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01. Nov. 2016

Primus mit Problemen

Südkorea ist das Vorbild aller Schwellenländer. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist das Land aus bitterer Armut zu einer modernen Industrienation aufgestiegen. Nun will es eine Innovationsmacht werden. Doch die politische Großwetterlage macht es der Wirtschaft schwer, und Präsidentin Park Geun-hye beschränkt sich aufs Krisenmanagement.

In der Welt, wie der Bloomberg Innovation Index sie beschreibt, gibt es keine idealeren Partner als Südkorea und Deutschland. Oder keine schärferen Konkurrenten. Laut Bloomberg ist Südkorea die innovativste Wirtschaftsnation der Welt, gefolgt von Deutschland an zweiter Stelle. Nirgends auf der Welt wird hochwertiger produziert oder besser ausgebildet als in Südkorea, lautet das Ergebnis der Anfang 2016 veröffentlichten Erhebung. Auch bei der Intensität von Forschung und Entwicklung, der Dichte von Hightech-Unternehmen und ­Patentanmeldungen liegen die Südkoreaner vor den Deutschen.

Der Index ist eines von vielen Zeichen dafür, wie sich die Gewichte in der Weltwirtschaft verschieben. Nicht nur Waren, sondern auch Wissen entsteht heute weltweit und in immer stärkerem Maße in asiatischen Staaten, die vor ein, zwei Generationen noch als „Dritte Welt“ galten. Dabei sind es nicht nur Großmächte wie China oder Indien, die das globale Gleichgewicht verschieben (im Bloomberg Innovation Index liegen die beiden Riesen auf den Rängen 21 und 45). Südkorea ist das Paradebeispiel eines Schwellenlands, dem es gelungen ist, zu einer modernen Wirtschaftsnation zu werden, erst durch Indus­trialisierung, heute durch Innovation. Das heißt nicht, dass in Südkorea alles rund liefe. Im Gegenteil. Aber von Südkorea lässt sich lernen, wie die Dinge in Bewegung geraten können – gerade für ein Technologieland wie Deutschland, dem es zu denken geben sollte, dass ihm Südkorea in Sachen Innovationsfähigkeit inzwischen den Rang abläuft.

Wirtschaftlicher Schwung, politisches Schwanken

Südkoreas wirtschaftlicher Erfolg ist umso bemerkenswerter, als das Land politisch mit schwerem Handicap spielt. Denn nur wenige Kilometer hinter den Vororten der Hauptstadt Seoul liegt der größte Unsicherheitsfaktor der Region: Nordkorea. Für den Süden bedeutet das nicht nur eine Bedrohung seines Wohlstands (im Falle eines Zusammenbruchs und einer teuren Wiedervereinigung) oder des Friedens (im Falle eines Krieges, der dann unweigerlich Nordkoreas Zusammenbruch nach sich ziehen würde). Nordkorea zwingt Seoul zudem in eine missliche Position, die englischsprachige Geostrategen mit der Formulierung „between a rock and a hard place“ beschreiben. Der Fels sind die USA, Südkoreas militärische Schutzmacht; der harte Grund ist China, Südkoreas größter Handelspartner. Beide Großmächte versuchen, Südkorea auf ihre Seite zu ziehen. Südkoreas Schicksal hängt daran, genau das zu verhindern und die Balance zwischen beiden Partnern zu finden. Eine dynamische Wirtschaft, die immer globalisierter wird, und eine schwankende Politik, die vom Weltgeschehen mehr beansprucht wird, als ihr lieb sein kann – das ist Südkoreas einzigartiges Spannungsfeld.

Südkoreas Wirtschaftswunder ist vor allem die Erfolgsgeschichte der ­Chaebols, d.h. Großkonzerne wie Samsung, Hyundai und LG. Ihre Strukturen sind die Prototypen asiatischer Erfolgsunternehmen: steile Hierarchien und eine von strenger Disziplin geprägte Unternehmenskultur. Gemeinsam machen die Chaebols 70 Prozent der südkoreanischen Wirtschaftsmacht aus; allein Samsung steht für 8 Prozent der Steuereinnahmen und 13 Prozent der Exporte.

