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01. Sep 2019

Zusammen raufen

Ursula von der Leyen will „energisch auf eine Verteidigungsunion hinarbeiten“. Ohne eine europäische Waffenexportpolitik wird das schwierig

Für eine europäische Waffenexportpolitik spricht vieles: Ein gemeinsames Regelwerk kann zum Beispiel verhindern, dass in Europa hergestellte Waffen beim Bruch von humanitärem Völkerrecht eingesetzt werden. Genau wie für Wirtschaftssanktionen gilt auch für Waffenembargos: Je mehr Länder teilnehmen, desto größer die Wirkkraft. Ein Waffenembargo gegen Saudi-Arabien zum Beispiel, das nur von Berlin ausgeht, erlaubt den Deutschen zwar ein gutes Gewissen, stoppt aber nicht britische und französische Waffenlieferungen in den Jemen.

Waffenexporte können gemeinsame Operationen mit Verbündeten erleichtern, indem sie die Interoperabilität der Truppen erhöhen und in Einzelfällen strategischen Partnern die Verteidigung erleichtern. Trotzdem ist es EU-Staaten bisher nicht gelungen, sich auf eine effektive gemeinsame Waffenexportpolitik zu einigen. Das Ziel einer wertegeleiteten Außenpolitik und eines handlungsfähigen Europas haben offensichtlich als Motivation nicht ausgereicht. Doch die erklärte Absicht, eine Verteidigungsunion zu schaffen, lässt der EU keine Wahl: Europa muss zu einer Lösung in der Exportfrage kommen.

Seit Jahren fördern die Mitgliedstaaten vorrangig ihre nicht wettbewerbsfähigen inländischen Rüstungsindustrien, um relativ hochqualifizierte Arbeitsplätze zu sichern. Im Ergebnis ist der Sektor von Fragmentierung, Doppelungen und Protektionismus geplagt, und Europa hat Schwierigkeiten, eine industrielle Basis zu erhalten, die das gesamte Leistungsspektrum abdeckt. Viele Unternehmen konzentrieren sich auf den Exportmarkt, was dazu führt, dass man bei den Abnehmern nicht immer wählerisch ist; auch wird der Fähigkeitsbedarf von Käufern teils über den von EU-Staaten gestellt.

Kurz: Das Fehlen einer kohärenten Waffenexportpolitik untergräbt nicht nur die strategischen ­Interessen und die Glaubwürdigkeit eines wertegeleiteten Europas, sondern auch die europäische Verteidigungsfähigkeit. Denn die europäischen Regierungen werden nur dann ihre Kräfte bündeln, um neue militärische Ausrüstungen oder Rüstungsgüter zu entwickeln, wenn sie darauf vertrauen können, dass ihre Partner in Friedens- und in Krisenzeiten die notwendigen Komponenten ­bereitstellen, sowohl für Exportkunden als auch für EU-Länder. Dafür müssen sie sich vorher auf zuverlässige und vorhersehbare Ausfuhrbestimmungen einigen.

Das jetzige System ist mangelhaft: Obwohl die EU Grundsätze für Waffenexporte in ihrem sogenannten Gemeinsamen Standpunkt festlegt, werden Vorschriften und die Vergabe von Lizenzen auf nationaler Ebene geregelt. Dies stützt sich auf Artikel 346 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, der besagt, dass ein Mitgliedstaat die Maßnahmen ergreifen kann, die er zum Schutz seiner Sicherheitsinteressen in Bezug auf Waffenhandel und -produktion für erforderlich hält, und dass die EU-Verträge auf solche Maßnahmen keine Anwendung finden.

So werden Lizenzen nach dem Gemeinsamen Standpunkt von Fall zu Fall erteilt. Dabei prüfen die Behörden, ob ein bestimmtes Exportgut für sich genommen gegen die acht Kriterien verstößt, die im Gemeinsamen Standpunkt festgehalten sind. Diese Methode führt häufig dazu, dass Behörden den erweiterten geopolitischen Kontext und die kumulative Wirkung von mehreren Exporten nicht in ihre Erwägungen einbeziehen. Außerdem wird der Gemeinsame Standpunkt nur unzureichend durchgesetzt. Obwohl er rechtsverbindlich ist, steht es den Mitgliedstaaten frei zu entscheiden, wie sie die EU-Bestimmungen umsetzen. Einen formalen Mechanismus, um Verstöße zu ahnden, gibt es nicht.

Neue Initiativen

Die EU-Mitgliedstaaten und -Institutionen haben eine Reihe neuer Initiativen zur Verbesserung der Verteidigungsperspektiven entwickelt. Dazu zählen der Koordinierte Jahresbericht für Verteidigung (CARD), der Europäische Verteidigungsfonds und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO).

Die Herausforderung für die EU besteht darin, die Mitgliedstaaten dazu zu bringen, in europäische Projekte zu investieren. Der Prozess soll in etwa so ablaufen: Die EU-Institutionen und die europäischen Regierungen ermitteln Fähigkeitslücken und einigen sich auf eine Liste der in Europa benötigten militärischen Ausrüstung; eine Gruppe leistungsfähiger Länder beschließt, gemeinsam eine Fähigkeit zu entwickeln und erhält dafür EU-Gelder.

