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01. März 2015

Abwärts mit Abe

Warum die Wirtschaftspolitik des japanischen Premiers nicht funktioniert

Vor zwei Jahren trat Japans Premier mit dem Versprechen an, den ökonomischen Stillstand zu überwinden. Doch Wirtschaft war für Shinzo Abe, Sprössling japanischer Politikerdynastien, nie etwas anderes als Mittel zur Macht. Einst bejubelt, dürften „Abenomics“ als Konzept bald ausgedient haben – und damit die Hoffnung auf wirtschaftliche Wiederbelebung.

Minokamo ist eine Kleinstadt in Gifu, einer Landpräfektur in der Mitte von Japan, dem Kernland seiner Industrieproduktion. Auch in Minokamo konnten die Fernsehzuschauer im Wahlkampf des vergangenen Dezembers jeden Abend erfahren, wie sehr Nippons Wirtschaft sich dank „Abenomics“ erholt habe. Schon an der Börse lasse sich ablesen, dass das Wirtschaftsprogramm von Premier Shinzo Abe Wirkung zeige. Von nun an gehe es bergauf, 2015 würden auch die Löhne anziehen.

Die Menschen von Minokamo hat das nicht beeindruckt, sie wissen es besser. Mehr als die Hälfte der Geschäfte an der Hauptstraße ihres Städtchens sind geschlossen. Die meisten seit Jahren. Die Japaner nennen eine solche Geschäftsstraße eine „Rollladen-Straße“, weil man anstelle von Schaufenstern nur Rollladen sieht, die wohl nie mehr hochgezogen werden. Und Minokamo ist überall.

Die Stadt liegt im Vorland der japanischen Südalpen. Die Hänge sind bewaldet, die Gegend ist grün, aber zersiedelt. In der Ebene liegen Reisfelder und Fabriken nah beieinander, dazwischen Obst- und Gemüseplantagen. An den Werksfassaden hängen weltbekannte Logos: Komatsu, Kawasaki, und – von weither sichtbar – Sony. Doch die Parkplätze vor dem Sony-Werk stehen leer, das Werk wurde vor anderthalb Jahren geschlossen: zur „Konsolidierung der Abläufe“, wie Sony der Presse mitteilte.

Der Elektronikkonzern baute hier die „Xperia“-Smartphones zusammen, die das Geschäft des ehemaligen Branchenführers der Unterhaltungselektronik hätten wiederbeleben sollen. An diese Hoffnung klammerte sich Sony über Schließung des Werkes in Minokamo hinaus. Inzwischen hat sie sich zerschlagen. Aus China, dem wichtigsten Markt für Smartphones, hat Sony sich zurückgezogen. In den USA konnte der einstige Primus mit seinen Xperia-Telefonen lange bei keinem Mobilfunkanbieter landen. Sonys Fernseher produzieren seit zehn Jahren tiefrote Zahlen, 2014 musste die Firma ihre Laptop-Abteilung abstoßen. Und auch mit der Mobilsparte verliert das Unternehmen viel Geld.

Versteckte Arbeitslosigkeit

Die Werksschließung beraubte tausend Beschäftigte ihrer Jobs, die Hälfte von ihnen Ausländer, Frauen von den Philippinen, aus China und Brasilien. Sony behauptete, es würden nur 2000 Stellen gestrichen und niemand werde entlassen. Dem Buchstaben nach stimmte das. Sonys Ingenieure und andere Kräfte mit festen Stellen wurden auf andere Standorte verschoben, ihre Stellen mit der natürlichen Fluktuation reduziert. Japans Großkonzerne entlassen niemanden.

Indes waren 80 Prozent derer, die Sony hier beschäftigt hatte, so genannte Zeitarbeiter. Ihr Arbeitgeber war nicht Sony, sondern ein Broker, der sie vermittelte: die Ausländer für elf Monate, die Japaner für zwei oder drei Jahre. Auch der Broker hat niemanden entlassen, er hat bloß die Verträge nicht erneuert. Die Broker organisieren Unterkünfte und den täglichen Transport ins Werk, Gastarbeitern zudem das Visum. Dafür ziehen sie ihnen einen beträchtlichen Teil der etwa 900 Yen Stundenlohn (umgerechnet 6,15 Euro) ab; auch die Steuern behält der Broker zurück. Viel bleibt da nicht. In Japan arbeiten heute 40 Prozent aller Beschäftigten mit solchen Zeitverträgen, vor allem junge Menschen und Frauen. Sie verdienen für die gleiche Arbeit mindestens ein Drittel weniger als Festangestellte, erhalten keine oder wenig Boni, kaum Sozialleistungen und keine Weiterbildung. Sony war nicht der erste Großkonzern, der sein Werk in Minokamo aufgab, auch Fujitsu und Hitachi hatten hier produziert. Und sind abgezogen. Mit jeder Schließung verliert das Städtchen etwas mehr von seiner Wirtschaftskraft.

