Unterm Radar

26. Febr. 2024

Zwischen den Fronten

Afghanische Flüchtlinge werden seit Herbst vergangenen Jahres in großer Zahl aus Pakistan ausgewiesen. Sie müssen zurück in ein Land, das von den Taliban regiert wird und sich in einer tiefen humanitären und wirtschaftlichen Krise befindet.

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Bild: LKWs am Grenzübergang Torkham
Die massenhafte Ausweisung afghanischer Flüchtlinge aus Pakistan kommt einer Völkerwanderung gleich: Anfangs waren es Zehntausende pro Tag, viele fahren per Lastwagen in Richtung des Grenzübergangs Torkham.
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Es sind Bilder, die an eine Völkerwanderung erinnern: Riesige Schlangen bunt geschmückter Lastwagen vor dem afghanisch-pakistanischen Grenzübergang Torkham, auf denen Betten, Schränke und Kühlschränke festgezurrt sind. Kinder, die neben ihren Eltern Kartons und Säcke über die ­Grenze tragen, alte Menschen, die in Rollstühlen geschoben werden und Tausende provisorische Zelte, die vor einer gewaltigen Berglandschaft stehen. 

Die pakistanische ­Regierung hatte allen afghanischen Staatsangehörigen ohne gültige Aufenthaltspapiere zum 1. November letzten Jahres eine Frist gesetzt: Entweder sie kehren freiwillig nach Afghanistan zurück, oder sie riskieren, inhaftiert und anschließend abgeschoben zu werden. Eine halbe Million Menschen haben laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) seitdem das Land in Richtung Afghanistan verlassen, viele von ihnen ­wurden von den pakistanischen Behörden zwangsdeportiert. Hunderttausende könnten in den nächsten Monaten folgen.

Der „Illegal Foreigners Repatriation Plan“, den die pakistanische Regierung im Herbst 2023 ausgerufen hatte, richtet sich offiziell gegen alle „illegalen Ausländer“, zielt aber vor allem gegen jene Afghanen und Afghaninnen, die sich ohne gültige Papiere im Land aufhalten. Während in einer ersten Phase des Planes seit November vor allem jene zurückgeführt werden sollen, die keine offiziellen Papiere vorweisen können (knapp 1,7 Millionen Menschen), könnten in einer zweiten und dritten Phase auch jene 1,3 Millionen Menschen folgen, die sich mit einer „Afghan Citizen Card“, einer temporären Duldung der Behörden, oder nur mit einer „Registrierungskarte“ der UN in Pakistan aufhalten. 

Die Folgen wären fatal. Pakistan beherbergt mit fast vier Millionen die weltweit größte afghanische Diaspora. Die Grenzen zwischen beiden Ländern sind fließend. Während der letzten vier Jahrzehnte, in denen in Afghanistan fast ununterbrochen Krieg herrschte, flohen immer wieder Afghanen in das Nachbarland. Manche blieben, andere kehrten zurück – von vielen blieb der Aufenthaltsstatus ungeklärt.  

Die pakistanische Regierung scheint zu allem entschlossen. Noch im November hatten Behörden Tausende Häuser enteignet und am Rande der Hauptstadt Islamabad ganze Stadtviertel dem Erdboden gleich gemacht. Die Polizei geht in Städten von Haus zu Haus, um afghanische Geflüchtete zu suchen, deren Papiere zu überprüfen und notfalls zu verhaften. Nach Angaben der Regierung wurden mehr als zwei Dutzend Abschiebegefängnisse im ganzen Land errichtet.

Interimspremierminister Anwar-ul-Haq Kakar begründete die Abschiebungen als längst überfällige Maßnahme und Durchsetzung bestehender Gesetze. Zuletzt hatten führende Kabinettsmitglieder in Islamabad immer wieder Afghanen beschuldigt, in terroristische Aktivitäten im Land verwickelt zu sein und mit den Therik-i-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, zusammenzuarbeiten.
 

Das Verhältnis ist angespannt

Vor allem geht es wohl darum, Druck auf die Regierung in Kabul auszuüben, denn die Beziehungen zwischen beiden Ländern haben sich zusehends verschlechtert. Islamabad wirft Kabul vor, den pakistanischen Taliban Unterschlupf zu gewähren, und behauptet, die Anschläge würden von afghanischem Boden aus geplant und ausgeführt. Vertreter der Taliban wiederum bestreiten die Präsenz der TTP in Afghanistan.  Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan geraten dabei zwischen die Fronten.

Dabei hatte die pakistanische Regierung die Rückkehr der afghanischen Taliban im Sommer 2021 zunächst begrüßt. „Es sei ein Gewinn für Pakistan“, hatte der damalige Premierminister Imran Khan verkündet. Jahrzehntelang hatte das östliche Nachbarland die afghanischen Islamisten in ihrem Kampf gegen die afghanische Republik und ihre ausländischen Verbündeten unterstützt.

Doch mit der Rückkehr der Taliban in Afghanistan bekamen auch die TTP in Pakistan erneut Aufwind. Die militanten Islamisten, die den afghanischen Taliban zwar ideologisch verbunden sind, jedoch als eigenständige Truppe agieren, greifen immer wieder pakistanische Ziele an. Mehrfach kam es zu brutalen Anschlägen. Seit 2021 kamen laut offiziellen Angaben mehr als 2800 Menschen ums Leben. 