Wenn EU-Länder mehr Geld für Verteidigung ausgeben, kann das den Exportdruck auf die Industrie zwar etwas verringern. Allerdings ist das Problem einer „Buy EU ­only“­-Politik, dass die heimische Verteidigungsindustrie noch nicht in der Lage ist, den gesamten Ausrüstungsbedarf zu decken. Und um größere Skaleneffekte bei der Rüstungs­produktion zu erzielen, wird die europäische Industrie weiterhin ihren Kundenstamm durch Exporte erweitern wollen.

Bislang hat die Europäische Union noch keinen Plan entwickelt, was zu tun ist, wenn sich Mitgliedstaaten nicht auf Waffenausfuhrvorschriften einigen können. Ohne eine gemeinsame Waffenexportpolitik sind die gemeinsam hergestellten Waffensysteme immer anfällig für die Einführung von Ausfuhrkontrollen durch einen der Partner.

Dass EU-Mitgliedstaaten ihr nationales Vorrecht, über Waffenexporte zu entscheiden, an die EU abgeben, ist unrealistisch. Der politische Wille dazu besteht nicht, auch nicht in Berlin. Doch wenn künftig EU-Geld in Waffensysteme fließt, werden die Institutionen in Brüssel mehr Kontrolle fordern. In der Verordnung des Europäischen Verteidigungsfonds heißt es, dass die Finanzierung durch die Kommission keine Auswirkungen auf die Ausfuhr von Waffen haben sollte, die mit Hilfe von EU-Geldern entwickelt wurden.

Die Verordnung sieht aber auch vor, dass EU-Gelder nicht zur Finanzierung von Klein- und Leichtwaffen verwendet werden dürfen, die hauptsächlich für den Export bestimmt sind; dass Mitgliedstaaten die Kommission über die Ausfuhr von EU-finanziertem Equipment in ein Nichtpartnerland zu unterrichten haben; und, falls diese Ausfuhr gegen die Sicherheits- und Verteidigungsinteressen der Union und ihrer Mitgliedstaaten verstößt, die aus dem Fonds bereitgestellten Mittel zurückerstattet werden müssen.

Die Sicherheits- und Verteidigungsinteressen der Union sind nirgendwo verbindlich festgelegt. Aber in Zukunft könnte die Kommission möglicherweise auf die Verordnung zurückgreifen, um ihr Engagement in der Waffenexportpolitik auszubauen. Zudem könnte sie ihren Einfluss auf den Handel mit Dual-Use-Gütern nutzen, um auch vermehrt auf Waffenausfuhren einzuwirken. Im Gegensatz zu konventionellen Waffen fallen solche Güter in die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs, wurden aber noch nie dort verhandelt. Dies könnte in Zukunft anders werden.

Auch das Europäische Parlament könnte sich künftig mehr an dem Prozess der Verteidigungsplanung und der Fähigkeitsentwicklung beteiligen wollen. Als im April 2019 erstmals über den Verteidigungsfonds abgestimmt wurde, votierten 328 Europaabgeordnete für den Fonds und 231 dagegen. Neben denen, die sich grundsätzlich gegen eine größere Verteidigungsrolle der EU aussprachen, stellten Parlamentarier insbesondere die Beteiligung der Verteidigungsindustrie an der Ausarbeitung des Kommissionsvorschlags sowie die Pläne der Kommission infrage, EU-Gelder für neue Technologien (potenziell einschließlich Künstlicher Intelligenz, Robotik und unbemannter Systeme) auszugeben, die einige aus ethischer Sicht für problematisch halten. In Zukunft könnte das Parlament seine Kontrolle verstärken wollen – inklusive der Frage, an wen EU-finanzierte Rüstungsgüter verkauft werden sollen.

Empfehlungen

Die EU und ihre Mitgliedstaaten überprüfen derzeit den Gemeinsamen Standpunkt. Die Staaten sind verpflichtet, alljährlich über die von ihnen erteilten Ausfuhrgenehmigungen Bericht zu erstatten. Aber viele Länder, darunter Frankreich, Großbritannien und Deutschland, legen vollständige Berichte nicht rechtzeitig vor. Die EU sollte in Zukunft strenge Fristen festlegen und das Format der Berichte standardisieren.

Die Meldeverpflichtungen sollten außerdem immer alle tatsächlichen Waffenlieferungen umfassen, die in eine Region gehen. So kann ein vollständigeres Bild ermittelt werden, wenn zum Beispiel ein fragiler Frieden durch plötzliche Waffenexporte gestört werden könnte. Die Mitgliedstaaten sollten sich deshalb auch gegenseitig über ihre Gefährdungsbeurteilungen Bericht erstatten. Einige Länder haben aufgrund mangelnder Ressourcen oder fehlenden Know-hows Schwierigkeiten, selbst die derzeitigen Berichtspflichten umzusetzen. Die EU sollte Peer-Review-Treffen organisieren, bei denen die Regierungen bewährte Verfahren zur Erhebung von Daten austauschen können.

