Gegen den Strich

02. Nov. 2017

Zukunftskontinent Asien

Acht Thesen auf dem Prüfstand

Die Zukunft gehört Asien, der Niedergang des Westens ist besiegelt, und Autokratien à la China passen besser zum Kapitalismus als westliche Demokratien: Im deutschen Asien-Diskurs hat sich ein fast masochistischer Fatalismus eingeschlichen. Als einziger Trost bleibt Asiens angebliche Unfähigkeit zur Innovation. Mit der Realität hat das wenig zu tun.

Asiens Aufstieg ist unaufhaltsam

Leider nein. Denn eigentlich müssten wir uns wünschen, dass es so wäre. Schließlich würde es bedeuten, dass es den Bewohnern Asiens in Zukunft besser geht als jetzt. Das ist jedoch keineswegs ausgemachte Sache. Die Länder Asiens stehen vor ernsten ökologischen, demografischen und politischen Problemen. Es versteht sich nicht von selbst, dass sie diese Probleme lösen können.

Das gilt besonders für China, den Champion der Region. Der ökologische Preis, den das Land bereits jetzt für sein Wachstum entrichtet, ist so hoch, dass er auf Dauer nicht bezahlbar ist. So ist etwa der Zustand der Wasserressourcen im Land so bedrohlich, dass der frühere Premierminister Wen Jiabao gewarnt hat, dies „gefährdet das Überleben der chinesischen Nation“. Ein Beispiel: In den vergangenen 20 Jahren wurden in China mehr als die Hälfte der Flüsse so stark verseucht, dass sie heute in offiziellen Statistiken nicht mehr als Frischwasserläufe geführt werden. Übernutzung durch Urbanisierung ist der wichtigste Grund dafür. Das geht an die Substanz. Wirtschaftswachstum um diesen Preis ist tatsächlich halsbrecherisch.

Ähnliches gilt für den Boden. Ein Fünftel aller chinesischen Äcker – das entspricht der Fläche Großbritanniens – ist stark mit Chemikalien und Schwermetallen belastet, zum Teil so sehr, dass dort überhaupt kein Anbau erlaubt sein dürfte. Zu groß sind die Risiken für die Gesundheit. Wie es um die Luftqualität in China steht, ist hinreichend bekannt. In Sachen Feinstaub ist man an einem der schmutzigeren Pekinger Tage in einer verrauchten Kneipe besser aufgehoben als an der „frischen“ Luft. Das ist kein Spruch, sondern ein Messwert.

Zwar gehört auch in Peking seit vielen Jahren die Rhetorik der Nachhaltigkeit zum politischen Repertoire, genauso wie Elektroautos und die Förderung erneuerbarer Energiequellen. Aber das Land bezieht nach wie vor zwei Drittel seines Energiebedarfs aus Kohle und etwa ein weiteres Fünftel aus Öl. Macht insgesamt rund 86 Prozent. Daran wird auch die E-Mobilität nichts ändern.

Auch politisch ist die Welt für China kompliziert geworden. Chinas Nähe zu Nordkorea, die Auseinandersetzung mit Japan, die Aggression gegen Taiwan, Gebietsansprüche in ganz Südostasien, der Konfrontationskurs mit den USA im Südchinesischen Meer – jeder einzelne dieser Konflikte könnte in eine Katastrophe münden. Dazu kommt die Frage nach der Stabilität im Land selbst. Bis jetzt wirkt die technokratische Herrschaft der KP alternativlos. Sie ist gradlinig legitimiert: durch ihren Erfolg. Wie stabil wird sie sein, wenn der Erfolg einmal ausbleibt, durch eine Rezession oder eine außenpolitische Niederlage? Schließlich steht China vor einem besonderen demografischen Problem. Die Ein-Kind-Politik führt voraussichtlich dazu, dass das Land alt wird, bevor es reich genug ist, um seine Alten zu versorgen. Hunderte Millionen Familien werden davon betroffen sein, mit Folgen für die gesamte Volkswirtschaft.

