Buchkritik

02. Sep 2024

Aggression und Depression: Lektüreempfehlungen zu China

Vier neue Bücher widmen sich dem demokratischen Taiwan und einem China, das längst nicht mehr so stabil ist, wie es das auch im Westen eifrig nachgebetete Propaganda-Narrativ von der autoritär-erfolgreichen Volksrepublik suggeriert.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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In nicht wenigen der zahlreichen westlichen Veröffentlichungen zu Chinas Geostrategie kommt Taiwan in erster Linie als „Faktor“ vor, häufig sogar als „Risikofaktor“. Handelt es sich dabei um eine bewusste oder unbewusste „Framing-Übernahme“, die letztlich die aggressive Ideologie Pekings unterstützt? Dieser Frage widmet sich der seit vielen Jahren in Taiwan lebende Journalist und Auslandskorrespondent Klaus Bardenhagen in seinem neuen Buch. 

Ob amerikanische Waffenlieferungen an Taiwan oder Besuche frei gewählter westlicher Parlamentarier bei ihren ebenso frei gewählten taiwanesischen Kollegen – fast immer sei in solchen Fällen in den Medien, in den Online-Headlines der Agenturen, in Fernseh- und Zeitungskommentaren die bange Frage zu vernehmen, ob und wie sich China nun „verärgert zeigen“ werde. 

„In einer Art vorauseilendem Gehorsam“, schreibt Bardenhagen, nähmen Journalisten „chinesische Reaktionen vorweg, die noch gar nicht eingetreten sind. Platz und Aufmerksamkeit, die Taiwan gut gebrauchen könnte, opfern sie der chinesischen Regierung, als seien deren Positionen nicht längst bekannt. Mit ‚They live in their heads rent-free‘ beschreibt eine englische Redewendung ganz gut, was hier passiert.“

In der Folge könnte dann in der westlichen Öffentlichkeit die rhetorisch zurückhaltende und rein defensiv aufgestellte asiatische Musterdemokratie als der eigentliche Troublemaker erscheinen – und nicht etwa Xis expansionssüchtiges Regime. 

Dass dabei Taiwans eindrucksvolle Erfolgsgeschichte – vom diktatorischen, ja mörderischen antikommunistischen Chiang-Kai-shek-Regime und dessen Nachfolgern hin zu einer transparenten liberalen Demokratie – im Westen bestenfalls als Fußnote hingenommen wird, ist ebenfalls in chinesischem Interesse: „Peking will verhindern, dass die Welt diese Geschichte erfährt. Denn Selbstbestimmung und Freiheit sind über politische Lager hinweg der überwältigende Grundkonsens der taiwanesischen Gesellschaft geworden.“ Kaum eine Entwicklung bereite Peking mehr Kopfzerbrechen, „denn was sich in den Köpfen und Herzen der Menschen entwickelt, kann die KP mit ihren Mitteln weder lenken noch unterdrücken.“

Dabei war Taiwan, auch daran erinnert Bardenhagen in seinem faktenreichen Buch, niemals Teil der 1949 gegründeten Volksrepublik und kann nach dem Völkerrecht deshalb auch nicht „zurückgeholt“ werden. Selbst in Bezug auf ihren Heroen Mao argumentiere die Kommunistische Partei nicht stringent – hatte der doch noch 1938 von einem „Volk Taiwans“ gesprochen und damit quasi den nichtchinesischen Charakter der damals japanisch besetzten Insel anerkannt. 

Die Behauptung, Taiwan sei stets Teil Chinas gewesen, wurzele vor allem im Macht-Legitimatorischen: Im sogenannten (partei-)chinesischen Kulturraum, der im Westen – nicht zuletzt mit Hilfe willfähriger und teils gekaufter Sinologen – als das vermeintlich „ganz Andere“ angepriesen wird, soll nicht einmal auf kleinstem Raum die unaufgeregte Normalität einer freiheitlichen Demokratie existieren. 

