Adieu Atomkraft
Noch wird heftig über das Gesetz zur Energiewende debattiert. Umweltministerin Ségolène Royal bezeichnet es als wichtigen Hebel zum Ausstieg aus der Krise, denn eine „transition énergétique“ könnte grünes Wachstum erzeugen und 100 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Andere hingegen befürchten einen Anstieg der Energiepreise.
Es fehlt in Sachen Energiewende nicht an mahnenden Worten. „Wir dürfen nicht vergessen, dass Frankreich im Jahr 2015 im Mittelpunkt der Welt steht“, stellte der Beauftragte des französischen Präsidenten für den Schutz des Planeten fest, der Umweltaktivist und Journalist Nicolas Hulot. Denn schließlich richte Paris dann die UN-Klimakonferenz aus. Hätte Frankreich bis dahin immer noch kein Gesetz zur Energiewende, wäre das, so Hulot, eine richtige Blamage, denn das Land wolle sich doch während dieser richtungsweisenden Veranstaltung gerne als Vorreiter in Sachen Ökologie präsentieren.
Die Zeit wird also knapp, das zu beschließen, was die Franzosen „transition énergétique“ nennen – wobei auch das deutsche Wort „L’Energiewende“ in den Medien auftaucht. Kein Wunder: Mit großer Aufmerksamkeit beobachten die Franzosen, wie die Deutschen ihre Wende meistern wollen. „Natürlich dient heute die deutsche Energiewende – verstanden als massiv gesteigerte Energieeffizienz und beschleunigter Umstieg von atomaren und fossilen auf erneuerbare Energiequellen – international allgemein als Vorbild. Daran muss sich auch Frankreich messen lassen“, sagt der Pariser Kernenergieexperte und Politikberater Mycle Schneider. Insofern folge der französische Gesetzentwurf eher einem Trend als dem deutschen Vorbild.
Ein schneller kompletter Ausstieg wie in Deutschland ist in Frankreich allerdings undenkbar. Atomkraft wird weiter ein wesentlicher Teil des Strommixes bleiben. Und dennoch setzt Präsident François Hollande große Erwartungen in die „transition énergétique“. Mehrmals hat der Sozialist betont, dass dieser Gesetzestext einer der wichtigsten seiner fünfjährigen Amtszeit sein werde, die 2017 endet. Schon während seines Wahlkampfs hatte er eine für Frankreich kleine Revolution angekündigt: Denn der Anteil der Kernenergie an der Stromversorgung soll bis 2025 um 25 Prozent reduziert werden. Mit dieser Ankündigung wollte Hollande sich einerseits eine grüne Wählerschaft sichern, sind die regierenden Sozialisten doch im Parlament auf eine Unterstützung der Grünen angewiesen. Genauso gut weiß Hollande auch, dass das Land im Energiesektor einen großen Investitionsstau und strukturelle Probleme hat. Wegen der vielen Elektroheizungen steigt zum Beispiel der Energieverbrauch im Winter sehr stark an, sodass Frankreich trotz seiner 58 Atomkraftwerke Strom aus dem Ausland importieren muss.
Alternde Reaktoren, steigende Betriebskosten
Auch die Probleme des Stromkonzerns Electricité de France (EDF) bereiten der Politik Sorgen, denn die hohen Sicherheitsauflagen und anstehenden Generalüberholungen der alternden Reaktoren verursachen enorme Kosten. „Sollen die Laufzeiten verlängert werden, muss EDF mit Kosten zwischen drei und vier Milliarden Euro für jeden Reaktor rechnen“, sagt Yves Marignac von der Energie-Informationsagentur WISE in Paris und verweist dabei auf eine Greenpeace-Studie. EDF hingegen geht von „nur“ 1,5 bis zwei Milliarden Euro aus. Fest steht: Die Betriebskosten steigen von Jahr zu Jahr. Die jetzigen Stromtarife decken die Kosten nicht mehr. Die staatliche Regulierungsbehörde hat deshalb erhebliche Preissteigerungen gefordert. „Man geht von plus 30 Prozent zwischen 2012 und 2017 aus. Dann wird der regulierte Atomstrompreis der EDF teurer sein als der bisher teuerste 100-Prozent-erneuerbare-Energien-Strom des Minianbieters Enercoop“, sagt Mycle Schneider. Umweltministerin Ségolène Royal jedoch hat vorerst eine Stromerhöhung ausgeschlossen, obwohl Experten das für dringend geboten halten – vermutlich möchte sie damit Debatten über den Strompreis vermeiden, die das Energiewendegesetz noch ins Wanken bringen könnten.