Von den Ausländern sind einige nach Hause zurückgegangen, die meisten anderen fanden über ihre Broker neue Jobs. Arbeitslose gibt es in Japan derzeit wenig. Das Zeitarbeiter-System hat es Japan erlaubt, die offizielle Arbeitslosigkeit über viele Jahre der Stagnation kaum je über 5 Prozent ansteigen zu lassen. Man könnte auch sagen, damit habe Tokio eine reale Arbeitslosigkeit versteckt. Die Wirtschaft, die von dieser Flexibilität profitiert, hat diese Vorteile allerdings auch in Phasen höherer Profite nie an die Arbeiterschaft zurückgegeben: weder mit höheren Löhnen noch mit einer Umwandlung der dürftigen Zeitarbeiterverträge in Festanstellungen. Japans große Konzerne horten derzeit zusammengerechnet etwa zwei Billionen Euro. Sie denken aber nicht daran, ihre Leute an diesem Wohlstand teilhaben zu lassen. Die Zeitarbeiter schon gar nicht, zumal die wenig schlagkräftigen Gewerkschaften sich nicht für sie einsetzen.

Japans Konzerne zögern auch, hier zu investieren. Sie wissen, dass der Binnenmarkt schrumpft und es tendenziell schwieriger wird, Arbeitskräfte zu finden. Die Zahl der Japaner im werktätigen Alter verringert sich derzeit um jährlich 1,5 Millionen. Gäbe es einen freien Arbeitsmarkt, müssten die Löhne jetzt steigen. Doch das passiert nicht. Festangestellte wechseln ihre Stellen nicht, die Löhne des stetig wachsenden Heeres von Zeitarbeitern werden von den Brokern kontrolliert. Deshalb gibt es keinen Wettbewerb um gute Arbeitskräfte. Viele japanische Unternehmen sperren sich explizit dagegen, die Löhne anzuheben. Eher lassen sie Stellen unbesetzt. Bauunternehmen und Werften haben im vergangenen Jahr Aufträge abgelehnt, weil sie nicht genügend Arbeitskräfte hatten.

Erst demoralisiert, dann demontiert

Sony und Minokamo sind typisch für die Zustände in Japan. Der Niedergang des Elektronikkonzerns, der vergangenen Dezember zum zweiten Mal nach 2011 schweren Hackerangriffen ausgesetzt war, zieht sich schon lange hin. Einst erfand Sony als Branchenprimus das Transistorradio, die Betacam, den Trinitron-Fernseher, den Walkman und den Discman. Heute produziert die Firma Geräte aus größtenteils zugekauften Komponenten und konfektioniert sie. Aber solche Geräte können auch andere produzieren, teilweise sogar besser, und meist billiger. Sony hat seine Entwicklungsabteilungen erst demoralisiert und später demontiert – und damit seine Identität verloren. Aus einem Unternehmen mutiger Visionäre, die ihren Ingenieuren freie Hand ließen, ist eine Firma geworden, deren Führung mit den alten Fehlern beschäftigt ist und ängstlich agiert, um neue Fehler zu vermeiden.

Wie Sony schlingern viele japanische Exportikonen führungslos dahin. In ihren Leitungsetagen sitzen graue Anzugträger, die schon in der Schule gelernt haben, nur nicht aufzufallen. Auch in den Vorständen sind ausschließlich Männer vertreten, die einer Generation angehören, schon zusammen auf der Uni waren, dann in die Firma eingetreten und ihr ein Leben lang treu geblieben sind. Die Welt jenseits ihrer Unternehmen kennen sie kaum, ja, sie nehmen nicht einmal Urlaub. Wie soll ein Unternehmen, das so geleitet wird, etwas wagen und zu Innovation fähig sein?

Minokamo ist eine von Hunderten kleiner Städte mit einer „Rollladen-Hauptstraße“. In vielen von ihnen stehen auch Kauf- und Bürohäuser leer. Ihre Besitzer finden keine Mieter mehr. Also stellen sie ihre Räume Kindergärten, Spielgruppen, Yoga-Klassen, Schachklubs, Nonprofit- und Freiwilligen-Organisationen zur Verfügung.

