Abschreckung plus
Hybride Bedrohungen erfordern eine hybride Sicherheitspolitik
Abschreckung war eine Antwort auf Russlands Krieg in der Ukraine. Aber weder sollte sich die NATO auf Russland allein konzentrieren noch reicht Abschreckung aus. Europa ist wegen seiner Offenheit, seiner wirtschaftlichen Interdependenzen und seines Pluralismus verwundbar. Deswegen gilt es, Resilienzen aufzubauen.
Die Ukraine-Krise hat nicht nur „hybride Kriege“ zu einem Modebegriff gemacht, sie beschert Europa auch die Rückkehr der Abschreckungslogik. In der Ukraine ist Militär im Einsatz, die territoriale Integrität des Landes wurde verletzt. Was liegt da näher, als zum Schutz der NATO-Staaten auf Abschreckung zu setzen?
Dieser Logik folgen derzeit viele Staaten, vor allem in Osteuropa, die sich von Russland bedroht fühlen. Sie wollen mit mehr Panzern, Schiffen und Flugzeugen, die sie in Manövern zur Schau stellen, Russland davon überzeugen, dass im Falle eines Angriffs sein Schaden größer sein wird als der erhoffte Nutzen. Deshalb erhöhte die NATO kurz nach Beginn der Ukraine-Krise ihre Präsenz in Osteuropa und beschloss auf dem Gipfel in Wales im September 2014, sich militärisch neu aufzustellen, schnelle Eingreiftruppe inklusive.
Fragwürdig wird diese Logik durch die gleichzeitige Beobachtung, dass das Besondere und Gefährliche an hybriden Bedrohungen die zentrale Rolle ziviler Mittel ist. Sie erlauben, einen Konflikt auf nichtmilitärischen Feldern zu eskalieren (weder die Annexion der Krim noch der Einfall in die Ostukraine wurden mit Panzerdivisionen eingeleitet). Sie bleiben unterhalb der Schwelle, die im Westen als Einsatz militärischer Gewalt angesehen wird und auf die EU und NATO reagieren könnten. Doch gegen irreguläre Kämpfer, die Sabotageakte durchführen, gegen Propaganda und Cyberattacken helfen konventionelle Waffen nicht.
Die fehlende Möglichkeit zur unmittelbaren Reaktion lässt den Westen hilflos erscheinen – und fördert militärischen Aktivismus. Doch damit droht eine doppelte sicherheitspolitische Schieflage: erstens eine Überbetonung des Militärischen bei der Analyse der Bedrohungen und der Wahl der Mittel und zweitens eine Verengung auf Russland als einzig möglicher Konfliktgegner. Dabei zeigt doch der Ukraine-Konflikt vor allem eines: Europa ist in den Bereichen, die seit dem 11. September 2001 unter dem Thema „Verwundbarkeiten“ diskutiert werden und die das „Hybride“ ausmachen, immer noch angreifbar.
Deshalb muss eine hybride Sicherheitspolitik Abschreckung neu denken – mit dem Militärischen als Bestandteil, aber nicht im Zentrum. Es geht weiterhin darum, einen möglichen militärischen Angriff zu verhindern. Doch weil eine Eskalation gerade in der Anfangsphase auf nichtmilitärische Verwundbarkeiten zielen kann, müssen diese Schwächen besonders berücksichtigt werden.
Abschreckung besteht hier nicht in der Drohung mit einem „Gegenschlag“ – Gegenpropaganda oder die Aufwiegelung von Minderheiten in anderen Ländern sind für EU und NATO keine Mittel. Eine Eskalation kann nur dadurch verhindert werden, dass die zivilen Strukturen westlicher Gesellschaften resilienter werden, also belastbarer und widerstandsfähiger gegen die Versuche, ihre Verwundbarkeiten auszunutzen. Sollten Abschreckung und Resilienz einen Angriff nicht verhindern können, bleibt Verteidigung die notwendige Antwort.