Dass Taiwan zahlreiche hausgemachte Probleme hat, dass man sich z.B. zu stark auf die heimische Halbleiterproduktion verlässt und dafür andere Wirtschaftsbereiche vernachlässigt, dass die Bevölkerungszahl zurückgeht und niedrige Löhne zu einem Braindrain führen – auch das wird in Bardenhagens skrupulös recherchiertem Buch ausführlich angesprochen. Der Autor musste dabei allerdings auf keine „Geheiminformationen“ zurückgreifen, denn auch die eigenen Missstände werden in Taiwan konkret, lebendig – und vor allem angstfrei – debattiert.


Homogen statt humanistisch

In eine gänzlich andere Welt führt Tahir Hamut Izgils Buch „In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung“. Der 2017 mit seiner Familie ins amerikanische Exil geflohene Filmregisseur, Lyriker und Aktivist beschreibt ebenfalls Augenöffnendes: die millionenfache Unterdrückung, Internierung und kulturelle Auslöschung der Uiguren, die vielen als Völkermord gilt – nicht etwa als ein „Aspekt“ staatlicher chinesischer Politik, sondern als deren Essenz. Eine ethnische, politische und ideologische Homogenisierung um jeden Preis, die keine Rücksicht auf dabei zerstörte Menschenleben nimmt. 

Bereits 1996 war der Autor für drei Jahre ins Gefängnis gekommen; danach machte er die ­ambivalente Erfahrung eines Künstlers, der seine Unabhängigkeit wahren will. Nach Xi Jinpings Machtantritt wurde er dann Zeuge jenes Wunschdenkens, wie es typisch ist für die Untertanen in despotischen Systemen.

Angesichts der mangelnden Transparenz in der chinesischen Politik, so Tahir Hamut Izgil, seien „die politischen Ansichten und Neigungen neuer Machthaber häufig Gegenstand von Spekulationen“. Und da Xis Vater Xi Zhongxun ein hochrangiger Parteifunktionär und Kritiker der repressiven staatlichen Politik in der Uigurenregion gewesen sei, hätten die uigurischen Intellektuellen gern angenommen, Xi Jinping werde hinsichtlich ihrer Angelegenheiten in die Fußstapfen seines Vaters treten: „aus der Verzweiflung geborene Hoffnungen, der Tagtraum einer geschundenen Gemeinschaft, von ihren kolonialen Unterdrückern irgendwann vielleicht doch besser behandelt zu werden“.

Tahir Hamut Izgil leugnet islamistische Tendenzen bei den Uiguren keineswegs, erwähnt auch Terroranschläge, arbeitet bei all dem jedoch heraus, wie diese Randerscheinungen zum Vorwand für eine großangelegte ethnische Säuberung wurden. 

Besonders schockierend, weil die immensen Möglichkeiten des Regimes aufzeigend: Das forcierte Ineinander von digitaler Moderne und flächendeckender Repression. Hunderttausende Uiguren verschwanden in sogenannten „Studienzentren“, doch selbst jene, die man bislang noch nicht verhaftet hat, bekommen die Instrumente gezeigt: Als der Autor für sich und seine Familie Auslandspässe beantragt, führt im Polizeirevier sein Weg an einer bewusst offenstehenden Tür vorbei, hinter der sich der berüchtigte eiserne „Tigerstuhl“ für das Foltern von Gefangenen befindet, mitsamt mittelalterlich anmutenden Eisenringen für Hände und Füße. 

 Wie alle anderen zum Objekt staatlicher Willkür Degradierten hat auch Tahir Hamut Izgil Stimmproben und Fingerabdrücke abzugeben und muss sich einem langwierigen Gesichts-Scan unterziehen. Danach wird einer seiner Universitätsfreunde zu lebenslanger Haft verurteilt; ein anderer – der Dichter Perhat Tursun, 2022 in Abwesenheit vom schwedischen PEN-Club mit dem Tucholsky-Preis geehrt – verschwindet 2017 infolge der damaligen Massenverhaftungen. 