Richtig schlecht geht es in Japan nur den wenigsten, viele Zeitarbeiter zählen sich noch zum Mittelstand, obwohl man sie eher als „Working Poor“ klassifizieren müsste. Konsum können sie sich nicht leisten, auch Heiraten und Kinder nicht. Das verschärft die demografische Krise weiter. Kein anderes Land altert so rasch wie Japan. Die Wirtschaft im Hinterland wie in Minokamo kommt allmählich zum Stillstand. Wer Tokio nie verlässt, wo emsig gebaut wird, und wer nur Großstädte und Touristenorte besucht, kann sich diese fundamentale Krise gar nicht vorstellen.

Drei Pfeile im Köcher

Premierminister Shinzo Abe ist vor zwei Jahren mit dem Versprechen angetreten, die mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Stagnation der Wirtschaft zu überwinden. Mit seinem Konzept, den „Abenomics“, habe er „drei Pfeile in meinem Köcher“. Der erste Pfeil ist eine quantitative Lockerung der Geldpolitik in einem Ausmaß, wie sie bisher kein Industrieland versucht hat. Japans Notenbank überschwemmt die Wirtschaft mit Geld; binnen zweier Jahre hat sie die Geldmenge verdoppelt. Der zweite Pfeil sind Infrastrukturprojekte, die die Konjunktur ankurbeln sollen. Als dritten Pfeil versprach Abe Strukturreformen. Jeder weiß, dass sie überfällig sind. Aber jeder Experte versteht darunter etwas anderes. Viele Ideen widersprechen einander. Abes großspurige Ankündigungen sind bisher ziemlich konturlos geblieben.

„Abenomics“ ist im Grunde nur ein neues Etikett für ein altes Problem. Japans Regierungen betreiben seit über einem Jahrzehnt „Abenomics“; sie haben immer wieder Geld in große Infrastrukturprojekte gepumpt, von denen viele nicht gebraucht wurden. Inzwischen verfügt das Land über mehr als 80 Regionalflughäfen, die vor allem von den Inlandsfluglinien angeflogen werden. Dabei wäre man mit der Bahn ebenso schnell in Tokio. Geändert hat sich mit „Abenomics“ nur die Geldpolitik, auch sie nur graduell. Und der Ton der Politik. Schon der Vorgänger von Abes Notenbankchef Haruhiko Kuroda verfolgte eine Politik der monetären Expansion, allerdings zaghaft und verantwortungsvoll.

Nach seinem Amtsantritt im Dezember 2012 blendete Abe mit selbstbewussten Auftritten und Versprechungen die Japaner – und auch die meist regierungsfreundlichen Medien. Besonders beeindruckt waren die ausländischen Investoren. Sie nahmen Abes Versprechungen, jetzt werde alles anders und die Stagnation überwunden, für bare Münze und trieben die Börsenkurse in die Höhe. Das deutete der Premier im Gegenzug als Beweis für den Erfolg seiner Politik. Abe glaubt, seine politische Fortune hänge direkt mit der Stimmung in der Wirtschaft zusammen, und die Börse sei dafür nicht nur der beste Indikator, sie beeinflusse die Stimmung auch. Wenn die Kurse stiegen, so Abe, dann verbreite sich Optimismus, die Leute kauften und die Unternehmen investierten. Mit der Ankurbelung der Wirtschaft verbessere sich die Stimmung weiter und die Leute konsumierten noch mehr. „Abenomics“ als ökonomisches Perpetuum mobile. Folgerichtig haben Abe und sein Wirtschaftsminister Akira Amari die Börse stark geredet. Und weil das offenbar noch nicht genügte, kauft die Notenbank, die schon alle neu ausgegebenen Staatsanleihen übernimmt, nun auch an der Börse gehandelte Fonds, und zwar vor allem an jenen Tagen, an denen die Kurse am Vormittag fallen. Sie betreibt mithin Kurspflege und finanziert das Defizit der Regierung mit der Geldpresse. Ist das noch eine Notenbank?

Abes Regierung hat den staatlichen Pensionsfonds, der die Altersvorsorge der Japaner bisher sehr konservativ verwaltete, angewiesen, diese künftig vermehrt in Aktien anzulegen – und damit die Börse zusätzlich zu befeuern.

Gleichwohl scheint sich das so manipulierte Kursfeuerwerk allmählich zu beruhigen. Finanzkreise in Tokio erwarten, dass einige amerikanische Hedgefonds demnächst weiterziehen werden, weil sie in der Börse von Tokio kaum noch Potenzial sehen, zumal Japans reale Wirtschaft schrumpft. Zurück bleiben werden die Japaner, die, wenn sie Glück haben, kein Geld verlieren.

