehr als ein Viertel eingebrochen und rutscht noch weiter ab. Viele kleinere Betriebe und Geschäfte müssen aufgeben – allein im Großen Basar haben schon mehr als 600 Läden und Werkstätten geschlossen. Der regierungskritische Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez veröffentlichte auf Twitter eine Statistik des Währungsverfalls: In den vier Jahren seit Januar 2013 verlor die Lira demnach gegenüber der internationalen Leitwährung etwa 55 Prozent ihres Wertes. Das sei also die „starke Türkei“, von der in Ankara immer die Rede sei, ätzte Sönmez. Besonders für ein rohstoffarmes Land wie die Türkei, das Öl und Gas auf dem Weltmarkt zu Dollarpreisen kaufen muss, ist die Entwicklung brandgefährlich.

Zumindest zum Teil liegt der Grund für die Krise in Faktoren, die von Ankara kaum zu beeinflussen sind. Der Krieg im benachbarten Syrien hat fast drei Millionen Flüchtlinge in die Türkei getrieben, für deren Versorgung Milliardensummen ausgegeben werden. In der südtürkischen Grenzprovinz Kilis leben inzwischen mehr Syrer als Türken. Überall im Land drängen die Syrer auf den informellen Arbeitsmarkt und drücken die Löhne.

Noch schlimmer ist die wachsende Gefahr durch den Terrorismus. Der Islamische Staat (IS) hat die Türkei zum Feind und legitimen Anschlagsziel erklärt. In der Neujahrsnacht tötete ein IS-Anhänger im feinen Istanbuler Nachtclub Reina fast 40 Menschen. Kurz zuvor hatte ein Al-Kaida-Anhänger in Ankara den russischen Botschafter erschossen. Im vergangenen Jahr griffen IS-Attentäter den Istanbuler Atatürk-Flughafen an und erschossen 45 Menschen; im Januar hatte sich ein IS-Mann inmitten einer deutschen Reisegruppe im historischen Stadtzentrum von Istanbul in die Luft gesprengt und 13 Menschen mit in den Tod gerissen. Fast 60 Menschen starben bei einem IS-Angriff auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep im August.

Die IS-Attacken wären allein schon schrecklich genug, doch im vergangenen Jahr kam es für die Türkei noch schlimmer. Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ließ ihren Kampf gegen den türkischen Staat ebenfalls eskalieren. Kurdische Extremisten töteten fast 70 Menschen bei zwei Autobombenanschlägen in der Hauptstadt im Februar und im März. Auch in Istanbul schlug eine zur PKK gehörende Gruppe gleich mehrmals zu – bei den Anschlägen auf einen Polizeibus und auf ein Fußballstadion starben insgesamt 60 Menschen.

Den blutigen Höhepunkt eines Jahres voller Gewalt bildete der Putschversuch gegen Staatspräsident Erdogan am 15. Juli, bei dem rund 300 Menschen ums Leben kamen. Erdogan gab der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, eines ehemaligen Verbündeten, die Schuld an dem Umsturzversuch. Mehr als hunderttausend Menschen haben seitdem wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ihre Arbeit im Staatsapparat verloren, 43 000 wurden inhaftiert. Mit Hilfe des nach dem Putschversuch erlassenen und seitdem zweimal verlängerten Ausnahmezustands erhöht die Regierung den Druck auf Andersdenkende. Hunderte Zeitungen, Radiosender und Fernsehstationen wurden verboten, mehr als 100 Journalisten sitzen im Gefängnis.

Gut einen Monat nach dem Putschversuch schickte Erdogan die türkische Armee über die Grenze nach ­Syrien, um dort gegen den IS und das Autonomiestreben der syrischen ­Kurden vorzugehen. Die Militäroperation mit dem Namen „Schild des Euphrats“ stieß nach anfänglichen Erfolgen auf erbitterten Widerstand. Ein Ende der Intervention, die Ankara noch tiefer in den Syrien-Konflikt verwickelt, ist nicht abzusehen. Mit dem Vorgehen gegen die syrischen Kurden gießt Erdogan zudem Öl ins Feuer des Kurdenkonflikts in der Türkei selbst.