Krieg mit zivilen Mitteln
Das wesentliche Merkmal hybrider Taktiken ist der Einsatz ziviler Mittel in gewaltsamen Konflikten. Das ist nicht neu. Vielmehr ist es ein Grundprinzip von Strategie, zur Durchsetzung der eigenen Interessen alle Mittel einzusetzen, und dies geschieht am effektivsten, wenn deren Einsatz orchestriert wird. Streitkräfte sind in hybriden Auseinandersetzungen nicht primär Mittel der Gewaltanwendung: Die bis zu 40 000 Soldaten, die Russland zeitweise entlang der ukrainischen Grenze postiert hatte, waren vor allem Drohkulisse, Schild und Versorgungspunkt für die unkonventionellen Kräfte, die in der Ukraine kämpfen. Die Vorstellung vom Krieg als Kampf zwischen zwei Armeen greift hier nicht.
Die irregulären Maßnahmen sollen den Konflikt in Bereiche tragen, in denen die (militärischen) Fähigkeiten des Gegners weniger entscheidend sind. So sollen die Schwächen und soziale Verwundbarkeiten ausgenutzt werden, um einen Staat zu destabilisieren und die Gesellschaft zu polarisieren. Damit dehnt sich auch der Graubereich zwischen Krieg und Frieden aus. Gewalt wird zwar eingesetzt, sie kann aber keiner Konfliktpartei eindeutig zugeordnet werden. Und diese Gewalt hat nicht immer einen klaren militärischen Charakter. Damit einher geht eine Aushöhlung des völkerrechtlichen Gewaltverbots, was wiederum eine geschlossene Reaktion der internationalen Gemeinschaft erschwert. Russlands Verhalten legt hier die Probleme der Europäer im Umgang mit hybriden Ansätzen offen: Oftmals werden Mittel eingesetzt, die europäischen Normen zuwiderlaufen, etwa die Aufwiegelung von Minderheiten.
Aber Russland hat kein Monopol auf hybride Taktiken – auch andere Akteure können diese einsetzen. Deshalb müssen sich NATO und EU von dem engen Russland-Fokus lösen und über die akute Krise hinaus denken, indem sie Europas generelle Verwundbarkeiten ins Zentrum einer hybriden Sicherheitspolitik stellen.
Vier Verwundbarkeiten
Diese Verwundbarkeiten existieren in vier Bereichen: Erstens ist und bleibt Europas territoriale Unversehrtheit bedroht. Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts zwischen EU/NATO und anderen Akteuren ist gestiegen. Ein Grund dafür ist militärische Schwäche. Die NATO selbst hat festgestellt, dass sie für einen großen zwischenstaatlichen Konflikt nicht ausreichend vorbereitet ist. Andere Akteure könnten versucht sein, diese Schwäche zu nutzen, um ihre Interessen militärisch durchzusetzen. Ein solches Szenario wird vor allem für das Baltikum befürchtet. Außerdem können sich die Europäer einem Konflikt an den eigenen Grenzen, sei es im Osten oder Süden, kaum entziehen – weil das Grenzgebiet destabilisiert, europäische Interessen berührt würden oder weil Kämpfe übergriffen. Deshalb beteiligen sich europäische Staaten etwa am Kampf gegen den „Islamischen Staat“.
Zweitens kann mangelnde politische Geschlossenheit Europa verwundbar machen: Die Ukraine-Krise hat verdeutlicht, dass die Europäer nur dann Einfluss haben, wenn sie gemeinsam handeln. Gegenüber Russland hätten individuelle Verhandlungsangebote oder Sanktionen kaum Gewicht. Die Geschlossenheit der Europäer ist aber zugleich ein verwundbarer Punkt. Zwar herrscht in ganz Europa Besorgnis über das russische Vorgehen, doch in Teilen Osteuropas sieht man sich viel unmittelbarer bedroht. So ist in den baltischen Staaten die Erinnerung an ihre Annexion durch die Sowjetunion 1940 noch recht frisch. Für andere Europäer hingegen, gerade im Süden oder Westen, ist Russland nicht das Hauptproblem. Frankreich etwa beunruhigt eher die Instabilität der Sahel-Zone. Zudem deuten die Europäer den Konflikt in der Ukraine unterschiedlich, insbesondere aufgrund der schwierigen Zurechenbarkeit hybrider Aktivitäten. Das birgt Spaltungspotenzial.
Drittens ist Europa verwundbar, weil die westlichen Gesellschaften im Zuge der Globalisierung enorm abhängig geworden sind von internationalisierten Infrastrukturen und Strömen an Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital. Und die Verflechtungen beschränken sich nicht auf das europäische Territorium, wie im Falle der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen. Sie sind weltweiter Natur – bei Handel, Energie, Rohstoffen oder Infrastrukturen, etwa der Internetkommunikation. Die Offenheit, von der Europa so profitiert, macht es auch anfällig für Störungen seiner globalen Interdependenzen.