Als der Autor seine Eltern besucht (die gezwungen werden, sich von ihm zu distanzieren), erfährt er, dass das Nachbarschaftskomitee an jeder Wohnungstür in ihrem Gebäudekomplex eine Kamera installiert hatte: „Die Kameras bezahlen mussten die Anwohner – meine Eltern hatten dafür zweihundertachtzig Yuan beim Nachbarschaftskomitee entrichten müssen.“


Der Traum ist aus

Doch vermag ein Staat, der auf die Gesellschaft solchen Druck ausübt, wirklich auf längere Sicht stabil zu bleiben? Lea Sahay, versierte China-Kennerin und Peking-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, blickt in ihrem Buch in die deprimierende Alltagswelt hinter den Hochglanzfassaden und triumphal präsentierten Wachstumsziffern. 

Denn da ist nicht nur die Todesangst uigurischer Familien, mit einer auswärtigen Journalistin zu sprechen, sondern auch der Frust apolitischer und durchaus angepasster jüngerer Mehrheits-Chinesen, dass der nationale Traum vom gemeinsamen sozialen Aufstieg einem nationalistischen Phantasma geopfert wird, in dem es vor vermeintlichen Feinden im Äußeren und Verrätern im Inneren nur so wimmelt. Derweil müssen Ältere oder Kranke die totale Verarmung fürchten in einem Riesenland, das immer mehr vergreist und dessen Gesundheits- und Sozialsystem beunruhigend rudimentär geblieben ist.

Auch wenn einiges investiert werde, schreibt Sahay, hinke das Land sogar anderen Schwellenländern hinterher. Es gebe kaum Notfallmedizin, das medizinische Personal in den Krankenwagen sei nicht speziell ausgebildet, häufig säßen anstelle von Ärzten und Schwestern nur Sicherheitskräfte in den Wagen. „Xi Jinping ist kein Marxist, er hält jegliche Form der sozialen Wohlfahrt für falsch und populistisch, sie mache die Arbeiter faul. Stattdessen baut er im Sinne Lenins den Sicherheitsapparat aus und heizt den Nationalismus an.“ 

Lea Sahay konstatiert all das ohne Häme. Im Gegenteil. Einst im Jahr 2006 als Austauschschülerin zum ersten Mal nach China gekommen, hatte sie der ökonomische Aufstieg des Landes, von dem Millionen Menschen profitieren konnten, fasziniert. Inzwischen hat sie jedoch als Korrespondentin auf unzähligen (und von offizieller Seite immer stärker reglementierten) Reisen quer durchs Land und in Gesprächen mit Chinesinnen und ­Chinesen aller sozialer Schichten die Realität einer immensen Zäsur erfahren, die sich in allen Bereichen offenbart. 

„Wo selbst Taxifahrer früher mit Begeisterung Englisch lernten, um sich mit ausländischen Gästen unterhalten zu können, schottet sich das Land heute wieder ab. Schüler sprechen weniger Fremdsprachen, dafür sollen sie lernen, wie man Spione erkennt. Auf der Straße rufen Bürger die Polizei, wenn sie Ausländer sehen. Gegenüber seinem Nachbarn Taiwan eskalieren die Drohungen, die Gefahr für die Demokratie vor Chinas Küste war nie größer.“

Das auch im Westen eifrig nachgebetete Propaganda-Narrativ vom autoritär-erfolgreichen China bedarf deshalb dringend einer Korrektur – und zwar nicht allein wegen der desaströs rigiden Null-Covid-Politik und einer darauffolgenden abrupten Total-Öffnung, die bis zu zwei Millionen Menschenleben kostete – was freilich vom Staat verschwiegen wird. 

