In 80 Phrasen um die Welt

30. Juni 2025

In 80 Phrasen um die Welt: „Strategische Ambiguität“

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Bild: Illustration eines Spruckbandes das die Erde umkreist
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Wenige Wochen nach Amtsantritt begann die neue Bundesregierung, den Begriff der „strategischen Ambiguität“ zu benutzen. Man werde nicht mehr präventiv über einzelne Waffensysteme für die Ukraine debattieren, hieß es aus Berlin, und keine Lieferung offiziell bestätigen. Deutschland solle künftig für Putin „unkalkulierbar“ sein. Das war ein Bruch mit Olaf Scholz’ Vorliebe für Rote Linien, für den wiederholten, öffentlichen Ausschluss von Taurus-Marschflugkörpern und Bodentruppen. 

Ein bemerkenswerter Wandel: von demonstrativer Besonnenheit hin zu gezielter Unklarheit? Es war, als wollte Friedrich Merz mit einem Wort von Bertolt Brecht signalisieren: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

Zweifel an der Entschlossenheit der schwarz-roten Koalition kamen allerdings sofort auf. War die angebliche Ambiguität nur ein Versuch, die altbekannte deutsche Zögerlichkeit zu verschleiern? Oder würde Merz seinen sonoren Ankündigungen Taten folgen lassen? 

Zuerst wollte der neue Kanzler von der Ansage des gleichnamigen Oppositionsführers, er werde Taurus liefern, „wenn der Kriegsterror gegen die Zivilbevölkerung nicht binnen 24 Stunden aufhört“, nichts mehr wissen. Merz sagte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zwar zu, Milliarden in die Entwicklung ukrainischer „long range fire“-Kapazitäten zu investieren. Doch die Bedeutung des deutschen Marschflugkörpers wurde plötzlich auffällig heruntergespielt. SPD-Politiker schlossen eine Taurus-Lieferung sogar explizit aus.

Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem: Strategische Ambiguität ist eben nicht mit Unentschiedenheit zu verwechseln. Ambiguität bedeutet, die Gegenseite im Unklaren zu lassen, ob man auf eine bestimmte Weise handeln werde.„Strategisch“ ist das nur, wenn der Konterpart tatsächlich fürchten muss, dass man bereit ist, weiterzugehen als man öffentlich sagt. Dann muss der Gegner sein Kalkül darauf einstellen.

Das klassische Beispiel ist die Haltung der USA in der Taiwanfrage: Amerika gibt keine eindeutige Sicherheitsgarantie ab. Wie die USA sich im Pazifik militärisch aufstellen; wie sie Taiwan mit Waffen beliefern; wie sie China vor aggressiven Handlungen warnen – all das spricht implizit für den Schutz der Insel durch Amerika. Mehr nicht. Peking muss fürchten, dass die USA sich einmischen würden, bekommt aber keinen Vorwand für eine Intervention. Taiwan wiederum kann nicht sicher davon ausgehen, von den USA verteidigt zu werden. Daraus folgt zweierlei: China wird durch das Risiko eines direkten Großmachtkrieges abgeschreckt; Taiwan muss mehr für die eigene Verteidigung tun, um die Ungewissheit des Beistands zu kompensieren. 

Ob strategische Ambiguität ihr Ziel erreicht, hängt paradoxerweise davon ab, ob der Gegner glaubt, dass man im Zweifelsfall riskieren würde, sich eben doch eindeutig zu verhalten. Gut, dass Deutschland sich mit solchen unbequemen Gedanken anfreundet. Das ist ein tiefgreifender Wandel. Die Strategie der Zweideutigkeit ist schwer zu erlernen für eine Nation, die aus guten historischen Gründen immer auf Berechenbarkeit gesetzt hat.

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Jörg Lau ist politischer Korrespondent der ZEIT in Berlin und Kolumnist der „80 Phrasen“.

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