Viertens kann die Pluralität der westlichen Gesellschaften zu einem wunden Punkt werden. Die wesentliche Lehre aus der Ukraine-Krise lautet, dass der Beginn einer Eskalation derzeit wohl nicht in der Invasion einer Panzerdivision aus dem Osten bestehen würde, sondern darin, dass Staaten von innen destabilisiert werden, etwa indem Minderheiten aufgewiegelt werden. So befürchten die baltischen Staaten eine Instrumentalisierung ihrer russischen Minderheiten. Neben diesen sozialen Verwundbarkeiten sind auch die technischen Grundlagen gesellschaftlichen Lebens immer größeren Risiken ausgesetzt. Infrastrukturen, die das Funktionieren unserer Gesellschaften gewährleisten – Versorgung mit Wasser und Strom, Transportwesen, Finanz- und Wirtschaftssysteme – befinden sich oftmals in privater Hand. Sie sind eher auf Profit ausgelegt und nicht darauf, unter Konfliktbedingungen zu funktionieren.
Dreiklang als Leitmotiv
Die Ukraine-Krise kann die strategische Ausrichtung westlicher Sicherheitspolitik beeinflussen, weil sie die erheblichen Verwundbarkeiten der Europäer aufdeckt und daran gemahnt, dass künftig auch andere Akteure hybride Taktiken anwenden könnten. Das Leitmotiv für Europas hybride Sicherheitspolitik muss daher ein Dreiklang aus Abschreckung, Resilienz und Verteidigung sein.
Abschreckung: Der militärische Konflikt, als konventioneller Krieg oder als Teil einer hybriden Taktik, bleibt ein Risiko, gegen das sich Europa wappnen muss. Im Kalten Krieg hatte Abschreckung eine konventionelle und eine nukleare Komponente. Infolge der Ukraine-Krise hat die NATO als Abschreckungssignal ihre konventionellen Kräfte verstärkt. Die Neuaufstellung des Bündnisses ist im Readiness Action Plan verankert, der bis zum nächsten Gipfel 2016 in Warschau umgesetzt werden soll.
Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, was aus der nuklearen Abschreckung wird. Russland hat in den vergangenen Monaten die Drohkulisse eines Kernwaffeneinsatzes aufgebaut, um NATO- und andere Nachbarn einzuschüchtern. Es hat demonstrativ die Einsatzfähigkeit der russischen Nuklearwaffen unter Beweis gestellt, etwa durch häufigere Flüge von atomwaffenfähigen Bombern. Nun befürchten insbesondere die osteuropäischen Alliierten, dass Moskau atomares Säbelrasseln zum elementaren Bestandteil seiner Politik macht und einen Einsatz dieser Waffen ernsthaft erwägt. Die Allianz muss daher überlegen, ob sie ihre Nuklearstrategie anpassen muss (siehe auch den Beitrag von Karl-Heinz Kamp in dieser Ausgabe).
Zudem tritt eine dritte Dimension der Abschreckung in den Vordergrund: die zivile. Denn die Prävention einer mit hybriden Mitteln betriebenen Eskalation erfordert zivile Maßnahmen, die direkt und schnell den Versuch beantworten, Abhängigkeiten und Schwächen auszunutzen. Wie etwa kann sich die estnische Regierung darauf vorbereiten, dass in russischsprachigen Städten Provokateure Behörden besetzen oder es zu Ausschreitungen kommt? Neben den unter „Resilienz“ beschriebenen Strukturmaßnahmen geht es um innere Sicherheit, vor allem um das Funktionieren von Polizei und Verwaltungen. So können militärische Spezialkräfte den Grenzschutz unterstützen, Polizei und Justiz bei der Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung.
Resilienz: Vernetzung und Offenheit sind die größte Stärke und Schwäche westlicher Gesellschaften zugleich. Deren Belastbarkeit gilt es zu erhöhen. Sie sollten in die Lage versetzt werden, sich von etwaigen Angriffen auf Werte oder Funktionsweisen des Zusammenlebens rasch zu erholen. Weil dies geschehen muss, bevor hybride Taktiken angewandt werden, ist Risikovorsorge eine zentrale Aufgabe, inklusive verbesserter Früherkennung. Die Schwächen, die sich ausnutzen lassen, reichen von wirtschaftlicher Abhängigkeit bis zu unzufriedenen Minderheiten; daher müssen Schutzmaßnahmen einen weiten Bereich abdecken – Infrastruktur ebenso wie etwa Presse- und Meinungsfreiheit.
