Zwischen Skylla und Charybdis
Neue Studien zur Rolle der Zivilbevölkerung im Krieg
Als erstes Opfer des Krieges gilt einer geläufigen Wendung zufolge die Wahrheit. Das erste Opfer des asymmetrischen Krieges ist allerdings oftmals die Zivilbevölkerung, die zwischen das Feuer von regulären und irregulären Kombattanten gerät. Was lässt sich zu ihrem Schutz unternehmen, wie lassen sich Verbrechen ahnden? Vier Versuche.
In der historischen Rückschau war es eher die Regel als die Ausnahme, wenn die einheimische Bevölkerung zwischen die Skylla von Terror durch Aufständische und die Charybdis von Repressalien durch Aufstandsbekämpfer geriet. Eine Fülle von Belegen dafür liefert Beatrice Heuser in ihrer luziden Darstellung der Geschichte des asymmetrischen Krieges.
Die an der Universität Reading lehrende Historikerin und Politologin nennt das Beispiel der russischen Kosaken zur Zeit Napoleons. Ihnen sei es in erster Linie darum gegangen, die Versorgungswege des Gegners abzuschneiden. Dass darunter das Verhältnis zur Bevölkerung litt, habe man billigend in Kauf genommen – entsprechend gefürchtet seien die Kosaken auf dem ganzen Kontinent gewesen. So zählte der russische General Davydow zu den Aufgaben seiner Leute das Abbrennen von Dörfern im Feindesland und auf russischem Boden – gezielt oder als Kollateralschaden beim Angriff auf gegnerische Magazine, Hospitäler oder Verschanzungen.
Auch später lassen sich, so Heusers Untersuchungen, jede Menge Beispiele für Gewalttaten von Aufständischen nennen, die gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren. So schrieb in den 1830er Jahren der italienische Freiheitskämpfer Carlo Bianco, man solle lieber die eigenen Felder, Gehöfte und Dörfer abbrennen, als sie dem Gegner zu überlassen. Und in Mexiko setzten während der Intervention von Frankreich und Österreich 1863 bis 1867 republikanische Truppen und Banden Gewalt ein, um die Unterstützung der Dörfer gegen die kaiserlichen Einheiten und die Streitkräfte der europäischen Interventionsmächte zu erzwingen, die ihrerseits nicht in der Lage waren, die Bevölkerung ausreichend zu schützen.
Heuser beschreibt, wie der Terror benutzt wurde, um Repressalien zu provozieren, die zuvor neutrale Bevölkerungsgruppen auf die eigene Seite ziehen sollten. So habe die IRA im irischen Freiheitskrieg 1919 bis 1921 die loyalistische Bevölkerung drangsaliert, um Vergeltungsaktionen der britischen Krone hervorzurufen. Von „beeindruckender“ Grausamkeit seien zum Teil auch sowjetische Strafmaßnahmen gegen tatsächliche und vermeintliche Kollaborateure mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg gewesen.
Zu den Faktoren, die im Algerien-Krieg 1954 bis 1964 zur Eskalation beitrugen, zählt Heuser den Terror der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN). Auf deren Konto geht eine Reihe von Massakern in arabischen Dörfern, deren Bewohner im Verdacht standen, mit der Kolonialverwaltung oder mit einer rivalisierenden Gruppe von Aufständischen zu sympathisieren. Schätzungsweise fünf Sechstel der Opfer des FLN-Terrors waren Muslime, nur ein Sechstel war europäischer Abstammung. Dabei waren die Praktiken der FLN mittel- wie langfristig deutlich kontraproduktiv, wie Heuser mit Blick auf die politische Entwicklung Algeriens seit der Unabhängigkeit, vor allem die Polarisierung der Gesellschaft und die zahlreichen Gräueltaten in den achtziger und neunziger Jahren, feststellt.
Bestätigt sieht sich Heuser durch die Geschehnisse in Kambodscha, wo die aufständischen Roten Khmer nach ihrem Sieg unter Pol Pot die Bevölkerung 1975 bis 1979 mit Terror und Massenmord letztlich vergeblich zu beherrschen versuchten.
Besonders perfide Manipulations- und Brutalisierungsmethoden erkennt Heuser bei der Rekrutierung von Kindersoldaten, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kambodscha, Mosambik und Sierra Leone geschah. Bandenmitglieder drangen in Dörfer ein, töteten alle Erwachsenen und nahmen die Kinder mit. Diese wurden dann nach Berichten von Human Rights Watch unter Drogeneinfluss zu besonders grausamen Handlungen angeleitet, um ihnen jegliches Schuldempfinden zu nehmen.