Indien, das zweitgrößte Schwellenland, hat das entgegengesetzte Problem. Über die kommenden zwei Jahrzehnte werden dort jedes Jahr mehr als zehn Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen, auf dem sich 2020 rund 900 Millionen Inder tummeln werden. Fünf Jahre später wird Indien voraussichtlich China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen. Bis 2050 wird die Anzahl seiner Bewohner auf rund 1,7 Milliarden steigen. Das könnte Indiens größte Stärke sein – oder seine größte Schwäche.

Nur 2 Prozent aller indischen Arbeiter haben eine Ausbildung. Lediglich 16 Prozent der Inder verfügen über ein regelmäßiges Einkommen; fast 90 Prozent sind informell beschäftigt. Die IT-Industrie kommt für ein paar Millionen reguläre Jobs auf – das Land braucht aber einige hundert Millionen.

Kann Indien seine Bürger in eine schnell expandierende Wirtschaft integrieren? Wenn das gelingt, dann wird das Bevölkerungswachstum eine riesige demografische Dividende abwerfen – und die ökologischen Probleme bringen, die China schon jetzt hat. Wenn nicht, dann hat das Land ein gigantisches Problem.

Bleibt noch der Joker unter den Schreckensszenarien: der Klimawandel. Weite Teile Südostasiens, Indiens und Südchinas liegen nur knapp über dem Meeresspiegel. Wie ernst die Folgen des Klimawandels für die verschiedenen Länder sind, hängt aber nicht nur von der geografischen Lage ab, sondern ganz entscheidend auch davon, wieviel Geld und organisatorische Kapazität sie haben, um sich dagegen zu wappnen. Die Philippinen, Indonesien und Bangladesch werden darum viel stärker betroffen sein als Florida, Dänemark oder die Niederlande. Der Klimawandel wird die Entwicklungsländer besonders hart treffen und ihre Chancen, die „Erste Welt“ einzuholen, weiter schmälern.

Die Macht verschiebt sich von West nach Ost

Das klingt vielleicht deshalb plausibel, weil unklar ist, was es bedeutet. Macht hat viele Dimensionen. Seien es wirtschaftlicher Erfolg, Soft Power, militärische Präsenz oder Einfluss in internationalen Gremien. Nicht alles davon ist messbar, und selbst dort, wo es sich sauber quantifizieren lässt, ist nicht immer klar, was die Messergebnisse eigentlich zeigen.

Japans BIP übertrifft das britische um fast das Doppelte. Bedeutet das, dass Tokio doppelt so viel internationalen Einfluss hat wie London? Zeigen Pekings hohe Militärausgaben, dass China mächtiger wird – oder untergraben sie Pekings Einfluss, weil sie das Land isolieren und die Nachbarn in Bündnisse treiben, die sie sonst nicht eingehen würden?

Ist Südkorea mächtig, weil Samsung eine erfolgreiche Firma ist? Wächst Indiens Einfluss, weil Tata mit ThyssenKrupp zusammengeht? Ist die Tatsache, dass alle iPhones in China gebaut werden, ein Machtfaktor, zeigt sie eine Schwäche an – schließlich spielt China in diesem Fall die Rolle einer amerikanischen Fabrik – oder ist sie eine Mischung aus beidem?

So einfach ist es also nicht mit der Verschiebung der Macht. Eines ist immerhin gewiss: Die Länder Asiens nehmen nach Maßgabe ihrer Interessen und Fähigkeiten Einfluss auf ihr Geschick. Je mehr sie an einer globalisierten Welt teilnehmen, desto mehr bemerken wir sie. Das sollte uns nicht überraschen.

Asien nimmt unsere Arbeitsplätze weg

Falsch. Zwar hatte es lange den Anschein, dass Outsourcing und Offshoring, also die Auslagerung von Einkauf und Produktion in billigere Länder Asiens, „uns“ im Westen zwangsläufig die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Aber zunächst einmal: Was heißt hier „unsere“? Für die Menschen in China oder Indien ist ein Arbeitsplatz genauso wichtig wie für die in Deutschland oder Großbritannien. Sie haben nicht mehr, aber auch nicht weniger Recht auf ein geregeltes Einkommen.