Geschwächte Währung, überschuldeter Staat

„Abenomics“ hatte bisher zwei Effekte: Durch die Geldpolitik der Notenbank hat der Yen gegenüber dem Dollar in zwei Jahren um ein Drittel an Wert verloren, und die enorme Überschuldung des japanischen Staates ist noch schlimmer geworden.
Der Kursverfall des Yen sei ein willkommener Nebeneffekt der lockeren Geldpolitik, behauptet die Notenbank. Das Ziel sei er nicht. Mit der Geldschwemme wolle er die Deflationserwartung der Japaner durchbrechen, behauptet Notenbankchef Kuroda. Wenn Japan eine Inflation von 2 Prozent erreiche, würden die Verbraucher ihr Geld eher ausgeben. In Wirklichkeit hatten die meisten Verbraucher nie eine Deflationserwartung. Die Preise ließen über die vergangenen 15 Jahre so langsam nach, dass die Japaner es kaum wahrnahmen. Inzwischen beklagen sie sich über steigende Preise: Benzin, Dünger, importierte Lebensmittel und Geräte sind spürbar teurer geworden. Kaufen können sie ohnehin nicht mehr, sie haben dafür gar kein Geld in der Tasche.

Japans Staat steckt mit 250 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in den roten Zahlen. Rechnet man die Schulden der Lokalregierungen, der Unternehmen und die eher geringen Privatschulden dazu, dann sind es 600 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung. Zum Vergleich: In den hochverschuldeten USA summieren sich alle diese Schulden auf „nur“ 300 Prozent des BIP.

Dabei hat Kuroda einen weit gewichtigeren Grund, die Deflation in eine Inflation zu verwandeln. Eine Inflation würde die Schuldenlast des Staates verringern, Deflation vergrößert sie noch. Seit anderthalb Jahrzehnten versichern die japanischen Regierungen, sie würden den Staatshaushalt zumindest ausgleichen, also keine neuen Schulden machen. Als Zeithorizont nennen sie regelmäßig einen Termin, der etwa fünf Jahre in der Zukunft liegt. So auch Abe, der im kommenden Sommer einen „konkreten Plan“ vorlegen will. Bisher hat sich allerdings noch keine Regierung ernsthaft um die Sanierung der Staatskasse bemüht. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, Abe sei es damit ernster als seinen Vorgängern.

„Wahl um nichts“

Japans Wirtschaft schrumpft, die Löhne stagnieren, die Kluft zwischen Metropole und Hinterland wird zusehends größer, und die Staatsschulden wachsen ungebremst weiter. Obwohl die Leitmedien, vor allem das Fernsehen, die alarmierende Lage beschönigen, wissen die Japaner durchaus Bescheid. Und sie wissen auch, dass Abes Politik nicht dazu angetan ist, die Situation zu verbessern. Umfragen zufolge lehnt nahezu die Hälfte der Japaner Abes Regierung ab, nur 40 Prozent unterstützen sie. Alle seine politischen Initiativen – das Wiederanfahren der Kernkraftwerke, ein Geheimhaltungsgesetz, mithin eine Einschränkung der Pressefreiheit und eine Neuinterpretation der Verfassung – werden in Umfragen von einer Mehrheit der Japaner abgelehnt.

Dennoch gewann der Premier mit seiner liberaldemokratischen Partei (LDP) bei den vorgezogenen Unterhauswahlen im Dezember 2014 mit ihrem Koalitionspartner Komeito, einer buddhistischen Partei, eine Zweidrittelmehrheit. Abe, so sagte er, wollte ein Mandat, Abenomics weiterzuführen. Es gebe keinen anderen Weg. Allerdings räumten sogar viele seiner Parteifreunde ein, dass es ihm nicht um Abenomics ging, sondern lediglich um eine Fortsetzung seiner Amtszeit, solange die Gelegenheit günstig war. Denn die desolate und desorganisierte Opposition hat sich von ihrer Schlappe 2012 noch immer nicht erholt. Und im Dezember gab es noch eine ausreichende Zahl von Wählern, die der Überzeugung waren, die Wirtschaft ziehe tatsächlich an. Schon ein Jahr später hätte sich deren Zahl vermutlich schon verringert. Es sei eine „Wahl um nichts“, erklärten einige Abgeordnete der LDP.

