Ach, Berlusconi!
Über italienische Zustände
Nicht nur die Europäer, auch viele Italiener schütteln über die Eskapaden ihres Regierungschefs den Kopf. Allerdings, urteilt der Autor, war die italienische Demokratie bereits vor Berlusconis rabiaten Versuchen, die Justiz lahm zu legen, in einem eher schlechten Zustand – einiges, etwa das neue Wahlrecht, ausgesprochen unabhängige Richter und „die konstante und freundliche Kritik der anderen europäischen Länder“ werde Italien schon noch auf den rechten Weg führen.
Berlusconi, hélas! Ach, Berlusconi! So betitelte nicht nur die französische Le Monde ihren Leitartikel am Tag nach seinem spektakulären Ausrutscher im Europäischen Parlament in Straßburg. Dieser Stoßseufzer spiegelt auch wider, was viele Italiener dieser Tage denken. Darauf deutet eine Meinungsumfrage hin, die kürzlich von Renato Mannheimer in der wichtigsten Tageszeitung des Landes, dem Corriere della Sera, veröffentlicht wurde: Wären heute Wahlen, würde höchstwahrscheinlich die Mitte-Links-Koalition die Mehrheit der Parlamentssitze gewinnen. Aber die Wahlen finden erst im Jahr 2006 statt, und kein Politologe kann heute voraussagen, was in zweieinhalb Jahren passieren wird.
Silvio Berlusconi– ob es uns gefällt oder nicht – personifiziert einige reale und fundamentale Aspekte der italienischen politischen Kultur, die manche Italiener sehr schätzen und andere (wie offenbar die meisten Europäer) mit ähnlicher Intensität ablehnen. Er hat etwas von einem Showstar, manche sagen von einem Clown; weil er ein homo novus ist, fehlt ihm eine lange politische Vergangenheit – was ihm in einem Land, wo die Politiker eh schlecht angesehen sind, zum Vorteil gereicht. Vielleicht noch wichtiger ist, dass er ein Mann des leicht verdienten Geldes ist (und davon sehr viel). Er liebt Fußball, ihm gehört eine der besten italienischen Mannschaften; er hasst Richter und Leute, die anderer Meinung sind als er, und er erzählt ununterbrochen Witze. Vor allem glaubt er, weil er Geld hat, kann er alles und auch das Gegenteil von allem sagen, nach dem Motto: Ich habe Recht, weil ich reich bin. Eine von BerlusconisEigenschaften ist jedoch in jeder Demokratie wichtig: Er ist ein sehr guter Verkäufer. Selbst einem Akademiker wie mir, der keinerlei Erfahrung in Marketing hat, würde es vermutlich gelingen, französischen Champagner von Ambonnayoder Buzyin Berlin zu verkaufen. Wenn es jedoch jemand schafft, mit deutschem Sekt aus dem Rheingau den französischen Markt zu erobern, dann ist er als Verkäufer ein Genie. Berlusconikann – wie der amerikanische Präsidentenberater Karl Rove– alles verkaufen. Ein Land zu regieren, ist allerdings eine etwas andere Aufgabe.
Selbst diejenigen, die nicht voller Bewunderung für die Bush-Regierung sind, würden es für ziemlich absurd halten zu behaupten, dass in den USA die Demokratie in Gefahr sei. Wenn Demokratie jedoch ein anderes Wort für „die Regierung, die uns gefällt“ ist, dann ist Demokratie permanent in Gefahr, denn jede Regierung in einem demokratischen System wird irgendwann einmal Wahlen verlieren. „Schlechte Demokratie“ ist also nicht dasselbe wie „Demokratie in Gefahr“.
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass Italien seit dem Zweiten Weltkrieg eine schlechte Demokratie ist; vielleicht weniger ungerecht als die amerikanische (eine Demokratie kann mehr oder weniger ungerecht sein, das hängt von dem Maß an Ungleichheit ab, das sie produziert und aufrechterhält), aber dennoch ziemlich schlecht. Denn mehr als 40 Jahre lang hat in Italien dieselbe Koalition aus politischen Parteien die Regierung gestellt, so dass Leute aus der Generation meiner Eltern sich schon beklagten, sie wollten nicht „als Christdemokraten sterben“. Und jeder Versuch des italienischen Justizsystems – von der Verfassung her seit 1948 sehr unabhängig –, eine Untersuchung gegen ein Mitglied der politischen Klasse einzuleiten, wurde im Normalfall schon im Keim erstickt mittels der faktischen Kontrolle der Generalstaatsanwälte durch die Politiker. Selbst einer der anständigsten italienischen Politiker der letzten 50 Jahre, Aldo Moro (der wahrscheinlich deshalb ermordet wurde, weil er gegenüber den italienischen Kommunisten zu offen war) pflegte öffentlich zu sagen, dass es unmöglich sei, auf legalem Wege irgend etwas gegen die Democrazia Cristiana zu unternehmen. Giulio Andreotti, der lange Zeit während der so genannten Ersten Republik Ministerpräsident war, verkündete sogar im Parlament, dass nichtgewählte Richter keinerlei Befugnis hätten, über gewählte Volksvertreter zu entscheiden. In dieser Hinsicht hat Berlusconi also nichts Neues erfunden; er hat nur von seinen christdemokratischen Ratgebern gelernt.