Im Übrigen ist die Sache mit dem Offshoring eben doch keine Zwangsläufigkeit, sondern zu einem hohen Grad eine Mode vor allem der anglo-amerikanischen Management-Philosophie, die eng mit der Orientierung am kurzfristigen Shareholder-Value zusammenhängt. Laut Jack Welsh, dem langjährigen CEO von General Electrics, ist dies „die dümmste Idee der Welt.“

Seit einigen Jahren – nicht erst seit Trump – gibt es auch in den Vereinigten Staaten immer stärkere Zweifel daran, ob und wann sich das Offshoring wirklich lohnt. Theoretisch steigert es zwar den Profit. In Wirklichkeit verursacht es aber viele versteckte Kosten, zum Beispiel vertrackte logistische Probleme und den Verlust von Know-how.

Europa und vor allem Deutschland haben nie mit ganzem Herzen an das Offshoring geglaubt. Diese Skepsis hat sich ausgezahlt. Der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt ist in Deutschland seit den späten 2000er Jahren gewachsen und hat sich seitdem bei etwa 23 Prozent stabilisiert. In Amerika liegt er heute bei knapp 13 Prozent. Gerade das deutsche Beispiel zeigt also, dass die Globalisierung nicht unbedingt Arbeitsplätze kostet. Zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren in Deutschland – und auch anderswo, etwa in den Niederlanden oder Schweden – gehören gut ausgebildete Facharbeiter, die sich nicht ohne Weiteres ersetzen lassen.

Ein weiterer Erfolgsfaktor scheint paradox: Der hohe Grad der Automatisierung, zum Beispiel durch Roboter in der deutschen Autoindustrie, schützt Arbeitsplätze, weil er sie weniger mobil macht. Auch sind die Investitionen in solch anspruchsvolle Produktionsanlagen so hoch, dass man sie nicht mal eben am anderen Ende der Welt neu aufbauen kann.

Obendrein müssen potenzielle Konkurrenten aus Schwellenländern genauso viel investieren, um mithalten zu können. Kurz gesagt: Investitionen in Ausbildung und Technik beschützen gute Arbeitsplätze in den entwickelten Ländern.

Der Verlust von Arbeitsplätzen betrifft dagegen vor allem Branchen, in denen Technik und Ausbildung weniger relevant sind. In den reichen Ländern bedeutet dies zwar weniger Arbeit im Niedriglohnsektor. Andererseits bedeutet es auch billigere Konsumgüter, also niedrigere Lebenshaltungskosten.

Alles in allem ist die Bilanz also positiv. Im Ranking der Länder, die pro Einwohner in absoluten Zahlen am stärksten von der Globalisierung profitiert haben, liegt Deutschland auf Rang 6. Das berichtete der Bertelsmann Globalisierungsreport 2016.

Japan, Israel und eine Reihe von kleineren europäischen Staaten belegen die übrigen Plätze unter den besten zehn. Die USA liegen auf Platz 23. Sie haben pro Kopf nicht einmal halb so viel Profit aus der Globalisierung schlagen können wie Deutschland, trotz oder gerade wegen der Offshoring-Welle. China liegt in dieser Rangliste gerade einmal auf Platz 41. Wir im Westen, vor allem in Europa, sind die größten Gewinner der Globalisierung.

Asiens wirtschaftlicher Erfolg beruht auf ­Imitation statt Innovation

So einfach ist es nicht. Entscheidend am Erfolg ist nicht, dass er auf Innovation beruht, sondern dass er eben das ist: Erfolg. Ein Beispiel: Die chinesische Firma Xiaomi hat das Smartphone nicht erfunden. Auch beim Design hat sie sich von Apple, nun ja, inspirieren lassen. Doch lässt es sich nicht wegdiskutieren, dass sie sehr erfolgreich ist, wie Huawei, wie Meizu, wie Oppo und viele andere. Auch Samsung hat mal so angefangen. In Deutschland hat niemand Apple imitiert. Dafür gibt es bei uns auch keinen einzigen Smartphone-Hersteller.

