In 80 Phrasen um die Welt: „Wir müssen realistisch sein“
Mit dem Krieg ist die Sprache der Realpolitik zurückgekehrt. Alle Staaten verfolgen berechtigte Sicherheitsinteressen, sichern ihre Einflusszone, versuchen ihre Macht zu mehren. Großmächte wie Russland haben weiter reichende Mittel als gewöhnliche Nationen. Darum ist es besser, einem Interessenausgleich ins Auge zu sehen, auch wenn das bedenkliche Zugeständnisse bedeutet. So in etwa die Argumente der „Realisten“.
Die erforderlichen Kompromisse werden im Vokabular tragisch-heroischer Staatskunst anempfohlen: „schmutzig“, „unappetitlich“ und „schmerzhaft“ seien sie wohl, aber eben doch unvermeidlich. Ach, die Tragödie der Großmachtpolitik! Wer zögert, der Macht nachzugeben, wird als naiv, unreif, gefühlsgeleitet diskreditiert. Ein herber Duft männlich-nüchterner Entscheidungsfreude liegt in der Luft, ein Hauch romantisch-tragischer Amoralität.
Dieser „Realismus“ hat unverkennbar einen Gender-Bias: „Idealismus“, „Moralismus“, „Emotionalität“ und andere feminin konnotierte Zuschreibungen stehen der empfohlenen distanziert-sachlichen Staatsklugheit entgegen. Es ist kein Zufall, dass Außenministerin Annalena Baerbock ein bevorzugtes Ziel „realistischer“ Polemik ist. Sie lädt mit Bezugnahmen auf ihre besondere Empathie „als Mutter“ leider selbst dazu ein, ihre proukrainische Politik als Folge einer genderspezifischen Urteilsschwäche abzuqualifizieren.
Das ist eine schädliche Kommunikationsstrategie. Denn Baerbocks Russland- Bild ist realistischer als das der Männer, die ihr gegenüber als harte Pragmatiker auftreten. Schon im Wahlkampf 2021: Unvergessen, wie sie die Pipeline Nord Stream 2 nüchtern ein „geostrategisches Instrument des Kreml“ nannte, und Olaf Scholz und Armin Laschet das belächelten. Es handele sich um ein „rein wirtschaftliches Projekt“. Die vermeintlichen Realisten waren die Naiven. Sie hatten völlig unrealistische Annahmen über Putins rationales Kalkül.
Das Problem des russlandpolitischen „Realismus“ ist sein illusorisches Verständnis von Putins Regime. Sein prominentester Vertreter, der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer, hielt es bekanntlich für undenkbar, dass Putin die Ukraine angreifen würde. Putin galt solchen „Realisten“ als Verkörperung ihrer Prinzipien: Zweifellos war der Mann hart und rücksichtslos, aber doch rational. Er wahrte das nationale Interesse, kalt abwägend maximierte er Russlands Macht.
Was Mearsheimer durch die Brille seines Realismus nicht sehen konnte: Putin war zum Revisionisten der internationalen Ordnung geworden; aus großrussisch-ideologischer Verblendung fällte er katastrophale Fehlentscheidungen. Putin war bereit, das nationale Interesse seines Landes einer Fantasie, einer imperialen Mission zu opfern.
Wladimir Putin, welche Ironie, ist heute die wandelnde Widerlegung zentraler Annahmen der Realistischen Theorie – angefangen mit der oft zitierten Maxime des Thukydides, die politische Welt gründe darauf, dass „die Starken tun, was sie wollen, die Schwachen aber tun, was sie müssen“.
Die Stabilität der internationalen Ordnung (allein) auf dem Recht des Stärkeren (und der Unterwerfungsbereitschaft der schwächeren Seite) aufzubauen – das ist einfach nicht realistisch.
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Wir müssen realistisch sein" erschienen.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 15
Teilen
Themen und Regionen
Artikel können Sie noch kostenlos lesen.
Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.