Während dieser Epoche der italienischen Geschichte waren auch die Zeitungen alles andere als unabhängig; erst in der siebziger Jahren gelang es Eugenio Scalfari, eine Tageszeitung zu gründen, die weder das Organ einer politischen Partei war noch vom kapitalistischen Establishment kontrolliert wurde: La Repubblica. Das italienische Fernsehen ist seit seinen Anfängen von der Regierung (das heißt der Democrazia Italiana und ihren Koalitionspartnern) monopolisiert worden; die Opposition bekam erst sehr spät einen Kanal, RAI 3, der heute immer noch von der Opposition kontrolliert wird. Viele Jahre lang wurde Italien, wie Japan, in den Handbüchern vergleichender Politikwissenschaft als quasidemokratisches System geführt, weil neben frei konkurrierenden Wahlen das Fehlen von „Wechsel“ zwischen der amtierenden Regierung und ihrem Herausforderer, der linken Opposition, konstatiert wurde. Erst zu Beginn der neunziger Jahre sollte sich das schlagartig ändern.
Denn nun wurde die politische Elite in Mailand vor Gericht gestellt, wo die Lega Nord das Wahlmonopol der Craxi-Sozialisten und Christdemokraten gebrochen hatte, was den örtlichen Strafverfolgern erstmals die Möglichkeit gab, etwas gegen die politische Korruption zu unternehmen. Der wahre Nutznießer dieses politischen Erdbebens war paradoxerweise niemand anderes als – Silvio Berlusconi. Seine politische Karriere verdankt er sozusagen „Mani pulite“, der Aktion „Saubere Hände“ der Mailänder Staatsanwälte. Allerdings hat er sich wenig dankbar gezeigt.
Mit der radikalen Veränderung des Parteiensystems und dem neuen Quasi-Mehrheitswahlrecht wandte sich Italien jedenfalls von dem instabilen und unbeweglichen System der christdemokratischen Regimes ab und einem demokratischen Modell zu, wo Legislaturperioden im Normalfall ihre fünf Jahre dauern, das System bipolarisiert ist und auch die Opposition Wahlen gewinnen kann; was bedeutet, dass die Bürger ihre Regierung tatsächlich wählen können. Mit Romano Prodi war ein Mitte-Links-Bündnis 1996 erfolgreich, und es verlor die Wahlen 2001, als Prodi nicht mehr antrat und Berlusconi das Privileg hatte, gegen einen schwachen Herausforderer zu kämpfen.
Das System wurde also stabiler, aber nicht unbedingt besser. Manche, wie Paul Ginsborg behaupten sogar, dass die italienische Demokratie in Gefahr sei.1 Ist das wirklich so?
Es gibt in Europa – besser gesagt, in den europäischen Regierungszentralen – einen antirömischen Affekt. Gelegentlich ist dieses Gefühl zwar durchaus gerechtfertigt – etwa was den Opportunismus der italienischen Regierung während der Irak-Krise angeht. All die Zweideutigkeiten und Pirouetten, die wir in den vergangenen Monaten erlebt haben, konnten das Land – oder fairerweise seine Regierung – in den Augen der europäischen Öffentlichkeit nur disqualifizieren. Manchmal ist es nicht gerechtfertigt, etwa 1943, als die Italiener lange vor den Deutschen einsahen, dass sie etwas fundamental Falsches taten. Man sollte in der Tat nicht auf einem Fehler beharren, nur um „Konsistenz“ zu beweisen.
Heute, behaupte ich, ist die italienische Demokratie zwar immer noch schlecht, aber nicht schlechter als früher. Natürlich spielt Geld eine größere Rolle im politischen Wettstreit; das heißt aber nur, dass Italien leider immer mehr wie die Vereinigten Staaten wird oder wie einige andere der gegenwärtigen demokratischen Systeme. Lord Dahrendorf würde es vermutlich eine Plutokratie nennen. In der Tat ist der italienische Ministerpräsident nicht nur der Führer der Regierungskoalition (man könnte auch sagen: ihr Eigentümer) sondern gleichzeitig auch der Chef einer sehr wichtigen Unternehmensgruppe.
In der Bundesrepublik Deutschland stellt Artikel 66 des Grundgesetzes strenge Unvereinbarkeitsregeln für den Bundeskanzler auf; in Italien ist das nicht der Fall. Aber es stimmt auch, dass die Unabhängigkeit der italienischen Justiz größer ist als die irgendeines anderen europäischen Landes. Zu meinem großen Missfallen versucht Berlusconi gerade, Italien wie Frankreich aussehen zu lassen, was sein Justizsystem angeht. Antidemokratisch? Nun, fragen Sie mal in Paris nach! Dort wird man Ihnen erzählen, dass die Justiz nicht einmal eine Macht darstellt, ganz zu schweigen von einer Gegenmacht. Und Frankreich ist immerhin das Mutterland des gefeierten Erfinders der Gewaltenteilung, Baron de Montesquieu.