Das Vorurteil, dass die Asiaten keine Ideen hätten, hat schon vor 60 Jahren nicht gestimmt, als deutsche Firmen wie Leica und Zeiss sich zu fein waren, die japanische Konkurrenz ernst zu nehmen. Nikon und Canon waren, nicht anders als Huawei und Samsung, im Hinblick auf ihre Technik keine „first movers“, sondern „smart followers“. Doch haben deutsche Firmen mit exakt derselben Strategie bereits im 19. Jahrhundert die britischen „first movers“ der industriellen Revolution ausgestochen.

Die These vom Innovationsmangel in Asien kennt auch eine Variation: nämlich die, der zufolge sich Einfallsreichtum und Autokratie nicht miteinander vertragen. Aber unter allen asiatischen Unternehmen sind es gerade die chinesischen, die ihrer westlichen Konkurrenz an Innovationskraft immer weniger unterlegen sind. Häufig sind sie ihnen schon weit voraus.

Batterien – eine Schlüsseltechnologie für E-Mobilität und erneuerbare Energien – bezieht man in Europa aus Ostasien. Chinesische Firmen wie BYD und CATL haben gute Chancen, den globalen Markt dafür zu dominieren. Um europäische Konkurrenz brauchen sie sich keine Sorgen zu machen – es gibt keine. Der chinesische Internethändler Alibaba ist das weltweit größte Unternehmen seiner Art. Und Firmen wie der chinesische Internetgigant Tencent zählen zu den besten der Welt. Sie brauchen vor allem in Sachen künstliche Intelligenz den Vergleich mit Google nicht zu scheuen. Von einem Mangel an Innovationsfähigkeit kann da eigentlich keine Rede sein.

China ist die Leitmacht Asiens

Die Regierung in Peking würde sich bestimmt freuen, wenn es so wäre. Aber das kann sie nicht allein entscheiden. Die anderen Länder in Asien haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und die meisten von ihnen möchten eher nicht von China geführt werden. China hat zwar viele Geschäftspartner, aber keine echten Freunde. Das liegt daran, dass die Regierung in Peking eine recht brachiale „China First“-Politik betreibt, die noch weiter geht als Donald Trumps Ambitionen, Amerika wieder „great“ zu machen.

Dazu ein Beispiel: Einen Territorialstreit mit Japan vom Zaun zu brechen – über die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer – mag hitzköpfigen Patrioten in China Befriedigung verschaffen. Eine regionale Zusammenarbeit unter Chinas Führung fördert eine solche Maßnahme ganz sicher nicht. Stattdessen hat der Druck aus China dafür gesorgt, dass Japan seinen seit dem Zweiten Weltkrieg in der Verfassung verankerten Pazifismus in wachsendem Maße aufgibt, zugunsten eines stärkeren militärischen Engagements in der Region.

Daneben wetteifert Japan mit China auch um wirtschaftlichen Einfluss in Südostasien, vor allem mit Infrastrukturprojekten von Indien bis Indonesien. Das ist gut für die Länder in der Region, die nun von den beiden Rivalen profitieren können, anstatt sich einer chinesischen Führung unterzuordnen.

Der chinesische Wunsch nach Führung zeigt sich unter anderem darin, dass Peking seine Gebietsansprüche über nahezu das gesamte Südchinesische Meer ausgedehnt hat, von den Küsten Vietnams und Malaysias bis zu den Philippinen und nach Indonesien. Damit hat China Territorialstreitigkeiten mit einem halben Dutzend Nachbarländer provoziert, und zwar gerade mit denen, die es für sich gewinnen möchte. Eine vertrauensbildende Maßnahme ist das nicht.

Die kontraproduktive Wirkung dieser Politik geht so weit, dass sogar Vietnam lieber mit den USA – die das Land einst fast in die Steinzeit bombten – zusammenarbeitet als mit China. Allerdings könnte sich Donald Trump noch als Retter der chinesischen Ambitionen in Südostasien erweisen.