Islamabad hatte immer wieder versucht, die Regierung in Kabul zu einer härteren Gangart gegen pakistanische Islamisten zu drängen. Kampfflugzeuge flogen Angriffe auf afghanischem Boden in Grenznähe, und der für die afghanische Wirtschaft überlebenswichtige Grenzverkehr wurde von pakistanischer Seite geschlossen sowie neue Steuern und Zölle erhoben. Zudem steht Pakistans Regierung unter massivem Druck: Die Wirtschaft liegt am Boden, die Inflation hat Rekordniveau und in diesem Jahr soll eine neue Regierung gewählt werden, nachdem das Parlament vorzeitig aufgelöst worden war. Mit den Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheitslage will sie wohl auch bei der eigenen Bevölkerung punkten. 

Die afghanischen Taliban hingegen bestreiten die Vorwürfe. „Das Islamische Emirat ist nicht für den Frieden in Pakistan verantwortlich“, so Regierungssprecher Zabiullah Mudschahid im Oktober 2023. Die TTP operiere auf pakistanischem Gebiet und damit außerhalb der Reichweite der Sicherheitskräfte der Taliban. 

Nach einem Bericht des UN-­Sicherheitsrats ist jedoch unstrittig, dass die pakistanischen Taliban auch von afghanischem Boden aus operieren. Zwar beherbergten die Taliban die TTP, sie unterstützten deren Operationen aber nicht direkt. Ende 2022 vermittelten die afghanischen Taliban auf Drängen Pakistans Friedensgespräche zwischen der TTP und Islamabad, die zunächst zu einem vorübergehenden Waffenstillstand führten, dann aber scheiterten.

Letztlich könnten vor allem die afghanischen Taliban von den Rückführungen profitieren und sich damit der eigenen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft als krisenfeste Regierung präsentieren. Innerhalb weniger Tage im November hatten die afghanischen Behörden mit Hilfe der Internationalen Organisation für Migration und dem Welternährungsprogramm an der pakistanisch-­afghanischen Grenze eine provisorische Zeltstadt für mehr als 15 000 Menschen errichtet, mit funktionierender Strom- und Wasserversorgung sowie provisorischen Mobilfunkmasten. 

Dort werden die Ankömmlinge aus Pakistan biometrisch erfasst und erhalten ein Startgeld von umgerechnet 100 Euro sowie kostenlose SIM-Karten. Die Taliban wollen die Menschen möglichst schnell in den afghanischen Arbeitsmarkt integrieren und ihnen kurz- oder langfristig auch Land zuweisen. 

Ob das funktioniert, ist allerdings fraglich. Afghanistan befindet sich in einer der größten humanitären Krisen der Welt, mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Wirtschaft ist aufgrund internationaler ­Restriktionen eingebrochen, die Arbeitslosenquote hatte sich zuletzt laut einem Bericht der Weltbank verdoppelt.
 

Optionen für die Taliban 

Dass es bisher nicht zu dem von vielen befürchteten Zusammenbruch der Versorgung der Ankommenden gekommen ist, liegt wohl auch an den schnell zurückgegangenen Ankunftszahlen im November. Waren es in den ersten Tagen noch Zehntausende Menschen, die täglich an den Grenzübergängen Torkham und Spin Boldak ankamen, stabilisierten sich die Zahlen schnell auf durchschnittlich einige hundert bis wenige tausend pro Tag.

Ob und wann die pakistanische Regierung die zweite Phase ihres Planes einleiten wird, ist noch unklar. Sollte Pakistan mit der Abschiebung der meisten anderen Flüchtlinge ohne Papiere fortfahren, wäre dies eine enorme Belastung für die schwache afghanische Wirtschaft und Regierung. Aber ohne glaubwürdige Zugeständnisse der Taliban-Regierung dürfte Islamabad kaum von seinen Plänen abrücken. Pakistan könnte zudem seine wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen verschärfen, etwa durch weitere grenzüberschreitende militärische Angriffe auf TTP-Ziele in Afghanistan.

Noch mehr Druck könnte aber auch das Gegenteil bewirken: eine Annäherung der beiden Taliban-Gruppen, schlimmer noch eine aktive Unterstützung der TTP durch die afghanischen Taliban bei ihrem Terror gegen Islamabad. Denn die Taliban in Kabul sind längst keine Guerilla­gruppe mehr, die auf pakistanische Rückzugsgebiete oder die Hilfe Islamabads angewiesen ist. Um den wirtschaftlichen Einfluss Islamabads zurückzudrängen, bemüht sich die Taliban-Führung vielmehr um Handels- und Investitionsmöglichkeiten, etwa mit China oder Indien.

Eine Lösung des Konflikts, der bislang vor allem auf dem Rücken der afghanischen Flüchtlinge ausgetragen wird, ist bislang nicht in Sicht.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 12-14

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Julian Busch

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Julian Busch lebt in Kabul und berichtet als freier Journalist u.a. für die NZZ und die ZEIT aus Afghanistan.