Die Wirkung solcher Initiierungs- und Brutalisierungsprozesse hat Heuser auch bei Erwachsenen beobachtet. Sie zitiert Berichte aus dem Jugoslawien-Konflikt, nach denen neue Rekruten für serbische und kroatische paramilitärische Einheiten gleich zu Beginn dazu gebracht wurden, Kriegsverbrechen zu begehen. Dadurch seien sie in einem Teufelskreis gefangen gewesen: Als Kriegsverbrecher konnten sie nun nicht mehr andere Mitglieder ihrer Gruppe solcher Verbrechen bezichtigen und sie an die Polizei oder andere staatliche Instanzen verraten.
Die Gleichgültigkeit des Tötens
Wer nach der Lektüre von Heusers historischer Bestandsaufnahme der Welt der Rebellen, Partisanen und Guerilleros versuchen will, die dunklen Seiten der menschlichen Zivilisation gedanklich noch tiefer zu durchdringen, der greife zu Henning Ritters Großessay über die Grausamkeit, die Gleichgültigkeit des Tötens und den Terror als Begleiter der Moderne. Der langjährige Verantwortliche des Ressorts Geisteswissenschaften bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und preisgekrönte Sachbuch-Autor macht bei seinem Nachdenken über die moralischen Verwirrungen in Kriegszeiten unter anderem Halt beim Staatstheoretiker Benjamin Constant. Der beschäftigte sich nach dem Ende des napoleonischen Zeitalters in seiner Abhandlung „Über den Geist der Eroberung und der Usurpation“ mit der Frage, warum die modernen Kriege so grausam sind, obwohl die Friedlichkeit „der letzte Horizont der Gesellschaft“ sei.
Was Ritter hier an Gedanken Constants in Erinnerung ruft, dürfte zeitlose Gültigkeit haben und gerade heute hochaktuell sein: Die Freiheit des Individuums verwirklicht sich in einem von der Politik garantierten politikfreien Raum, in dem die einzelnen ihren friedlichen Beschäftigungen und ihren Bildungsinteressen nachgehen. Einer solchen Gesellschaft sind Heroismus und kriegerischer Heldenmut fremd geworden. Und doch führt diese Gesellschaft grausame Kriege. Folglich ist zu erklären, warum „unsere friedlichen Zeiten“, wie bereits Constant etwas sarkastisch feststellte, ein derart barbarisches Gesicht zeigen können wie in den Kriegen Napoleons.
Folgt man Constant, dann könnte gerade die Friedlichkeit des modernen Menschen für die wachsende Grausamkeit der modernen Kriege verantwortlich sein. Denn die Barbarei des Krieges erscheint als die Kehrseite der bürgerlichen Welt der Bedürfnisse. In einer solchen Gesellschaft setzen neue Kriege „an die Stelle des Ruhmes das Vergnügen und an die Stelle des Sieges die Plünderung“. Der Krieg wird zu einer willkommenen Abwechslung vom eintönigen Alltag. Und in der von Handel und Geschäft beherrschten Gesellschaft wird die Habgier das Maß aller Dinge, die allein auf den Nutzen der Dinge schaut, derer sich die Soldaten im Krieg bemächtigen.
Ritter bringt Constants Überlegungen auf den Punkt: „Gerade weil die modernen Völker keinen kriegerischen Geist hatten, waren ihre Kriege so grausam.“ Denn das Vakuum, welches das untergegangene Heldenethos zurückgelassen hatte, wurde von neuen Interessen ausgefüllt. Damit vereinte der moderne Krieg eigentlich unverträgliche Verhaltensweisen miteinander: „Der Geist des Handels verband sich mit dem Geist des Krieges.“ So verwandelten sich die wirtschaftlichen Interessen, die man in Friedenszeiten verfolgte, durch die Kriege in die aus barbarischen Zeiten bekannte hemmungslose, rohe Gier.