Chinas Aufstieg führt zu militärischen ­Konflikten

Auszuschließen ist das leider nicht. Innerhalb von 40 Jahren hat sich­ ­China von einem bettelarmen Entwicklungsland zu einer wirtschaftlichen Großmacht entwickelt. Voraussichtlich wird das Land im Jahr 2050 die USA überholen und sie nach 180 Jahren als größte Ökonomie der Welt ablösen.

„Der Aufstieg Athens und die Furcht, die das in Sparta auslöste, machten den Krieg unausweichlich“, schrieb der griechische Historiker Thukydides im 5. Jahrhundert vor Christus. Die Dynamik dieses Konflikts ist auch als Thuky­dides-Falle bekannt: Der etablierte Hegemon kann nicht tatenlos zusehen, wie der Aufsteiger ihn deklassiert. Zugleich kann die kommende Macht nicht hinnehmen, dass es in der etablierten Ordnung keinen angemessenen Platz für sie gibt. Sparta und Athen tappten im Peloponnesischen Krieg in diese Falle. Nach 30 Jahren Kampf war Sparta nominell der Sieger. In Wirklichkeit hatten die beiden Stadtstaaten sich gegenseitig ruiniert. Ähnlich verhielt es sich Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien viel dazu beitrug, beide Länder in den Ersten Weltkrieg zu steuern.

Werden die USA und China in die gleiche Falle tappen? Eine gewisse Logik ist der Idee nicht abzusprechen. Der Aufstieg eines neuen Akteurs bedeutet stets eine Belastung für die etablierte internationale Ordnung. Dieser Druck auf das System kann dazu führen, dass kleinere Konflikte, die unter normalen Umständen lösbar wären, außer Kontrolle geraten. Sei es die Ermordung eines österreichischen Thronfolgers in Sarajewo oder ein Streit zwischen zweitrangigen griechischen Städten, die ihre großen Verbündeten in den Konflikt hineinzogen. Aber die Thukydides-Falle ist kein Naturgesetz. Sie ist eine Warnung, und die Akteure in Asien täten gut daran, diese Warnung ernst zu nehmen.

Denn es gibt tatsächlich bedenkliche Anzeichen, dass sich in Asien Spannungen aufbauen, die außer Kontrolle geraten könnten. So scheint Chinas expansive Außenpolitik gegenüber Japan, Taiwan und Südostasien zu zeigen, dass Peking Ambitionen hat, die mit Amerikas Rolle in der Region nicht kompatibel sind. Derweil tut der US-Präsident, was er kann, um seine Optionen im Konflikt mit Nordkorea einzuengen.

Möglich, dass es sich bei beiden Fällen um eine Art Sozialimperialismus handelt, dem es in Wirklichkeit mehr um innenpolitische Legitimation als um außenpolitische Ziele geht. Aber gerade da liegt die größte Gefahr. Denn wer den populistischen Tiger reitet, kann nicht absteigen, ohne von ihm gefressen zu werden. Sollten China oder die USA intern unter Druck geraten, könnte ihnen die Kontrolle über externe Konflikte entgleiten.

Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass Spannungen in der Region eher bilateral oder in ad hoc gebildeten Beratungsgruppen angegangen werden, ohne dass es dafür etablierte Prozesse gäbe. So blieben alle Appelle, endlich einen bindenden Kodex zu vereinbaren, um das Verhalten im Fall von Zwischenfällen im Südchinesischen Meer zu regeln, bislang eben nur dies: Appelle. Wenn man es positiv wenden will – da ist noch viel Platz für kreative Diplomatie.

Wie der Vergleich mit Indien zeigt, profitiert China von seinem autokratischen System

Heikles Thema. Die enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Unternehmen unter Ausschaltung der Bürgerrechte – zumindest aus betriebswirtschaftlicher Sicht klingt das nach einem Erfolgsrezept. Böse Zungen behaupten allerdings, dies sei der Wesenskern des Faschismus. Tatsächlich hat sich dieser Ansatz schon des Öfteren bewährt, etwa in Taiwan und Südkorea. Nun funktioniert er in einem viel größeren Maßstab auch in China.

Wenn man annehmen wollte, dass es zwischen China und Indien keinen anderen relevanten Unterschied gibt als die Regierungsform, dann würde der Vergleich der beiden Länder zeigen, dass eine Entwicklungsdiktatur effektiver ist als eine zumindest der Form nach repräsentative Demokratie.