Auf dem Weg in die Diktatur

Inmitten dieser von Gewalt, politischer Hexenjagd und riskanten außenpolitischen Abenteuern bestimmten Atmosphäre hat Erdo­gan jetzt einen Wahlkampf eröffnet, der die Polarisierung im Land noch weiter verschärfen könnte. Auf seinen Wunsch hin setzte die von ihm gegründete Regierungspartei AKP im Parlament den Entwurf für eine Verfassungsänderung durch, die aus der parlamentarischen Demokratie eine Präsidialrepublik machen soll. Im April sollen die Türken in einer Volksabstimmung darüber befinden. Die Änderungen sehen die Konzentra­tion von vielen Machtbefugnissen in Erdogans Hand vor. Der Posten des Ministerpräsidenten wird demnach ganz abgeschafft, die Rechte des Parlaments werden beschnitten, der Präsident wird zur alles entscheidenden Figur im politischen System.

Erdogan und seine Anhänger argumentieren, die im Jahr 2014 eingeführte Direktwahl des Staatsoberhaupts mache den Umbau notwendig, um die Konkurrenz zwischen der aus dem Parlament hervorgehenden Regierung und dem Präsidenten zu beenden. Zudem werde sich die Reform für das Land auszahlen, weil die Entscheidungswege gestrafft würden.

Kritiker sehen die Türkei dagegen auf dem Weg in die Diktatur. Sie werfen Erdogan den Griff nach der absoluten Alleinherrschaft vor – sollte der AKP-Plan beim Referendum angenommen werden, könnte Erdogan bis zum Jahr 2029 regieren. Bei einer Annahme von Erdogans Vorhaben „wird das Thema der EU-Mitgliedschaft der Türkei vollkommen von der Tagesordnung verschwinden“, sagte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kürzlich. „Wenn du jetzt nicht Nein sagst, wirst du in Zukunft auch nicht mehr gefragt“, lautet ein Slogan der Gegner des Präsidialsystems.

Dem 62-jährigen Erdogan geht es beim Referendum um seine persönliche Macht und vielleicht auch darum, sich vor möglichen Korruptionsvorwürfen in Sicherheit zu bringen, wie einige Kritiker meinen. Aber das sind nicht die einzigen Gründe. Erdogans langfristiges Ziel ist es, die Vorherrschaft der fromm-konservativen Türken, die in der Wählerschaft die strukturelle Mehrheit bilden, auf Dauer zu zementieren. Wenn sich Erdogans Plan durchsetzt, ist es aus heutiger Sicht schwer vorstellbar, dass die Türkei jemals einen linken oder säkularen Präsidenten erhält.

Entsprechend verbissen ist die Gegenwehr. Kilicdaroglus säkulare Partei CHP und die legale Kurdenpartei HDP wollen die Türken zu einem Nein zu Erdogans Plan bewegen, haben aber mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. So sitzt die Führungsriege der HDP wegen des Vorwurfs der Unterstützung für die PKK hinter Gittern. Als sich Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem kürzlichen Besuch in Ankara mit einer HDP-Abordnung treffen wollte, mussten die Kurdenpolitiker improvisieren: Ein Politiker aus der HDP-Delegation für das Gespräch mit Merkel war kurz vor der Ankunft der Kanzlerin ins Gefängnis gesteckt worden. Für ihn sprang ein anderer kurdischer Abgeordneter ein, der gerade aus der Haft entlassen worden war. Dies sei Ausdruck der Lage in einem Land unter Kriegsrecht, erklärte die HDP.

Rückzug ins Private

Es ist auch dem Ausnahmezustand geschuldet, dass vieles in der Türkei auf den ersten Blick relativ normal aussieht: Die Menschen sprechen lieber nicht über ihre Probleme, Sorgen und Auffassungen hinsichtlich der Regierung. „Man kann ja nicht mehr öffentlich protestieren, ist doch alles verboten“, sagt ein Istanbuler Kleinunternehmer, der seinen Namen nicht genannt wissen will – ein neuerdings verbreitetes Phänomen in der Türkei. Inzwischen hadere man nur im Privaten mit der Existenz- und Zukunftsangst, erklärt der Mann.

„Jeder kann jederzeit festgenommen werden“, sagt auch ein Akademiker, der in den vergangenen Monaten zwei befreundete Professoren hat hinter Gittern verschwinden sehen – mit untergeschobenen Vorwürfen und Scheinbeweisen, ist er sicher. Er spreche jedenfalls nur noch mit ein oder zwei Freunden offen über die Lage im Land und halte sich ansonsten mit Meinungsäußerungen sehr zurück.