Wie alle koreanischen Großkonzerne ist Samsung ein Produkt der Nachkriegszeit (die in der koreanischen Zeitrechnung mit dem Ende des Korea-Krieges im Jahr 1953 beginnt) und der Boomjahre der asiatischen Tigerstaaten. Die Firmengruppe, die mehr als 80 Unternehmen vereint, beschäftigt weltweit rund 500 000 Mitarbeiter und setzte 2015 mehr als 300 Milliarden Dollar um (rund zwei Drittel davon das Flagschiff Samsung Electronics). Auf dem Index der wertvollsten Marken der Welt, die das Marktforschungsunternehmen Interbrand erstellt, liegt Samsung auf Rang sieben.

Dennoch beschwört Samsung bis heute seine Anfänge als kleiner Familienbetrieb. 1938 eröffnete der damals 28-jährige Gutsherrensohn Lee Byung-chull ein Transportunternehmen und nannte es „Drei Sterne“, auf Koreanisch: Samsung. Nach dem Ende des Korea-Krieges nutzte der Geschäftsmann seine Kontakte und die Gunst der Stunde, um Aufträge für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur an Land zu ziehen. Er gründete eine Zuckerraffinerie und stieg in den Bausektor ein. 1969 begann Lee, Transistorradios zu bauen, später auch Haushaltsgeräte und Unterhaltungselektronik. Die Technologie war häufig abgekupfert, doch das spielte keine große Rolle, denn produziert wurde vorrangig für den lokalen Markt und arme asiatische Nachbarländer. Entscheidend für den Wettbewerb war allein der Preis.

Diese Strategie änderte sich Ende der achtziger Jahre, als nach dem Tod des Gründers dessen Sohn die Konzernführung übernahm und die Weichen Richtung Innovation stellte. Samsung werde das Geld, das es mit seinen Produkten für den Massenmarkt verdiene, in eine bedingungslose Qualitäts­offensive investieren, verkündete er und rief eine Kultur der „permanenten Krise“ aus. Samsung müsse ständig darauf vorbereitet sein, dass die Regeln von heute schon morgen nicht mehr gelten würden. „Verändert alles außer eure Frauen und Kinder“, befahl Lee seinen Managern und ließ als eine seiner ersten Amtshandlungen 150 000 Telefone verbrennen, die seinen Ansprüchen nicht genügten. Samsung sollte von einer Ramschmarke zum Gütesiegel werden.

Mit seiner neuen Innovationsstrategie platzierte Samsung große Wetten auf Zukunftstechnologien, darunter Flash-Speicher, Flüssigkristalldisplays, Prozessoren und Batterien. Typischerweise eigneten sich die Südkoreaner dabei fremde Entwicklungen in einem frühen Stadium an, um sie mit gewaltigem Aufwand schneller zur Marktreife zu bringen als die Konkurrenz. Als erster glücklicher Einsatz erwiesen sich DRAM-Chips, die Mitte der neunziger Jahre den größten Teil zu Samsungs Profiten beisteuerten. Nach der Jahrtausendwende wurde Samsung mit seiner Bildschirmtechnik zum Marktführer bei Flachbildfernsehern, entwickelte sich zum Branchenprimus bei Flash-Speichern und stieg mit einer Batterieoffensive zum größten Hersteller von Stromquellen für Digitalgeräte auf. 2010 stellte Samsung nur wenige Wochen nach Apples iPad-Start einen eigenen Tablet-Rechner vor. Heute ist Samsung bei Smartphones mit weitem Abstand Weltmarktführer – der Marktanteil ist mit 22 Prozent doppelt so hoch wie der von Apple. Ähnlich will Samsung sich in den kommenden Jahren in den Märkten für Solarzellen, LED-Leuchten, medizinische Geräte, Biomedizin und Batterien für Elektrofahrzeuge positionieren. Bis 2020 glaubt das Unternehmen, allein in diesen fünf Zukunftssparten Produkte im Wert von jährlich 50 Milliarden Dollar verkaufen zu können.