Abes Sieg fiel deutlich aus; es war jedoch angesichts der geringsten Wahl­beteiligung seit Jahrzehnten ein schaler Triumph – kein Vertrauensvotum für den Premier, sondern ein Misstrauensvotum für die Opposition. Selbst bei ihrer historischen Wahlschlappe 2009 hatte die LDP zwei Millionen Stimmen mehr erhalten als bei diesem Sieg. Im Wahlkreis Gifu 4, zu dem Minokamo gehört, gewann der 71-jährige LDP-Abgeordnete Kazuyoshi Kaneko, der zum neunten Mal wiedergewählt wurde, sein Direktmandat mit 104 000 Stimmen. Vor zwei Jahren hatte er 121 000 Stimmen erhalten, bei der LDP-Schlappe 2009 sogar 141 000; 2006 waren es noch 156 000.

Viele Japaner sagen, die Partei, die sie wählen möchten, existiere nicht. Die meisten jungen Leute gehen gar nicht mehr wählen. Von dieser Politikverdrossenheit haben vor allem die Kommunisten profitiert: Sie konnten ihre Sitzzahl mehr als verdoppeln. Abe regiert nun mit einer eindrucksvollen Parlamentsmehrheit, aber mit noch weniger Rückhalt in der Gesellschaft als bisher schon. Am deutlichsten fiel sein Sieg im Hinterland aus. Abe half zusätzlich, dass die Stimme eines Wählers in der Provinz bis zu vier Mal mehr Gewicht hat als die eines Großstädters, weil die Wahlarithmetik der Bevölkerungsfluktuation nicht angepasst wurde. Das Oberste Gericht hatte schon die vergangenen Wahlen für verfassungswidrig erklärt, aber das hat Abe nicht beeindruckt.

Shinzo Abe ist mit dem sprichwörtlichen Silberlöffel im Mund geboren; er stammt von Seiten beider Eltern aus politischen Dynastien, die im autokratischen Japan verwurzelt sind. Mütterlicherseits ist er ein Enkel von Nobusuke Kishi, im Zweiten Weltkrieg Wirtschafts- und Munitionsminister der faschistischen Regierung Japans. Nach der Kapitulation steckten die Amerikaner Kishi als Kriegsverbrecher für drei Jahre ins Gefängnis, ließen ihn dann aber laufen. Sie hatten erkannt, dass er ihnen nützlich werden könnte. Von 1957 bis 1960 war Kishi Premier. Gegen den Willen einer großen Mehrheit der Japaner peitschte er die Erneuerung des Militärpakts mit den USA durch. Schon der Großvater versuchte, wie nun sein Enkel, die Verfassung zu revidieren, weil ihr Friedensparagraph Japan jegliche Kriegführung verbietet. Aus seiner Bewunderung für den Großvater macht Abe keinen Hehl. Die Revision der Verfassung ist ihm ein persönliches Anliegen, Japan soll wieder Führungsmacht in Ostasien werden, auch militärisch. So möchte Abe Kishis Werk vollenden – und die Generation des Großvaters rehabilitieren, indem er Japans Geschichte des Zweiten Weltkriegs verbiegt.

Auch Abes Großvater väterlicherseits, Kan Abe, tat sich als Politiker im faschistischen Japan hervor. Sein vergleichsweise liberalerer Vater Shintaro Abe war dann für vier Jahre, von 1982 bis 1986, Außenminister. Nach dessen Tod 1991 erbte der damals 37-jährige Shinzo den Parlamentssitz des Vaters, in dessen Büro er gearbeitet hatte. Seine Frau Akie war die Sekretärin seines Vaters.

Sein ganzes Leben hat Abe in der Machtblase des nationalistischen, revisionistischen Flügels der LDP verbracht. Und er träumt, wie er einmal schrieb, von einem Land, das anmutet wie eine Neuauflage von Nippon in den dreißiger Jahren. Dabei denkt Abe nicht an Repression, die Armut und Militarisierung. „Sein“ Japan ist eines der Reisbauerndörfer, in denen die Menschen einander geholfen hätten und die kleinbürgerlichen Familien noch intakt gewesen seien.

Die Wirtschaft hat Abe nie interessiert, sie war ihm bloß Mittel zum Zweck, seine nationalistischen Ziele durchzusetzen. Mit seiner Bestätigung im Amt hat das Etikett „Abenomics“ seinen Dienst getan. Es dürfte allmählich aus dem politischen Diskurs Japans verschwinden. Und mit ihm die Hoffnung, die Wirtschaft komme wieder auf Touren. Abe dagegen wird darauf pochen, die Wahl vom Dezember habe ihm ein Mandat zu seiner nationalis­tischen Politik gegeben.

Christoph Neidhart ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio.

Bibliografische Angaben

IP-Länderporträt 1, Mär-Juni 2015, S.6-13

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