Alltag einer Autokratie
Kritik und Diskussionen werden in der Türkei immer schwieriger.
Nein, die politische Lage wolle er lieber nicht kommentieren, sagt der türkische Politologe. Der Mann muss genau aufpassen, was er sagt – ein falsches Wort kann viel anrichten. Fast 20 Jahre lang hatte ich als Journalistin in der Türkei keine Schwierigkeiten, Gesprächspartner auch zu heiklen Themen zu finden. Doch seit ein paar Jahren ist das anders. Auf der Straße weichen die Menschen ängstlich vor meinem Mikrofon zurück. Experten und Normalbürger haben Angst. Sie erleben jeden Tag, wie Kritiker der Regierung beschimpft, angeklagt oder inhaftiert werden. Eine offene Debatte ist in der Türkei nicht mehr möglich.
Zehntausende Verfahren wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung sind in den vergangenen Jahren von den Anwälten von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan oder von Staatsanwälten angestoßen worden. Die junge Oppositionspolitikerin Dila Koyurga wurde kürzlich festgenommen, weil sie den Präsidenten mit einem Twitter-Kommentar vor sieben Jahren beleidigt haben soll – damals war Erdoğan noch nicht Präsident, sondern Regierungschef, aber das spielt keine Rolle. Sie solle dem Land nun bloß nichts von Meinungsfreiheit vorheulen, kommentierte ein Anwalt des Präsidenten.
Die Bertelsmann-Stiftung stufte die Türkei in ihrem neuen „Transformationsindex“ erstmals als Autokratie ein, und zwar „aufgrund massiver Einschränkung der Pressefreiheit, grober Missachtung von Bürgerrechten und Aushebelung der Gewaltenteilung“. Von westlichen Regierungen fast unbemerkt, wurden in den vergangenen Wochen reihenweise kurdische Bürgermeister in Ostanatolien ihrer Ämter enthoben und durch regierungstreue Statthalter ersetzt. Die prokurdische Partei HDP hatte bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr insgesamt 65 Bürgermeisterposten gewonnen – 51 der gewählten Stadtoberhäupter wurden inzwischen wieder abgesetzt. Anfang Juni ließ die Regierung zwei Abgeordnete der HDP und einen Vertreter der säkularistischen Oppositionspartei CHP aus dem Parlament werfen.
Auch gegen Ekrem Imamoğlu, CHP-Bürgermeister von Istanbul und potenzieller Herausforderer Erdoğans bei der Präsidentenwahl in drei Jahren, wird ermittelt. Der frühere HDP-Chef Selahattin Demirtas sitzt seit 2016 in Haft, obwohl das Europäische Menschenrechtsgericht schon vor zwei Jahren seine Freilassung forderte. Demirtas werde trotzdem nicht freikommen, sagte Erdoğan. Kein türkisches Gericht würde es wagen, dem Präsidenten zu widersprechen. Die kürzlich aus dem Parlament entfernten Abgeordneten verloren ihre Mandate, obwohl das Verfassungsgericht noch nicht über ihre Fälle entschieden hat.
Ein „politischer Putsch“ sei das Vorgehen der Regierung gegen die Opposition, sagt der HDP-Abgeordnete und Arzt Ömer Faruk Gergerlioğlu. Er rechnet damit, dass bald noch weitere Erdoğan-Kritiker im Parlament ihre Mandate verlieren werden. Gergerlioğlu wirft der Regierung vor, die Opposition mit allen Mitteln kleinkriegen zu wollen. Als kürzlich eine Teilamnestie erlassen wurde, um die überfüllten Gefängnisse wegen der Corona-Pandemie zu entlasten, nahm Erdoğan politische Häftlinge von dem Straferlass aus: Politiker, Intellektuelle, Vertreter der Zivilgesellschaft und Journalisten, die wegen teils absurder Vorwürfe in Haft sitzen, bleiben weiter hinter Gittern. Wenn sich das Coronavirus in den Haftanstalten ausbreiten sollte, drohe ein „Massenmord“, warnte Gergerlioğlu. Die Regierung ignorierte ihn.
Nicht nur in der Politik ist die Autokratie inzwischen zum Alltag geworden. Wenn Erdoğan und sein Gefolge mit einem Konvoi aus mehreren Dutzend Fahrzeugen durch Istanbul rauschen, wird der Verkehr in der 16-Millionen-Metropole für Normalsterbliche angehalten. Erst vor Kurzem wurde ich auf der Autobahn von Begleitfahrzeugen des Präsidententrosses unsanft abgedrängt.
Erdoğan gibt, Erdoğan nimmt
Während in anderen Ländern die Schritte zur Eindämmung der Corona-Pandemie breit diskutiert werden, ergehen in der Türkei lediglich Anordnungen der Regierung. Manchmal führt das zu chaotischen Zuständen. Mitte April verkündete die Regierung kurz vor Mitternacht an einem Freitag eine Ausgangssperre für das Wochenende – mit dem Ergebnis, dass sich Tausende Istanbuler in den Geschäften drängten, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Als das Innenministerium Anfang Juni ein weiteres Ausgehverbot verhängte, pfiff Erdoğan kurz darauf seinen Minister zurück und hob die Ausgangssperre wieder auf. Erdoğan gibt, und Erdoğan nimmt.
Eine öffentliche Bühne, um über solche Entscheidungen reden oder streiten zu können, gibt es in der Türkei kaum noch. Die vormals facettenreiche Medienlandschaft wurde eingeebnet. Früher las ich jeden Morgen ein Dutzend verschiedene Zeitungen – aber das lohnt sich heute nicht mehr. Es gibt Tage, da sind nicht nur die Inhalte, sondern sogar die Schlagzeilen in den regierungsnahen Jubelblättern dieselben. Einigermaßen unparteiische oder regierungskritische Meinungen findet man heutzutage fast nur noch im Internet.
Auch die TV-Aufsichtsbehörde RTÜK achtet darauf, dass die Regierungslinie eingehalten wird: Jede Erdoğan-Rede wird live übertragen, die Opposition dagegen totgeschwiegen. Seit Anfang 2019 hat RTÜK unabhängige und oppositionelle Fernsehsender bei 36 Gelegenheiten mit Bußgeldern von insgesamt 1,5 Millionen Euro und Sendeverboten bestraft. Im selben Zeitraum wurden die weit zahlreicheren regierungsnahen Sender gerade einmal mit zwei Verwarnungen und einer Geldbuße bedacht. Ich habe mir längst abgewöhnt, die Fernsehnachrichten anzuschauen.
Susanne Güsten berichtet als freie Journalistin aus Istanbul.
Internationale Politik 4, Juli/August 2020; S. 114-115