Das Energiewendegesetz soll aber nicht zuletzt auch dem Ansehen des französischen Präsidenten dienen: Hollandes Umfragewerte sind derzeit die schlechtesten eines Präsidenten in der Fünften Republik. Er sucht Projekte, mit denen er punkten kann: Die Energiewende halten viele Franzosen für notwendig, weil sie sich größere Energiesicherheit wünschen und rasant steigende Energiepreise fürchten. Mehr Energieeffizienz und mehr erneuerbare Energien bedeuten auch mehr Unabhängigkeit von den Zulieferern.
Doch wie soll dieser „Übergang“ aussehen? Soll der starke deutsche Nachbar auch hierbei als Vorbild dienen? Frankreich mag die deutsche Energiewende zwar genau beobachten, doch „viele Franzosen fühlen sich dabei, als würden sie bei einem Autounfall zuschauen“, sagt Severin Fischer, Klima- und Energieexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „In der öffentlichen Wahrnehmung gilt die deutsche Energiewende als kostenintensiv und wenig zielführend bei den ökologischen Zielen“, so Fischer. Man wundere sich, dass die Kohlendioxid-Emissionen trotz Energiewende in den vergangenen Jahren gestiegen sind. Beim Pro-Kopf-Treibhausgasausstoß lägen die Franzosen etwa 30 bis 40 Prozent niedriger als die Deutschen. Auch der Stellenabbau in deutschen Energiekonzernen und die steigenden Energiepreise in Deutschland werden sehr kritisch gesehen. In den Medien heißt es immer wieder, die Deutschen zahlten einen hohen Preis für den Atomausstieg. „Die größten Verfechter dieser kleinen Revolution sind bereits dabei, ihre Ansprüche wieder zurückzuschrauben“, schrieb die Zeitung Le Figaro über die Situation in Deutschland im Juni 2014.
Eine landesweite Debatte über grünes Wachstum
Gerade der Energiepreis ist den Franzosen heilig. Der Endverbraucher zahlt 40 Prozent weniger als ein deutscher Kunde. „In Frankreich gibt es eine intensive Debatte über soziale Gerechtigkeit. Die Verpflichtung des Staates, den Bürgern Grundbedürfnisse wie die Energieversorgung zu gewährleisten, ist sehr viel intensiver als in Deutschland“, sagt Energieexperte Fischer. In der Tat gilt der niedrige Strompreis für die Franzosen in der Industriepolitik als Wettbewerbsvorteil. Die Regierung wird für den Preis verantwortlich gemacht.
Die Sozialisten wissen also: Stark steigende Strompreise könnten eine Revolution auslösen wie einstmals steigende Brotpreise. Im krisengeschüttelten Frankreich wären sie derzeit ebenso wenig durchzusetzen wie Entlassungen im mächtigen Nuklearsektor. Das Thema Energiewende ist also höchst sensibel in einem Land, das derzeit drei Viertel seines Stroms aus den 58 Atomkraftwerken bezieht. 2013 lieferte die Atomkraft 74 Prozent des Bruttostroms. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromsektor beträgt nur 16 Prozent, in Deutschland sind es bereits 25 Prozent. Der Großteil ist Wasserkraft aus überwiegend älteren französischen Anlagen mit 13,3 Prozent (Deutschland: 3,5 Prozent), die Photovoltaik liegt nur bei 0,8 Prozent (5 Prozent), die Windenergie nur bei 2,8 Prozent (8,9 Prozent); 9,4 Prozent stammen von fossilen Trägern.