Zugleich sollte der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Gefragt ist hierzu eine Migrations- und Integrationspolitik, die die Diversität von Gesellschaften als schützenswerte Grundlage ansieht und Zuwanderung steuert. Es gilt, Radikalisierungen den Boden zu entziehen und Minderheiten so zu integrieren, dass sie gegen Aufwiegelung unempfindlich werden. Vereinfacht formuliert sind also Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik die beste Sicherheitsvorsorge.
Im Baltikum kann dies unter anderem durch ein besseres Angebot an Jugendarbeit und russischsprachigem Fernsehen geschehen. Aber auch internationaler Handel und Grenzsicherheit bieten Instrumente, um die Resilienz zu erhöhen. Es geht etwa darum, die Grenzen zwischen den baltischen Staaten und Russland so zu befestigen, dass irreguläre Kämpfer nicht einfach einsickern können.
Die Resilienz der technischen Grundlagen von Gesellschaften lässt sich vor allem mit Redundanz, Netzwerkstrukturen und alternativen Versorgungswegen herstellen, im Energiebereich zum Beispiel durch eine Diversifizierung der Versorgung.
Verteidigung: Scheitert die Abschreckung, bleibt die Verteidigung von Territorium und staatlichen Institutionen gegen einen militärischen Angriff die zentrale Aufgabe. Darüber darf das Krisenmanagement aber nicht vernachlässigt werden, denn die EU- und NATO-Staaten können ihre Sicherheit nicht allein durch den Schutz von Territorium gewährleisten. Angesichts globaler Interdependenzen werden sie ihre Sicherheit auch künftig außerhalb Europas verteidigen müssen.
Der Einsatz militärischer Gewalt bleibt hier ein letztes Mittel bei akuter Gefahr. Vorgelagert ist der Einsatz politischer und ökonomischer Mittel für eine stabile internationale Ordnung, die jene Offenheit und Vernetzung stärkt, von denen Europa profitiert. Dies gilt auch deshalb, weil trotz Kräfteverschiebungen in der globalen Ordnung bislang keine der aufstrebenden Mächte in großem Maße internationale Verantwortung übernehmen will.
Die nächsten Schritte
Hybride Sicherheitspolitik ist primär Aufgabe der Staaten, denn die meisten Handlungsmöglichkeiten liegen auf nationaler Ebene. Doch oft verfügen die Staaten nicht – oder nicht in ausreichendem Maße – über die notwendigen Mittel. Deshalb sollten sie einen „Europäischen Maßnahmenplan zur hybriden Sicherheitspolitik“ entwerfen, der EU- und NATO-Instrumente einbindet.
Der erste Schritt wäre eine Analyse, wo und wodurch Europas Zusammenhalt verwundbar ist und welche Folgen es für alle Staaten hätte, sollte einer von ihnen keine ausreichende Unterstützung erfahren. Die Ergebnisse könnten die Bereitschaft der Staaten erhöhen, sich vor der nächsten Krise auf mehr gegenseitige Hilfe zu einigen.
In einem zweiten Schritt müssten die Europäer die vorhandenen Instrumente von Sicherheitspolitik und Risikovorsorge besser miteinander verbinden – nämlich Abschreckung, Resilienz und Verteidigung – und den Mix aus zivilen und militärischen Anteilen daran neu justieren. Beides erfordert eine sinnvolle Arbeitsteilung und bessere Kooperation zwischen EU und NATO.
Seit dem Harmel-Bericht von 1967 ist Abschreckung fest im westlichen sicherheitspolitischen Denken verankert. Sie muss heute an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Der Harmel-Bericht stellt der Abschreckung aber auch eine zweite zentrale sicherheitspolitische Aufgabe zur Seite: Deeskalation durch kooperative Sicherheit. Diese Aufgabe zur Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung besteht bis heute.
Dr. Claudia Major arbeitet in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Dr. Christian Mölling arbeitet in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der SWP.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 46-51