Und tatsächlich hat die Autokratie ihre Stärken. Sie kann permanent „durchregieren“, weitreichende Entscheidungen zügig umsetzen und braucht sich ihren Planungshorizont nicht von Wahlzyklen zerstückeln zu lassen. Allerdings sind diese Stärken zugleich gefährliche Schwächen. „Große Männer machen große Fehler“, schrieb Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Was damit gemeint ist, dafür kann Mao Zedong als Beispiel dienen. Auch er konnte „durchregieren“, nur war das nicht zu ­Chinas Vorteil. Auch wenn Chinas autokratisches System seit 40 Jahren große Erfolge erzielt – in den Jahrzehnten davor führte dieselbe Autokratie in den Irrsinn und zu einer ganzen Serie von nationalen Katastrophen.

Außerdem gibt es in Ostasien neben einer Handvoll erfolgreicher Entwicklungsdiktaturen auch eine große Zahl von Autokratien, die kläglich gescheitert sind. Genauso wie ein ganzes Gruselkabinett von Selbstherrschern im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika haben auch Laos und Birma wenig Kapital aus ihren Autokratien geschlagen.

Nicht die alternative Demokratie oder Autokratie scheint also für den wirtschaftlichen Erfolg den Unterschied zu machen – sondern die Frage, ob ein Land eine kompetente und verantwortungsbewusste Elite hat oder nicht.

China bietet ein Alternativmodell zur westlichen Demokratie

Das stimmt bestenfalls teilweise. Richtig ist, dass westliche Demokratie immer weniger als Vorbild gilt. Das hat nicht zuletzt mit der großen Arroganz und Vehemenz zu tun, mit der westliche Länder und Institutionen wie die Weltbank in asiatischen Ländern aufgetreten sind. Etwa während der Asien-Krise 1998, als man sich im Westen schon am guten Ende der Weltgeschichte wähnte.

Es ist dann doch anders gekommen. Unter anderem hat sich gezeigt, dass es mehr als nur einen Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung und administrativer Kompetenz gibt. Wer heute etwa aus Südostasien nach Europa oder Amerika blickt, dürfte etwas weniger beeindruckt sein als vor 20 Jahren. Die ewig währenden Krisen in der EU und in Amerika, ein exzentrischer Präsident fördern nicht gerade das Prestige der westlichen Demokratie. Allerdings haben sich viele Staaten in Asien ohnehin nie daran orientiert – Suhartos Indonesien etwa, Vietnam, Laos und Birma brauchten nicht erst ein chinesisches Wirtschaftswunder, um ihr Desinteresse an Parlamenten und Rechtsstaatlichkeit zu entdecken.

Daran hat man sich im Westen vor dem Triumphalismus der 1990er Jahre auch kaum je gestört. „He may be a bastard, but he is our bastard“, so lautet ein alter Scherz über die amerikanische Haltung gegenüber verbündeten Despoten. Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht das Problem nicht darin, dass einige Länder sich nicht an westlichen Demokratien orientieren. Das Problem stellt sich erst, wenn der autokratische Mistkerl nicht „unser“ Mistkerl ist – und quasi im falschen Team spielt.

Davon abgesehen gilt, dass auch in asiatischen Ländern die Bürger den Rechtsstaat, die Meinungsfreiheit, die Kontrolle über staatliche Instanzen und andere Errungenschaften der westlichen Demokratie durchaus höher schätzen als Behördenwillkür, Zensur und Kleptokratie. Das geht so weit, dass selbst die Anführer repressiver Regime nicht umhinkönnen, den demokratischen Werten zumindest Lippenbekenntnisse zu zollen.

So ganz miserabel kann es also um den Vorbildcharakter der Demokratie nicht bestellt sein. So seltsam es auch klingt: Der Ruf des Westens ist besser als sein Ruf.

Bernhard Bartsch ist Senior Expert für Asien in der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er mehr als zehn Jahre als ­Asien-Korrespondent in China.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2017, S. 66 - 73

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