Weil viele Franzosen die Energiewende fürchten, war es nicht weiter verwunderlich, dass die Präsentation des entsprechenden Gesetzentwurfs ein Jahr länger dauerte als geplant. Landauf, landab wurden Debatten und Anhörungen von Bürgern, Politikern, Gewerkschaften, Verbänden und Energieunternehmen veranstaltet, Vorschläge gesammelt, über die Ziele und die mögliche Umsetzung diskutiert. Dieser Konsultationsprozess hat dazu geführt, dass die Wende gewissermaßen eine Wende nahm – weg von einem nuklearen Thema hin zu einer Debatte über grünes Wachstum, Kreislaufwirtschaft, Energiesparen mit allen Möglichkeiten auf dem Verkehrs-, Wärme- und Gebäudesektor. Im Juni 2014 schließlich stellte Umwelt- und Energieministerin Royal einen Gesetzentwurf vor. Royal gilt als Politikerin, der man die Fähigkeit zutraut, die Energiewende im Laufe der kommenden Wochen durchzuboxen. Sie selbst nennt das Projekt das „ehrgeizigste Transformationsprogramm in der Europäischen Union“.
Der Gesetzentwurf umfasst 80 Artikel und hat zahlreiche langfristige Ziele. Fünf große Punkte prägen ihn: Neben der Reduktion des Anteils der Atomenergie soll der Ausstoß der Treibhausgase bis 2030 um 40 Prozent gesenkt werden (im Vergleich zu 1990). Im selben Jahr soll der Anteil der erneuerbaren Energien am Endenergieverbrauch 32 Prozent betragen; 2012 lag der Anteil bei knapp 14 Prozent. Der Verbrauch fossiler Energien wie Erdöl und Kohle soll bis 2030 um 30 Prozent gesenkt werden (im Vergleich zu 2012). Geplant ist auch, den Energieverbrauch in Frankreich bis 2050 zu halbieren.
Kritik am Entwurf blieb nicht aus. Einige Abgeordnete werfen Royal vor, vor allem gegenüber der Atomlobby und dem Energiemonopolisten EDF eingeknickt zu sein. So hatten die Grünen (die über 17 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung verfügen) gefordert, dass in dem Gesetz das Recht des Staates festgeschrieben wird, Atomreaktoren aus energiepolitischen Gründen stilllegen zu können. Das ist nun nicht der Fall. Auch die Abschaltung des elsässischen AKW Fessenheim wird nicht schwarz auf weiß festgehalten. Präsident Hollande hatte die Stilllegung bis Ende 2016 angekündigt, was für großes Aufsehen gesorgt hatte – auch auf deutscher Seite. Dass dies nicht schriftlich festgelegt ist, begründet man mit juristischen Aspekten: Vermutlich befürchtet die Regierung enorme Entschädigungsforderungen durch den börsennotierten Konzern EDF, würde man eine Stilllegung gesetzlich festlegen.
Ein wichtiger Hebel zum Ausstieg aus der Krise
Die Regierung verfolgt eine andere Strategie. Man geht nicht auf Konfrontationskurs mit der EDF und lässt dem Konzern Freiheit bei den Reaktorentscheidungen, um Spannungen zwischen dem mächtigen Stromerzeuger und der Regierung zu vermeiden. Aber gleichzeitig wird im Entwurf eine Kapazitätsobergrenze bei der Atomenergie von 63,2 Gigawatt festgeschrieben. Das entspricht dem heutigen Stand.
EDF als Betreiber der Atomkraftwerke und Vermarkter des Stroms soll einen mehrjährigen, nach Energiequellen gegliederten Stromplan vorlegen, der mit dem Gesetz übereinstimmen muss. Der Staat ist mit einem Anteil von 85 Prozent größter Aktionär der EDF; er wird prüfen, ob das Unternehmen die Ziele einhält. Der erste Plan betrifft den Zeitraum von 2015 bis 2018. In dieser Periode soll der neue europäische Druckwasserreaktor in Flamanville in Betrieb gehen (das einzige AKW, das derzeit neu gebaut wird). Soll dieser Reaktor die Erlaubnis bekommen, ans Netz zu gehen, wird die EDF wegen der Atomenergie-Obergrenze ein anderes Kraftwerk stilllegen müssen – das könnte Fessenheim sein. Änderungen im Nuklearpark würden im Dialog zwischen Staat und EDF vorgenommen werden, so Ségolène Royal in einem Interview mit Le Monde. Ein Teil der Grünen sieht im Entwurf der Energiewende einen Zeitenwechsel. Anderen geht sie nicht weit genug. Sie befürchten, dass nach den Wahlen im Jahr 2017 eine neue Regierung die Energiewende kippen könnte, weil in Royals Entwurf der erste Stromplan nur auf drei Jahre ausgelegt ist.