Den Verbleib überprüfen

Die EU könnte Mitgliedstaaten außerdem ausdrücklich ermutigen, ihre eigenen Kontrollen zum Endverbleib von exportierten Waffen durchzuführen. Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern sollten nur erteilt werden, wenn der Verkäufer weiß, wer die Waffen einsetzt und wofür. Aber jedes Waffenexportregime läuft Gefahr, dass Waffen in die falschen Hände fallen. Dies gilt insbesondere für Kleinwaffen, die für den größten Teil der menschlichen Opfer in internen und grenz­überschreitenden Konflikten verantwortlich sind.

Endverbleibskontrollen sind teuer, aufwendig und benötigen politischen Einfluss im Käuferland. EU-Ressourcen, zum Beispiel Expertenteams, die sich aus Mitarbeitern der Kommission und des Europäischen Auswärtigen Dienstes zusammensetzen und ins Käuferland entsandt werden, könnten zur Unterstützung eingesetzt werden. Dies müsste vorverhandelt und zukünftig in Exportverträge aufgenommen werden, und die EU müsste eine Lösung für die Probleme finden, die mit dem Austausch vertraulicher Daten einhergehen.

Solange noch kein EU-weites glaubwürdiges Waffenexportregime feststeht, könnte ein praktischer Weg zur stärkeren Harmonisierung der Waffenausfuhren der EU in Vereinbarungen zwischen kleinen Gruppen von Mitgliedstaaten bestehen, nach dem Modell des Farnborough-Rahmenabkommens aus dem Jahr 2000.

2019 unterzeichneten ­Frankreich und Deutschland den Aachener Vertrag, eine Fortschreibung des Élysée-Vertrags von 1963. Sie versprachen, „ein gemeinsames Konzept für Waffenexporte im Hinblick auf gemeinsame Projekte“ zu entwickeln.

Gemäß der EU-Binsenweisheit, dass sich auf europäischer Ebene ohne einen Kompromiss zwischen Frankreich und Deutschland nichts tut, könnten die von Paris und Berlin vereinbarten Waffenausfuhrbestimmungen auf andere Länder ausgeweitet werden, oder andere Mitgliedstaaten könnten ähnliche Abkommen untereinander unterzeichnen. ­Dieser Prozess könnte sich schrittweise weiterentwickeln, um die Vorschriften für Waffenausfuhren in der ­gesamten EU berechenbarer zu machen. Um die außenpolitischen Ziele der ­Europäischen Union zu stärken, müssten diese ­Abkommen jedoch viel weiter gehen als das von Berlin und Paris vorgeschlagene, und eine verbindliche Verpflichtung zur Einhaltung der EU-Ausfuhrkriterien umfassen.

Dazu kommt, dass das jüngste bilaterale Abkommen zwischen Paris und Berlin stark den Debré-Schmidt-Vereinbarungen ähnelt, die 1971 von den damaligen Verteidigungsministern beider Länder, Michel Debré und Helmut Schmidt, unterzeichnet wurden und die den Export von gemeinsam entwickelten Waffen regelten – bis Deutschland beschloss, den Export nach Saudi-Arabien zu verbieten. Dies verdeutlicht: Das Problem besteht weniger in einem Mangel an Vereinbarungen, sondern in dem Fehlen einer gemeinsamen strategischen Sichtweise auf das Bedrohungsumfeld.

Wie geht es weiter?

Bevor eine gemeinsame Rüstungspolitik vereinbart werden kann, müssen sich die EU-Mitgliedstaaten folglich zunächst darauf einigen, welche Interessen die EU in einem bestimmten Konflikt hat, was oft schwierig ist. So gibt es schlicht unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Lieferung von Waffen an Saudi-Arabien die Golfregion stabilisiert oder nicht.

Es gibt einige Anzeichen dafür, dass EU-Institutionen künftig stärker in die Rüstungspolitik eingreifen werden. In diesem sensiblen Politikbereich auf Souveränität zu verzichten, ist für viele Mitgliedstaaten allerdings weiterhin undenkbar.

Umgekehrt besteht die Furcht, dass eine Politik, die stets auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht, am Ende nicht viel Wirkung hat. Und zivilgesellschaftliche Organisationen haben Sorge, dass die Übertragung größerer Befugnisse an die Kommission, die weniger rechenschaftspflichtig ist als die Regierungen der Mitgliedstaaten, das System noch weniger transparent machen würde.

EU-Institutionen und Mitgliedstaaten können in kleinen Schritten zusammenarbeiten, um die Wirkung von Export- und Embargobeschlüssen zu maximieren, um den europäischen Verteidigungsmarkt zu stärken und sicherzustellen, dass Waffenexporte im Einklang mit europäischen Werten und Interessen stehen.

Ohne eine funktionierende gemeinsame europäische Waffenexportpolitik aber ist es mit der Verteidigungsunion, wie sie die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anstrebt, nicht weit her.

Sophia Besch ist Senior Research Fellow des Centre for European Reform (CER) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 100-104

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