Trotzdem ist Samsung keineswegs eine perfekte Erfolgsstory. Sichtbarstes Symbol, dass den Südkoreanern längst nicht alles gelingt, ist die Rückrufaktion des Galaxy Note 7. Weil sich die Akkus überhitzen und die Handys Feuer fangen können, musste das Unternehmen im September 2016 mehr als 1,5 Millionen Geräte zurückrufen. Schlimmer als die Austauschkosten ist dabei der Imageschaden. Kritiker glauben, das Debakel zeige den Chaebols die Grenzen ihrer Wachstumsmöglichkeiten auf: Das Entwicklungstempo könne nicht ständig erhöht und die Kostenschraube immer fester angezogen werden. Weltmarktführerschaft hin oder her: Im Wettbewerb mit Apple punktet Samsung in erster Linie über den Preis und muss damit den Trends folgen, die andere setzen. Die Standards in Sachen Design oder neue Geschäftsmodelle werden nicht daheim gesetzt. Die hierarchischen Führungsstrukturen, so lautet die Kritik, seien schlecht geeignet, um kreative Prozesse zu ermöglichen.

Diese Kritik gilt auch für andere Chaebols – und damit letztlich für die gesamte Wirtschaft des Landes. Die hohe Abhängigkeit von den Großkon­glomeraten zu reduzieren, ist seit Jahren ein Projekt, das Regierung und Opposition gleichermaßen fordern. „Wirtschaftliche Demokratisierung“ lautet das Schlagwort für die Diversifizierung der Wirtschaft, in dem nicht zufällig der Vorwurf mitschwingt, das Land werde de facto von einer Chaebol-Oligarchie regiert. Die mittelständische Industrie spielt in Südkorea kaum eine eigenständige Rolle. Auch eine etablierte Start-up-Kultur gibt es in Südkorea bisher nur in den ehrgeizigen Präsentationen von Wirtschaftsplanern, während Apple im Silicon Valley sich jederzeit einer kreativen Frischzellenkur unterziehen kann. Laut einer Studie des Global Entrepreneurship Monitor haben Südkoreaner deutlich weniger Gelegenheit, sich selbstständig zu machen, als die Bürger in fast allen anderen entwickelten Nationen (mit Ausnahme von Japan). Der Antrieb der koreanischen Wirtschaft sind bis auf Weiteres vorrangig Fleiß und Schweiß: Rund 2200 Stunden arbeiten die Südkoreaner im Jahr, etwa ein Drittel mehr als die Japaner und 50 Prozent mehr als die Deutschen.

Politische Schlangenlinien

Das soll sich ändern, so die Erwartung der Südkoreaner an die Politik. Doch der wirtschaftlichen Dynamik von Samsung und Co. steht politische Orientierungslosigkeit gegenüber. Die amtierende Staatspräsidentin Park Geun-hye ist dabei die letzte in einer Reihe glückloser Vorgänger, die vergeblich versuchen, Südkorea innen- und außenpolitisch neu zu positionieren.

Dabei war Park 2013 mit genau diesem Versprechen angetreten, ganz in der Tradition ihres Vaters Park Chung-hee, dem politischen Wegbereiter von Südkoreas Wirtschaftswunder, wenn auch nicht der südkoreanischen Demokratie. Der Karriereoffizier putschte sich 1961 an die Macht, herrschte mit Notstandsgesetzen und ließ Demokratieaktivisten verfolgen. Seine Tochter besteht bis heute darauf, dass es sich dabei weniger um einen Staatsstreich als um eine „Revolution zur Rettung des Landes“ gehandelt habe. Viele Südkoreaner teilen diese Ansicht, denn unter General Park erlebte Südkorea seine atemberaubende Metamorphose. Park ließ Infrastruktur bauen, förderte die Exportindustrie und unterstützte die Entstehung der Chaebols. Seine Tochter schickte er zum Elektrotechnikstudium nach Frankreich. Als seine Frau 1974 von einem nordkoreanischen Agenten ermordet wurde, übernahm die 22-jährige Geun-hye die Rolle der First Lady – bis Park senior 1979 seinerseits Opfer eines Attentats wurde.