Royal bezeichnet die Energiewende als wichtigen Hebel zum Ausstieg aus der Krise. Sie spricht von grünem Wachstum. Die Regierung wolle in den kommenden drei Jahren 100 000 Arbeitsplätze mit Hilfe der Ökologie- und Energiewende schaffen – und das vor allem durch die Förderung erneuerbarer Energien, denn Frankreich hat gerade bei der Photovoltaik und beim Biogas Aufholbedarf. So wird es eine Neuauflage der Ausschreibung für leistungsstarke Photovoltaikanlagen geben. Solaranlagen auf energieintensiven Gewerbe- und Industriegebäuden sowie auf neuen Freiflächen sollen gefördert und für die Errichtung von Offshore-Windenergieanlagen sollen bis 2017 neue Gebiete festgelegt werden. 100 Millionen Euro will die Regierung für 1500 zusätzliche landwirtschaftliche Biogasanlagen bereitstellen. Es sollen Boni von angeblich bis zu 10 000 Euro beim Kauf von Elektrofahrzeugen bereitgestellt und bis 2030 zudem sieben Millionen Ladestationen für Elektroautos errichtet werden. Für energetische Gebäudesanierungen sind Steuererleichterungen von bis zu 30 Prozent vorgesehen und bis 2017 sollen jährlich 500 000 Wohnungen saniert werden (bis 2013 allerdings lag die Anzahl sanierter Wohnungen bei nur 160 000). Auch wurde ein zinsloser Ökokredit mit vereinfachtem Vergabeprozess und 100 000 statt bisher 30 000 Kreditvergaben pro Jahr neu aufgelegt. Haus- und Wohnungsbesitzer sollen künftig verpflichtet werden, bei Dach- oder Fassadenarbeiten solche Sanierungen vorzunehmen. Haushalte mit geringem Einkommen sollen Energieschecks erhalten. Bei öffentlichen Neubauten wird es ab 2016 Pflicht, dass es Positivenergiegebäude sind.
Aber es gibt zahlreiche Probleme beim Ausbau erneuerbarer Energien, zu denen langwierige Genehmigungsprozesse und Umweltverträglichkeitsprüfungen zählen. „Vom Projekt bis zur ersten Einspeisung vergehen in Frankreich bis zu sieben Jahre“, so Energieexperte Fischer. Außerdem habe es in der bisherigen Förderpolitik ein ständiges Stop-and-go gegeben, womit bei Investoren gerade im Bereich der Solarenergie große Unsicherheit bestünde. Die wachsende Bedeutung der Regionen ist ebenfalls nicht förderlich. Zwar setzt Frankreich zu Recht stärker auf eine Dezentralisierung. Einzelne Départements nutzen dies aber auch, um sich ganz gegen Wind- oder Solarenergie auszusprechen.
Vieles ist im Entwurf zur „transition énergétique“ noch nicht konkret – auch die Finanzierung. Die Energiewende kostet vermutlich 20 bis 30 Milliarden Euro jährlich, so Experten. Royal will langfristige Ökodarlehen für kleine und mittelständische Unternehmen sowie Finanzierungshilfen für Gebietskörperschaften von insgesamt fünf Milliarden Euro auflegen. Doch woher nehmen in Zeiten leerer Kassen? „Noch sagt man dem Verbraucher nicht, was ihn die Energiewende kosten wird“, stellt Severin Fischer fest. Royal verspreche vor allem mehr Arbeitsplätze durch grünes Wachstum, ohne dass jemand dabei Einschnitte hinnehmen müsse. „Das mag kurzfristig zum Erfolg der Energiewende beitragen. Ich befürchte, dass am Ende der öffentliche Haushalt das alte und das neue System bezahlt.“ Spätestens im Frühjahr 2015 soll das Gesetz verabschiedet werden.
Michael Neubauer arbeitet als freier Korrespondent für deutschsprachige Medien in Paris. Er ist Mitglied des Journalistennetzwerks Weltreporter.net.
IP Länderporträt 3, November 2014-Februar 2015, S. 38-43