Auch Oppositionschef Kilicdaroglu klagt, unter den Bedingungen des Ausnahmezustands sei kein fairer Wahlkampf vor dem Referendum möglich. Erdogan und die AKP ignorieren diese Einwände, doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Volksabstimmung keine Entspannung der politischen Lage bringen wird. Siegt das Erdogan-Lager, befürchten viele Regierungsgegner noch mehr Druck gegen unliebsame Politiker, Akademiker und Journalisten. Lehnen die Türken den Plan ab, wären Erdogan und die AKP politisch erheblich geschwächt und könnten versucht sein, vorzeitige Neuwahlen auszuschreiben – was weitere monatelange Turbulenzen mit sich bringen würde.

An einem Abend im Istanbuler Vergnügungsviertel Beyoglu scheinen diese Entwicklungen Welten entfernt zu sein. Die Kneipen sind voll, aus den Bars dringt laute Musik, die Menschen drängen sich Schulter an Schulter durch die engen Gassen. Ändern kann man an der Lage eh nichts, sagen sich viele angesichts der vielen Krisen und Gefahren im Land.

Doch nicht alle denken so. Internationale Investoren, auf deren Geld die Türkei dringend angewiesen ist, bekommen inzwischen kalte Füße. Die Ratingagentur Fitch stufte türkische Staatsanleihen Ende ­Januar als „Junk“ ein; die Kollegen von Standard & Poor’s änderten ihre Türkei-Empfehlung von „stabil“ auf „­negativ“. Die politische Situation und die Sicherheitslage hätten ungünstige Folgen für die Wirtschaft und die Unabhängigkeit staatlicher Institutionen, erklärte Fitch, die letzte der großen Ratingagenturen, bei der die Türkei bisher noch als einigermaßen sicher galt.

Abstimmung mit den Füßen

Nach außen tut die Regierung diese Urteile der internationalen Finanz­experten als nebensächlich ab. Man solle die Einstufung eines Landes durch die Ratingagenturen nicht allzu ernst nehmen, sagte Regierungssprecher Numan Kurtulmus, der das tat, was immer mehr Politiker seines Lagers in Ankara tun: Er verbreitete Verschwörungstheorien. Die Urteile der Ratingagenturen beruhten nicht auf soliden Analysen, sondern seien Teil einer internationalen „Schmutzkampagne“ gegen die Türkei. „Die machen das absichtlich“, sagte auch Erdogan vor einigen Monaten über die Agenturen.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass Erdogan angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung besorgt ist. Die sagenhaften Wachstumsraten der vergangenen Jahre mit dem damit verbundenen Wohlstandszuwachs bei vielen Türken bilden seine größte politische Stütze – Wirtschaftsprobleme kurz vor dem Referendum könnten ihm den Sieg kosten. Deshalb setzt der Präsident auf Patriotismus: Im Dezember rief er die Türken auf, ihre Dollar-Ersparnisse in Lira umzuwandeln, um der Landeswährung zu helfen. Seitdem ist die Lira allerdings noch weiter abgerutscht. Die Inflation steigt unterdessen weiter und lag Anfang Februar bei 9,2 Prozent, weit höher als von Experten erwartet.

Viele Türken stimmen schon jetzt mit den Füßen ab. Die Zahl türkischer Asylbewerber in Deutschland steigt. Akademiker und Journalisten versuchen, sich in Deutschland, anderen westeuropäischen Staaten oder in den USA in Sicherheit zu bringen. „Solange Erdogan an der Macht ist, kann ich nicht zurück“, sagte kürzlich ein türkischer Exil-Journalist in Washington, dem bei einer Heimkehr nach Anatolien die Festnahme drohen würde. Schon ist von einem Brain-Drain die Rede, der dem Land langfristig schaden könnte.

Erdogan gibt sich dennoch unbeeindruckt. Die Türkei erlebe zwar die „Geburtswehen einer neuen Ära“, sagte der Präsident kürzlich. Doch das Land werde die Probleme überwinden. „Wir gehen einer strahlenden Zukunft entgegen“, betonte Erdogan. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Türken ihm folgen wollen.

Susanne Güsten berichtet als Journalistin aus Istanbul.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 76-81

Teilen

Mehr von den Autoren