Nein, es ist nicht immer allein jenes „It’s the economy, stupid“. Was ab den Jahren 2020/22 offenbar wurde, war laut Lea Sahay die Tatsache, „dass unter Xi nicht mehr Deng Xiaopings Hauptsache-die-Katze-fängt-­Mäuse-Pragmatismus regierte, sondern eine ideologisch getriebene, unberechenbare, zuweilen irrsinnige Autokratie, die nicht einmal mehr mit der Aussicht auf Wachstum zu Verstand gebracht werden konnte“. 


Lektüretipp: George Orwell

Wie absurd es wäre, ausgerechnet von diesem Regime ein „moderates Einwirken“ auf Wladimir Putin zu erwarten, beschreibt Adrian Geiges. Der langjährige Auslandskorrespondent und Co-Autor einer Biografie über Xi Jinping geht dabei weit in die Geschichte sino-russischer/sowjetischer Beziehungen zurück, in deren zum Teil dramatischem Auf und Ab die Frontstellung gegenüber dem Westen stets außer Frage stand. 

So sah man – vielleicht mit Ausnahme der Gorbatschow- und Jelzin-Zeit – im jeweils Anderen einen Verbündeten oder zumindest einen nützlichen Joker, um den Westen zu schwächen. Dass neben China nun auch Russland ganz offensiv seine schützende Hand über den nordkoreanischen Nuklear-Tyrannen Kim Jong-un zu halten beginnt, macht die Lage noch explosiver. 

Was also wäre zu tun? Geiges empfiehlt, zuerst einmal weniger auf westliche Unternehmer und deren kurzfristige Profitinteressen zu hören und die sowohl links-„anti-imperialistische“ wie auch neorechte Redefigur von der angeblich segensreichen „neuen multipolaren Weltordnung“ auf ihre illiberale Motivation zu prüfen. Und: „Statt die Ideen der anderen zu verbieten, ­müssen wir unsere eigenen besser darstellen.“ 

Den Verzicht auf Wirtschaftsbeziehungen oder ein Tiktok-
Verbot zugunsten moralischer Appelle, vor allem ans eigene Publikum, hält der Autor dabei für eine ebenso falsche Herangehensweise wie das von vermeintlichen Realisten geforderte Gegenteil, jenen Köhlerglauben an „Wandel durch Handel“. 

Mit einer bereits im Schulunterricht obligatorischen (Neu-)Lektüre von George Orwells „1984“ wären wir – als quasi erstem Schritt – jedenfalls besser für die Flut aus Lügen, Halbwahrheiten, machiavellistischen Drohungen und moralisierenden Beschuldigungen gewappnet, die täglich in Pekings und Moskaus Auftrag durch die sozialen Medien schwappt. Wir würden dann auch, so Adrian Geiges’ Hoffnung, die Freiheitssehnsucht all jener zahllosen Menschen nicht mehr unterschätzen, die sich keineswegs allein durch den sogenannten „sino-russischen Kulturkreis“ definieren, sondern auf jenen ebenso effizienten wie ethischen Menschen- und Bürgerrechtswerten bestehen, welche ja tatsächlich universell sind – was auch immer die Herren in Peking und Moskau und deren Propagandisten im Westen dagegen behaupten mögen.

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Aggression und Depression" erschienen.
 

Klaus Bardenhagen: Die wichtigste Insel der Welt. Was Sie wissen müssen, um Taiwan zu verstehen. Freiburg/Breisgau: Herder 2024. 240 Seiten, 20,00 Euro

Tahir Hamut Izgil: In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung. Uigurische Notizen. München: Hanser Verlag 2024. 272 Seiten, 25,00 Euro

Lea Sahay: Das Ende des chinesischen Traums. Leben in Xi Jinpings neuem China. München: Droemer Verlag 2024. 288 Seiten, 24,00 Euro

Adrian Geiges: Front gegen die Freiheit. Peking, Moskau und ihre Komplizen in aller Welt. München: Piper Verlag 2024. 256 Seiten, 22 Euro

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 120-123

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Marko Martin ist Schriftsteller in Berlin. Ende September erscheint im Tropen Verlag sein Buch „Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober“.

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