1998 tauchte Park Geun-hye wieder in der Öffentlichkeit auf. Südkorea hatte sich inzwischen demokratisiert, und Präsident Kim Dae-jung startete mit seiner Sonnenscheinpolitik den Versuch, das Verhältnis zu Nordkorea aufzutauen. Als Park schließlich selbst ins Blaue Haus einzog, hatte die Politik weitere Schlangenlinien zurückgelegt. Schuld daran waren vor allem außenpolitische Faktoren, und Park fällt es nicht leichter als ihren Vorgängern, sich in diesem Kräftefeld zu bewegen. Der größte Unsicherheitsfaktor ist dabei Nordkorea, dessen Regime unter Kim Jong-un mehr denn je Drohgebärden zeigt. Zwei Wochen vor Parks Vereidigung zündete Nordkorea seine dritte Atombombe. Die Nukleartests Nummer vier und fünf folgten im Januar und September 2016. Das letzte Überbleibsel der Sonnenscheinpolitik, die gemeinsame Sonderwirtschaftszone Kaesong, ist seit Februar 2016 endgültig geschlossen.

Schwerer als der direkte Bruderzwist wiegen derzeit allerdings dessen Auswirkungen auf Südkoreas Verhältnis zu China und den USA. Im Sommer 2016 gab Park dem Druck aus Washington nach, das US-Raketenabwehrsystem THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) in Südkorea zu stationieren. Der Schutzschild soll den Süden vor möglichen Angriffen aus dem Norden schützen. Die Entscheidung brachte Park jedoch den Zorn Pekings ein. Die chinesische Regierung sieht die THAAD-Stationierung vor allem als Teil der amerikanischen Aufrüstung in der Asien-Pazifik-Region, die die Eindämmung der Volksrepublik zum Ziel habe. Vergeltungsaktionen folgten umgehend: Chinas Staatsmedien nahmen südkoreanische Fernsehserien und Musikgruppen aus dem Programm und trafen die Südkoreaner damit an einem empfindlichen Punkt. Denn die so genannte „Korea-Welle“ (auf Koreanisch: Hallyu) ist nicht nur der große Stolz der Südkoreaner, sondern auch eine riesige Industrie: 2015 verdiente das Land mit seinen Hallyu-Exporten 2,86 Milliarden Dollar, und die mit Stars und Sternchen verbundene Softpower verleiht koreanischen Produkten in Asien ein Image, von dem sie in westlichen Märkten noch weit entfernt sind.

Hoffnungsträger Ban Ki-moon

Neuen politischen Schwung trauen die Südkoreaner ihrer Präsidentin schon lange nicht mehr zu. Parks Zustimmungsraten dümpeln bei etwa 30 Prozent. Die Hoffnungen liegen nun auf der Präsidentschaftswahl 2017 – und vor allem auf einem Kandidaten: dem scheidenden UN-Generalsekretär Ban Ki-moon. Zwar hatte sich Ban beim Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht offiziell zu einer Kandidatur geäußert. Doch in Seoul gilt es als so gut wie sicher, dass er im kommenden Jahr antreten wird. Umfragen zufolge hat er beste Chancen.

Wäre Ban der richtige Mann, wieder wirtschaftspolitische Impulse zu setzen statt lediglich außenpolitisches Krisenmanagement zu betreiben? Für ein Land, das seine größten Erfolge, aber auch seine größten Probleme der Globalisierung verdankt, ist er sicher nicht die schlechteste Wahl. Bans Kritiker mögen einwenden, dass die Aufgabe der UN-Reform für ihn zu groß gewesen sei. Aber die Herausforderung Südkorea hat vielleicht die richtige Größe.

Bernhard Bartsch ist Senior Expert im Programm „Deutschland und Asien“ der Bertelsmann Stiftung. Zuvor lebte er zehn Jahre als Ostasienkorrespondent in Peking.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 3, Oktober 2016 - Februar 2017, S. 6-11

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