Constant sah, wie der Mensch im Krieg einerseits verwilderte, andererseits aber die Züge der Zivilisation beibehielt: „Diese Vandalen verbinden die Brutalität der Barbarei mit dem Raffinement der Verweichlichung und die Hinterhältigkeit der Habgier mit den Exzessen der Gewalt.“
Den Krieg zügeln
Wie ist der Krieg wieder zu zügeln? Auf diese Frage hat die Moderne zwei Antworten gefunden: das Internationale Rote Kreuz und die internationale Strafjustiz. Ersterem hat Daniel-Erasmus Khan eine kompakte Darstellung gewidmet. Der an der Universität der Bundeswehr und der Hochschule für Politik in München lehrende Jurist ist als Landesbeauftragter für die Genfer Konventionen Mitglied des Vorstands des Bayerischen Roten Kreuzes und dadurch seinem Untersuchungsgegenstand eng verbunden.
Wie sehr der asymmetrische Krieg und das Leid von Zivilisten zum Hauptfeld der Missionen des Internationalen Roten Kreuzes geworden sind, wird bei Khan schon anhand von drei Zahlen deutlich: Derzeit sind mehr als 11 000 Mitarbeiter des IKRK in rund 80 Ländern im Einsatz. Aber seit nunmehr 50 Jahren finden die vom Umfang her bedeutenden Hilfsoperationen bis auf wenige Ausnahmen in Staaten statt, die nach 1945 unabhängig geworden und seither von internen bewaffneten Konflikten geprägt sind.
Dadurch ist der humanitäre Einsatz der IKRK-Delegierten schwieriger und gefährlicher geworden. Khan führt das neben anderem auf die sprunghaft angestiegene Zahl so genannter kleiner Kriege zurück. Denn statt völkerrechtlich zumindest einigermaßen geschulten Armeen stehen den Rotkreuzhelfern in wachsendem Maße nichtstaatliche Akteure gegenüber, deren Führungsstrukturen oft unklar sind. Das macht es nicht unbedingt einfacher, sie auf allgemein anerkannte Grundsätze der Kriegführung zu verpflichten.
Kommt die Hilfe des IKRK zu spät oder kann die Organisation aufgrund ihrer widrigen Arbeitsbedingungen nicht ausreichend Schutz gewähren, bleibt es seit 2002 dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überlassen, Kriegsverbrechen an Zivilisten zu ahnden. Nach gut zehn Jahren seines Bestehens zieht William A. Schabas eine erste Bilanz. Dafür dürfte er prädestiniert sein wie kaum ein anderer: Schabas lehrt internationales Recht an der Middlesex University in London und Menschenrechte an der Irish National University in Galway. Darüber hinaus ist er Vorsitzender des International Institute for Criminal Investigation und war von 2002 bis 2004 Mitglied der internationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung von Sierra Leone.
In der Frage, ob bereits von einem Erfolg des Internationalen Strafgerichtshofs gesprochen werden kann, gibt sich Schabas zurückhaltend: Natürlich sei das Projekt einer internationalen Gerichtsbarkeit insoweit erfolgreich, als die Institutionen funktionierten und in der internationalen Gemeinschaft auf breite Unterstützung träfen. Doch um festzustellen, inwieweit ihre Ziele erreicht wurden, müsse zunächst einmal Einvernehmen darüber herrschen, was diese Ziele sind.
Mit Recht macht der Autor darauf aufmerksam, dass man die politische Dimension ausblendet, wenn man in der internationalen Strafgerichtsbarkeit lediglich eine vergrößerte Version der nationalen Gerichtshöfe sieht und deren Ziele 1:1 übernimmt. Neben Vergeltung und Abschreckung will er daher ein drittes Element als zentrales Ziel ergänzt sehen: Die internationale Justiz soll zum Frieden beitragen – auf internationaler wie auf innerstaatlicher Ebene. So seien bereits die UN-Tribunale vom Sicherheitsrat eingerichtet worden, der keine andere Grundlage für sein Eingreifen als die Förderung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit habe. Damit könnte der Internationale Strafgerichtshof einen wichtigen Beitrag leisten, um symmetrische wie asymmetrische Kriege zu verhindern und Zivilisten zu schützen.
Beatrice Heuser: Rebellen – Partisanen – Guerilleros. Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2013, 352 Seiten, 34,90 €.
Henning Ritter: Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit. München: C. H. Beck 2013, 188 Seiten, 19,95 €.
Daniel-Erasmus Khan: Das Rote Kreuz. Geschichte einer humanitären Weltbewegung. München: C. H. Beck 2013, 128 Seiten, 8,95 €.
William A. Schabas: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit? Die Rolle der internationalen Strafjustiz. Hamburg: Hamburger Edition 2013, 104 Seiten, 12,00 €.
Dr. Thomas Speckmann lehrt am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2013, S. 138-141