Es stimmt auch, dass der italienische Ministerpräsident in den ersten zwei Jahren seiner Regierung die meiste Zeit mit dem Erzählen von Witzen zubrachte oder nächtens Schlager komponierte, während er den Rest dazu verwandte, Gesetze zusammenzuschustern, die ihn vor Strafverfolgung bewahren sollten. Wie viel eleganter ging da doch Jacques Chirac vor, als er sich seine Immunität von dem renommierten Conseil Constitutionnel garantieren ließ! Letztlich stehen beide Politiker unter dem Zwang, immerdar an der Macht zu bleiben und wiedergewählt zu werden, wenn sie ein Gerichtsverfahren und die mögliche Verurteilung abwenden wollen. Man könnte einwenden, dass der Italiener ein echter Betrüger ist und der Franzose nur auf etwas illegale Weise Geld für die Finanzierung seiner Partei (und den Wahlsieg) einsammelte. Aber in einem Rechtsstaat sind es die Gerichte und nicht die öffentliche Meinung, die die Urteile darüber fällen, wer ein Betrüger ist und wer nicht. Und weder in Italien noch in Frankreich dürfen gegenwärtig dazu die Richter Recht sprechen.
Und wie sieht es mit den Medien in Italien aus? Nun, bekanntermaßen schlecht, da keine Regierung – weder die jetzige noch die vorhergehende unter Führung der Mitte-Links-Parteien – die Auflage des Verfassungsgerichtshofs umgesetzt hat, die Massenmedien pluralistischer zu gestalten. Allerdings muss man sagen, dass heute keine der vier großen Tageszeitungen – Il Corriere della Sera, La Repubblica, La Stampaund Il Messaggero – BerlusconisWeltanschauung auch nur annähernd wiedergibt. Er hat versucht, vor allem den Corrierezu kontrollieren, aber zu seinem Pech ist er nicht reich genug, um ihn sich unter den Nagel zu reißen.
Der deutsche Europa-Parlamentarier Martin Schulz hatte das Recht, zu dem italienischen Ministerpräsidenten zu sagen: Wir mögen Sie nicht und wir trauen Ihnen nicht. Und der Italiener wusste wahrscheinlich nicht, was ein Kapo ist. Leider haben das Europäische Parlament und seine ehemalige Präsidentin Nicole FontaineBerlusconi die parlamentarische Immunität gegeben, dank derer er nun hingehen und die Vertreter der Europäischen Union beleidigen kann. Sehr schlau vom Europäischen Parlament!
Der Zustand der italienischen Demokratie ist schlecht, heute wie früher. Aber sie steht unter der Beobachtung der Europäer, und das ist eine zusätzliche Garantie – falls denn die europäische Demokratie selber „gut“ ist. Berlusconi ist sicherlich ein Ausnahmefall. Aber auf ihre Art sind das Tony Blair und José Maria Aznar auch, die die Bush-Regierung entgegen der öffentlichen Meinung in ihren Ländern unterstützt haben. Was Italien angeht, wird diese Anomalie eines Tages von den italienischen Wählern korrigiert werden. Tatsächlich ist Demokratie allein – also freie und kompetitive Wahlen – nicht genug. Denn in diesem Sinne war sogar die schlechte italienische Demokratie immer demokratisch. Nichts hinderte etwa die Kommunisten daran, 1948 oder später die Wahlen zu gewinnen – nur die Wähler wählten sie nicht. Und Berlusconi verlor 1996 die Wahlen, obwohl er schon eine weit reichende Kontrolle über die Medien hatte. Wenn heute Wahlen wären, würde er sie wahrscheinlich wieder verlieren.
Der Punkt ist, dass, wenn Demokratie nicht durch massive Dosen Rechtsstaat unterfüttert ist, durch verfassungsmäßige Rechtsprechung und eine unabhängige Justiz (jedenfalls im Allgemeinen – die Niederlande und Großbritannien haben ältere und stärkere demokratische Traditionen), jedes demokratische System gefährdet ist. Im Moment war die Attacke auf die in hohem Maße unabhängige Justiz Italiens erfolglos. Der italienische Verfassungsgerichtshof genießt den Ruf einer renommierten Autorität super partes. Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi wird allerorts respektiert und verkörpert die besten Werte und politischen Traditionen des Landes. Selbst in einer schlechten Demokratie gibt es anständige Traditionen. Leider wird Ciampi nicht ewig Präsident sein. Und die Qualität des Verfassungsgerichtshofs könnte sich durch die jüngsten Berufungen in einem Jahr ändern. Aber ich bin völlig sicher, dass meine Altersgenossen nicht als Berlusconianer sterben werden. Mit Hilfe der konstanten und freundlichen Kritik der anderen europäischen Länder wird Italien sicher noch lernen, eine bessere Demokratie zu werden.
Anmerkung
1 Vgl. Ginsborg, Berlusconi, Ambizioni patrimoniali in una democrazia mediatica, Turin 2003.
Internationale Politik 8, August 2003, S. 51 - 56